Vereinsleben in der Frank-Zappa-Straße

Wie in einem ollen Plattenbau in Berlin-Marzahn Technologie, Talente und Toleranz kohabitieren

Fährt man mit der Straßenbahn Nummer 6 nach Berlin-Mahrzahn, kann man schnell den Eindruck bekommen, hier gehe es mit der Kreativität zu Ende. Ab der Station Landsberger Allee ziehen sich kilometerlang gleichförmige Plattenbauten die Straße entlang, nur die Pastellfarben an ihren Fassaden variieren. Doch die Wirklichkeit sieht oft anders aus, als man denkt. Zwischen der sechsspurigen Landsberger Allee, Bahngleisen und einem Industriegelände befindet sich eine Fabrik, die von den Leuten, die dort „produzieren“, als Paradies bezeichnet wird.

 

Hinter Aldi, Plus und Getränke Hoffmann biegen wir in die Frank-Zappa-Straße ein. Sie ist seit Juli 2007 nach dem amerikanischen Musiker benannt, als erste weltweit. Wir stehen vor einem Plattenbau – sechs Etagen, eine unsanierte Fassade, der Charme vergangener Zeiten. „Musikfabrik“ steht in pink leuchtenden Buchstaben über dem Eingang.

 

Es handelt sich um das ehemalige „ORWOhaus“. Früher wurden hier die in der DDR so begehrten Kleinbildfilme des Kombinats ORWO (Original Wolfen) produziert. Heute befindet sich hier der größte Probetempel Europas mit 180 Bands und 700 Musikern in 80 Proberäumen unter einem Dach. In Berlin-Marzahn wird Kreativität im Akkord produziert.

 

Wir gehen zunächst in den hauseigenen Musikertreff, eine Mischung aus Musikkneipe, Backstageraum und Jugendclub: Bar, Kicker, Sitzecke, eine kleine Bühne mit Drums und PA, Fernseher an der Wand, nette Beleuchtung, aufwendige Wandbemalung. Hier fehlt es schon einmal nicht an Kreativität, ebenso wenig an betriebswirtschaftlichem Know-how. „Investiert wird das, was verdient wird“, sagt Thomas, der Initiator des Treffs. „Allzu teuer können wir aber auch nicht werden, sonst bringen sich die Bands ihr Bier komplett selber mit.“ Die 1,50 Euro für ein Bier bezahlen wir gern.

 

Wir treffen Micha, angehender Bassist der Band „Coffein“, vorher hat Micha bei einer anderen ORWO-Band gespielt. Für ihn ist die Musikfabrik ideal: „Ich kann hier 24 Stunden am Tag Krach machen – ohne Nachbarn.“ Seine 15 Euro Mietanteil pro Monat finanziert er durch gelegentlichen Gitarrenunterricht. Später sollen die Auftritte der Band den Raum finanzieren.

Kreativität heißt: einen Verein zu gründen

Steve, ehemaliges Mitglied der Band „Virus“, Gründungsmitglied des heutigen Trägervereins und seit 1999 in der Musikfabrik, erzählt uns die Geschichte des Kreativtempels: Im Jahr 2004 probten hier bereits 20 Bands. Dann sollte das Haus durch die Treuhand-Liegenschafts-Gesellschaft verkauft werden. „Brandschutzbestimmungen waren das große Thema.“ Die Schließung drohte. „Wir gründeten den Verein ORWO-Haus e.V. und mussten für mediale Aufmerksamkeit sorgen“, sagt Steve.

 

René ist der Pressesprecher des Vereins. In der Pause seiner Vorstandssitzung erklärt er die Aktion: „Man sperrte die Landsberger Allee in beiden Richtungen, stellte eine Anlage aufs Dach und spielte den ‚Rauch-Haus-Song‘ von Ton Steine Scherben. Der Rückstau ging von Prenzlauer Berg bis Hellersdorf – 70.000 Autos standen, über 13 Kilometer lang.“ Darüber berichteten dann die Medien.

 

Doch die Zeiten ändern sich. Kreativität heißt heute nicht mehr, ein Haus zu besetzen, sondern einen Verein zu gründen und das Haus zu kaufen. Ein bisschen hilft die Lottogesellschaft beim Ausbau, im Übrigen gibt es viele Kleinbürgschaften der Vereinsmitglieder, eine Reihe von Sozialstunden, viel ehrenamtliches Engagement – und natürlich die Mieten, die die Bands zahlen. Außerdem unterstützt der öffentlich-rechtliche Jugendsender Fritz das Projekt. Wir sind uns einig: Die Leute aus der Musikfabrik sind nicht nur künstlerisch, sondern auch wirtschaftlich kreativ.

 

Doch der Verein will noch viel mehr: eine Partylocation auf dem Dach, eine Konzerthalle im Erdgeschoss, eine Produktionsstätte, Merchandise- Produktion – letztlich „ein Ton-Reich“. „Um für Kooperationspartner attraktiv zu werden, müssen wir das passende Produkt anbieten“, sagt René.

 

Wir treffen Jakob, Gitarrist der Band „dropped“. Sein Traum ist, von der Musik zu leben. Bereits die dritte CD hat seine Band produziert. „Sie verkauft sich gut, im Eigenvertrieb sind wir schon 120 Stück in drei Wochen losgeworden.“ Vor Kurzem spielten „dropped“ in Moskau, demnächst geht es nach St. Petersburg. „In Russland werden Konzerte wesentlich besser bezahlt als in Deutschland“, berichtet Jakob. „Wir haben bei einem Konzert 500 Euro auf die Kralle bekommen, obwohl nur 20 Leute anwesend waren.“ Das habe allerdings daran gelegen, dass in Moskau nach halb eins keine Busse mehr fahren und die Leute vorzeitig gehen mussten.

Die Sängerin geht noch zur Schule

„dropped“ gehört zu den etablierteren Bands im Haus. Jakob führt uns in den rund 20 Quadratmeter großen Proberaum in der 3. Etage, den sie sich mit „Vantengel“ teilen. „Vantengel“ proben gerade. Jakob greift ihnen unter die Arme: „Nun sagt halt mal was. Schließlich kann es nicht schaden, euren Namen in der Presse zu lesen.“ Die Sängerin geht noch zur Schule und kann daher heute Nacht nicht mitproben. „Klar können wir uns vorstellen, von unserer Musik zu leben. Das ist aber noch ein weiter Weg, wir hatten ja erst zwei bis drei Auftritte“, sagt Gitarrist Philip, der tagsüber Zivi ist.

 

Auf dem Rückweg lauschen wir noch an einigen Türen. Viele Genres sind dabei: Rock, Jazz, Hip Hop. Spricht man die Bandmitglieder darauf an, haben die Musikrichtungen natürlich noch viel kompliziertere Namen. Auf dem Gang öffnet sich eine Tür. Heraus kommen Felix und ein paar Freunde. Felix war früher auch Musiker. Jetzt will er Toningenieur werden und zum Radio. Er ist Dienstleister hier im ORWOhaus. In seinem Raum hat er ein kleines Studio mit etlichen Monitoren, viel Technik und einem schallreduzierten Aufnahmeraum. „Studios gibt es hier fast auf jeder Etage“, sagt Felix. Es müssten ja zum Beispiel Demobänder produziert werden. Rund 25 Bands hat er in den vergangenen sieben Jahren betreut. „Wenn es einem wirtschaftlich gut geht, ist man auch kreativer.“

Jeanette Biedermanns Brandschutztür

Eigentlich sind im ORWOhaus alle Musiker oder ehemalige Musiker. Auch Jeanette Biedermann und „Silbermond“ proben hier. Die Brandschutztüren soll Jeanette Biedermann persönlich gestiftet haben. Brandschutz ist hier ein großes Thema, wie gesagt.

 

Die Tram 6 hat ihren Betrieb bereits eingestellt. Es ist spät. Ein paar Musiker haben sich in der Kneipe versammelt und schauen den neuesten Helge Schneider-Film. Vereinzelt hört man noch ein paar Trommeln. Reden will jetzt keiner mehr. Wir verlassen diesen bunten Fleck inmitten der Einöde Berlins in der Gewissheit, dass der kreative Nachwuchs sehr wohl weiß, wie schnell aus einem Hobby eine Berufung oder gar ein Beruf werden kann. Und auch Frank Zappa könnte, lebte er noch, zufrieden sein. Wohl kaum jemand passt zum Treiben im ORWO-haus so gut wie dieser Sänger, Schlagzeuger, E-Bass-Spieler, Keyboarder, Komponist, Musikproduzent und Filmregisseur.

 

orwohaus – Musikfabrik – Frank-Zappa-Str. 19-20, 12681 Berlin-Mahrzahn – www.orwohaus.de

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