Verflechtungswildwuchs

Ein Sammelband des Politikwissenschaftlers Frank Decker analysiert den Zustand und die Zukunft des deutschen Föderalismus

Über die anstehende Föderalismusreform schrieb die Süddeutsche Zeitung kürzlich, was viele denken: „Wenn Deutschland an etwas krankt, dann sicher nicht an zu viel, sondern an zu wenig Zentralismus ... Ihr erster und zentraler (!) Gedanke muss sein: Mehr Bund, weniger Land.“ Die tatsächlich geplante Reform folgt hingegen anderen Leitmotiven: Bund und Länder erhalten mehr ausschließliche Kompetenzbereiche, gleichzeitig sinkt die Anzahl der zustimmungspflichtigen Gesetze. Es geht um Entflechtung und Reföderalisierung, nicht darum, das Machtgleichgewicht zwischen den Systemebenen zu verschieben.

Dieses Vorgehen trifft in einzelnen Politikbereichen verständlicherweise auf Widerstand, etwa in der Umwelt- oder Bildungspolitik. Was spricht denn für einen endgültigen Rückzug des Bundes aus der Bildungs- und Hochschulpolitik? Ist es nicht das föderale Bildungssystem gewesen, das zu den schlechten PISA-Ergebnissen und unserem „pädagogischen Apartheidsystem“ (Die Tageszeitung) geführt hat?

Zu komplex für öffentliche Debatten?

Während die geplante Reform also für einige Bauchschmerzen sorgt, wird in der Öffentlichkeit bislang kaum darüber diskutiert. Das Thema eignet sich eben nur mäßig für die öffentliche Debatte – zu unüberschaubar ist die Interessenlage, zu komplex der Verhandlungsgegenstand der Föderalismusreform.

Der Bonner Politologe Frank Decker hat ein Buch zu diesem Thema herausgegeben, das Licht ins Dunkel bringt. Föderalismus an der Wegscheide? bietet einen guten Überblick über Grundfragen der Föderalismusdebatte: Defizite der institutionellen Struktur Deutschlands, Reformhindernisse, politische Grundpositionen sowie Teilbereiche einer möglichen Föderalismusreform. Das Buch basiert auf den Ergebnissen einer Fachtagung mit Wissenschaftlern und Politikern in Bonn. Es dokumentiert die Vorträge und die Podiumsdiskussion und enthält außerdem weitere fachwissenschaftliche Beiträge.

Grundsätzlich herrscht in Deutschland seit Jahrzehnten Konsens über den Reformbedarf unseres föderalen Systems. Dieses leidet, wie Frank Decker in einem Beitrag darlegt, vor allem an Funktions- und Effizienzdefiziten, an demokratischen Mängeln und an seiner Exekutivlastigkeit. Durch die große Zahl der beteiligten Akteure neigt das föderale System zu Entscheidungsblockaden und Lösungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner; der „Verflechtungswildwuchs“ mit seinen über tausend Bund-Länder-Gremien verwischt die Verantwortlichkeiten; und eine immer stärkere Kooperation zwischen den Exekutiven in Bund und Ländern hat in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt, dass vor allem die Landtage an Einfluss verloren. Mehr als früher wird dieses Regierungssystem von zwei widersprüchlichen Handlungslogiken bestimmt: dem Parteienwettbewerb im parlamentarischen System einerseits und dem Konsenszwang auf der föderalen Ebene andererseits. So diskreditieren sich Parlamentarismus und Föderalismus gegenseitig. Kurzum: Eine Reform ist nötig, um den Bürger wieder mit seinem politischen System zu versöhnen.

Doch ein radikaler Bruch mit der bisherigen Ordnung, wie ihn die Süddeutsche fordert, hatte von Anfang an keine Chance. Der Institutionenforscher Gerhard Lehmbruch erläutert, dass es tief greifende Reformen des deutschen Bundesstaates immer nur in extremen Krisensituationen gegeben hat, etwa in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Weil die föderale Ordnung sich über viele Jahrzehnte zu einem hochgradig verflochtenen Gebilde entwickelte und jeder institutionelle Eingriff an anderen Stellen Rückwirkungen hat, seien „Pfadsprünge“ abwegig und mit den handelnden Akteuren in Bund und Ländern nicht zu machen. Diese seien nun einmal, so führt Hans Herbert von Arnim aus, nur widerwillig bereit, sich selbst zu „entgünstigen“. Von dieser Bestandsaufnahme ausgehend fordern mehrere Autoren des Bandes, bei Vorschlägen zur Föderalismusreform sogleich den Weg zum gewünschten Ziel mitzuliefern: „Wenn man den Föderalismus verändern will, dann muss man zunächst darüber Auskunft geben, wie die Veränderungsanreize für die beteiligten Akteure aussehen sollen“, schreibt Lehmbruch. „Solche Anreize lassen sich nicht durch moralische Appelle an den inneren Schweinehund ersetzen.“

Das Streben nach Autonomie wächst

In der Vergangenheit haben vor allem die institutionellen Eigeninteressen und der damit verbundene mangelnde echte Reformwille dazu geführt, dass bisherige Reformversuche im Sande verliefen. Wie Marcus Höreth in seinem Beitrag zeigt, rückt eine Reform des Föderalismus nun dennoch in greifbare Nähe, weil einige der Reformblockaden aufgebrochen sind, die in der Vergangenheit zwischen den maßgeblichen Akteuren bestanden. Zum einen hätten die Länder ein stärkeres Eigeninteresse entwickelt und machten ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat weniger von parteipolitischer Taktik abhängig, zum anderen wachse sowohl in den ärmeren als auch in den reicheren Ländern der Wunsch nach Selbständigkeit. Deshalb seien beide Volksparteien mehr als früher daran interessiert, die autonome Handlungsfähigkeit des Bundes zu stärken.

Wie die Beiträge von Justizministerin Brigitte Zypries für den Bund und Ministerpräsident Peer Steinbrück für die Länder in Föderalismus an der Wegscheide? zeigen, ist man sich Ende 2003 über die grundsätzliche Richtung des anstehenden Tauschgeschäftes längst einig: mehr legislative Kompetenzen für die Länder gegen weniger Mitentscheidungsrechte des Bundesrates. Differenzen gibt es allein in der Frage, welche Kompetenzbereiche angetastet werden sollen.

Dabei schwingt auch immer die große Gewissensfrage der Föderalismusreform mit: Wie viel Wettbewerb zwischen den Ländern darf es sein? Der Widerstand gegen die Entflechtung ist ebenso wie der Ruf nach mehr Zentralismus immer auch von der weit verbreiteten Angst vor mehr Wettbewerb motiviert. Das Mantra der „einheitlichen Lebensverhältnisse“ hat sich tief in das kollektive Bewusstsein eingegraben und wirkt weiter, obwohl sich die bundesrepublikanische Gesellschaft ökonomisch und kulturell immer stärker auseinander entwickelt. Die Autoren des Buches hingegen tragen einige bedenkenswerte Argumente für den föderalen Wettbewerb und mehr Länderverantwortung zusammen. So kann der Wettlauf um die beste Politik innovative Lösungen hervorbringen, die andere Länder (oder der Bund) dann nachahmen.

Ohne Geld keine Gestaltungsmacht

Mehr Wettbewerb muss also keineswegs zu größeren Unterschieden führen, sondern kann eine gleichgerichtete Entwicklung auf hohem Niveau befördern. Ein gutes Beispiel für diesen Mechanismus ist das Ganztagsschulprogramm: Erprobt hat das Modell zunächst allein Rheinland-Pfalz; der Bund übernahm dann ein Erfolgsprojekt, das ohne den Bildungsföderalismus so nicht entstanden wäre. Das zweite große Argument der Wettbewerbsbefürworter ist demokratietheoretischer Natur: Die Dinge sollen (gemäß dem Subsidiaritätsprinzip) möglichst auf der untersten staatlichen Ebene und damit nahe bei den Bürgern geregelt werden.

Auch wenn es gute Gründe dafür gibt, dass wir selbstbewusstere Föderalisten werden – wenn den Ländern mehr autonome Gestaltungsmacht übertragen wird, dann muss jedes einzelne von ihnen finanziell und logistisch dazu auch in der Lage sein. Eine größer angelegte Entflechtung des Bundesstaates muss deshalb einhergehen mit einer Reform der föderalen Finanzverfassung und einer Länderneugliederung. Letztere fordert Uwe Leonardy in seinem Text vehement: Ohne die Gebietsreform blieben die Potenziale für mehr legislative und fiskalische Autonomie der Länder ungleich verteilt. Diese beiden Baustellen rührt die jetzt geplante Reform freilich nicht an. Auch deshalb handelt es sich bei dem Vorhaben sicher nicht um den großen Wurf.

Was die Bürger wollen, ist lebensnahe Politik

Doch die Lektüre von Föderalismus an der Wegscheide? lindert die Bauchschmerzen, die man angesichts der geplanten Reform haben mag: Der große Staatsumbau in einem einzigen Handstreich ist unrealistisch, eine andere Reformstrategie als die der Entflechtung und Reföderalisierung in der Praxis kaum in die Tat umzusetzen. Und den Zentralisten hält der Band die Vorteile der anstehenden Dezentralisierung vor Augen.

Damit leistet das Buch allerdings auch Totschlagargumenten Vorschub, mit denen die Chefunterhändler der Großen Koalition im anstehenden parlamentarischen Verfahren aufmüpfigen Abgeordneten immer wieder kommen werden: Wer das vorliegende Paket jetzt wieder aufschnürt, so werden sie behaupten, gefährdet den gesamten Kompromiss.

Das Problem bei dieser Logik ist nur: Den Eltern, die in ein anderes Bundesland ziehen und deren Kinder sich aufgrund der föderalen Struktur in einem vollkommen anderen Schulsystem zurechtfinden müssen, sind Politikverflechtungsfallen und Subsidiaritätsprinzipien herzlich egal. Ihre Meinung vom Staat hängt nicht allein davon ab, ob sie Verantwortlichkeiten klar zuordnen können. Sie wollen lebensnahe Politik geboten bekommen. Dieses Spannungsfeld zwischen einzelnen Politikfeldern und den schwierigen Verhandlungen um die gesamte institutionelle Struktur blendet dieses Buch – bewusst – fast vollkommen aus. Jedoch bilden die hier zusammengetragenen Ergebnisse der Institutionenforschung eine wichtige Grundlage für die politische Debatte über den Föderalismus.

Frank Decker (Hrsg.), Föderalismus an der Wegscheide? Optionen und Perspektiven einer Reform der bundesstaatlichen Ordnung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, 223 Seiten, 29,90 Euro

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