Vanity Fair - oder der Verfall der Leistungsidee

In der Krise bedrängt manche Reiche plötzlich ihr Gewissen: Sie wollen "etwas zurückgeben". Bloß wem? Wer meint, Vermögen entstünden durch die kluge Wahrnehmung von Chancen, der muss allen Staatsbürgern solche Chancen eröffnen. Und dies kann nur der Staat gewährleisten

Die öffentlich entbrannte Debatte um „die Steuerhinterzieher“ könnte wieder einmal zum bloßen Medienereignis werden: Ein gesellschaftliches Problem wird an einer prominenten Person abgearbeitet, mit all den bekannten Mechanismen der persönlichen Destruktion. Zugleich mutieren Talkrunden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu Rechtsberatungen für Steuersünder. Besser wäre es, wir würden Steuerhinterziehung als ein gesellschaftliches Problem interpretieren – und als eine Folge früherer politischer Entwicklungen. Allerdings ist die medial vermittelte Konkurrenzdemokratie vergesslich. Nahezu ununterbrochene Wahlkämpfe, meist auf kurzfristige Ziele hin ausgerichtet, blenden nicht nur die künftigen Wirkungen politischer Entscheidungen aus, sondern auch die Nachwirkungen vergangener Weichenstellungen.

Dies trifft besonders auf „Leitideen“ zu, wenn sie den Bürgern über Jahre hinweg von mächtigen Kommunikatoren eingebläut wurden. „Leistung muss sich wieder lohnen“ ist eine solche Idee. Sie ist verschwistert mit der Idee des „verschwenderischen Staates“. Private, „ehrliche“ Leistung erscheint ausgebeutet von einer „politische Klasse“, die wenig leistet, aber den Bürgern viel wegnimmt. Ihr angebliches Herrschaftsinstrument ist „die Bürokratie“. Vor mehr als 30 Jahren kamen solche Slogans in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien in Umlauf. Und Ronald Reagan und Margaret Thatcher gelangten an die Macht.

Politisch liberal im Sinne des 19. Jahrhunderts ist diese Ideologie jedoch nicht, sondern eher eine vulgarisierte Version der Schriften von Friedrich August von Hayek oder Milton Friedman. Beide Ökonomen waren der Ansicht, der Liberalismus habe sich ab dem späten 19. Jahrhundert zu sehr den Ideen von Gleichheit und Sozialstaat genähert. Diese Kritik hatte mit dem mitteleuropäischen Neoliberalismus der Nachkriegszeit aber nur die Hälfte gemein. Walter Eucken, der vielen als Urheber der sozialen Marktwirtschaft gilt, hatte vorgedacht, was in den späten sechziger Jahren vor allem Alfred Müller-Armack ausarbeitete. Eucken wusste mit Rückblick auf die zwanziger und dreißiger Jahre, dass die Marktwirtschaft eine staatlich garantierte Wettbewerbsordnung braucht und der Staat angehalten ist, Marktverzerrungen zu korrigieren. Müller-Armack sprach von der unbestrittenen Verantwortung des Staates für die Funktionsfähigkeit der Marktordnung und den sozialen Fortschritt. Zum Thema Staatsfinanzierung bemerkte er, der Staat müsse sich mittels Steuern und Anleihen einen möglichst hohen Anteil am Sozialprodukt sichern. Denn die Bewältigung von Gemeinschaftsaufgaben, etwa der Ausbau der Infrastruktur und die Umweltgestaltung, gehörten zu den vordringlichen Obliegenheiten des Staates. Im Zuge des „Washington Consensus“ der achtziger Jahre wurde dieser Zusammenhang zerrissen und eine „neue Marktwirtschaft“ propagiert, in die sich der Staat möglichst wenig einmischen sollte.

Fortan waren die Leitideen ein freier Markt, internationaler Freihandel und Deregulierung. Die Vertreter der Deregulierungsidee versprachen, dass die Märkte sich am effizientesten und effektivsten selbst regulieren. Diese Ideologie fand auch unter den Wählern vieler westlicher Länder rasant Anhänger. Ihr Versprechen war verführerisch: Der Eigennutz der Fleißigen und Produktiven führe am Ende zur Mehrung des Gesamtwohles. Würde der Staat sich mit Umverteilungspolitik aus dem Steuertopf zurückhalten, also die Steuern für die „Reichen“ senken, entstünden über deren unternehmerische Aktivitäten sowohl Investitionen in Arbeitsplätze und dadurch steigende private Einkommen, als auch ein höheres Steueraufkommen.

Privater Reichtum und öffentliche Armut revisited

Daraus wurde aber mittel- und langfristig nichts. Wie Wolfgang Streeck jüngst in einem Aufsatz zur Krise der Staatsfinanzen gezeigt hat, bildete sich das alte Dilemma von privatem Reichtum und öffentlicher Armut wieder aus. Der private Reichtum nützte in erheblichem Maße weder produktiven Investitionen, noch stand er für die Besteuerung bereit. Zum einen flossen Gewinne immer stärker in die Finanzwirtschaft und von dort weiter in die Spekulation; das Geld floh permanent vor dem Fiskus und löste sich von realwirtschaftlichen Zusammenhängen. Was entstand, ist bei Karl Marx nachzulesen: fiktives Kapital. Dieses saugte überschüssiges Geld an, aber für welche „Investitionen“? Eine Blase folgte der nächsten – von der Dotcom-Blase über die Immobilienblasen bis zur Subprime-Krise.

Zum anderen folgten Regierungen der neuen Ideologie und „verzichteten“ auf mögliche direkte Steuern – nicht ohne die indirekten, den kleinen Mann treffenden, Verbrauchssteuern und die Sozialabgaben schrittweise zu erhöhen. Der privaten Steuervermeidung (bis hin zum Betrug) ging also die freiwillige Zurückhaltung des Staates voraus. Nur verkannten die von der Idee überzeugten Politiker, dass ihr Versprechen nicht einzuhalten war: Um notwendige Staatsaufgaben und neuerdings Rettungspakete für marode Banken zu finanzieren, mussten sie Schulden aufnehmen. Die potenten Steuerzahler gaben den Staaten keine Steuern, sondern Kredite, deren Zinsen nicht mittels demokratischer Entscheidungen, sondern kraft Marktgesetzen aus den Staatshaushalten zurückflossen. Auch diese Entwicklung unterhöhlte die Steuermoral ganz wesentlich.

Der Übergang zur direkten Besteuerung des persönlichen Einkommens war historisch eine bürgerlich-liberale Leistung, um der feudalen Staatsverschuldung ein Ende zu bereiten. Noch bis ins späte 19. Jahrhundert hinein versuchten der Adel und Teile des grundbesitzenden Bürgertums, ihre Privilegien der Steuerbefreiung oder niedrigen Realsteuern zu bewahren. Staatseinnahmen wurden in starkem Maße durch Verkehrs- und Verbrauchssteuern sowie über Kredite erzielt. In der amerikanischen Verfassung wurde dann das Recht des Staates festgeschrieben, Steuern zu erheben. Die Besteuerung der an neuen Märkten erzielten Einkommen ist eine republikanische Errungenschaft: Sie war eine Erfindung der französischen Revolution und hat sich auch in Deutschland schrittweise durchgesetzt.

Umstritten war (und ist) besonders das Progressionsprinzip. Dieses Prinzip wurde 1798 erstmals in England eingeführt und ist Ausdruck der Leistungs- und Belastungsgerechtigkeit, nach der die „stärkeren Schultern“ mehr Lasten für das Gemeinwohl tragen könnten und sollten als die „schwachen“. Es entstammte dem Bewusstsein des Bürgertums, für das Gemeinwohl verantwortlich zu sein. Die Ausweitung der Progression erfolgte nach dem Ersten Weltkrieg. Bis vor kurzem galt die Idee des Zusammenhangs von Leistungs- und Belastungsgerechtigkeit in Europa allgemein als legitim. In Großbritannien wurde sie durch William Beveridge auch im Sozialstaat institutionell verankert, vor allem in seiner Konzeption einer durch Steuergelder finanzierten Gesundheitsversorgung. Selbst Thatcher konnte daran nicht rütteln. Dafür rüttelte sie aber an anderen Ideen, zum Beispiel an der sozialen und infrastrukturellen Verantwortung des Staates, die in Deutschland besonders stark ausgeprägt war. Die britische Privatisierungswelle in den achtziger und neunziger Jahren wurde international zum Vorbild, wenngleich sie in vielen Bereichen des öffentlichen Interesses zu einem Desaster führte, so beim öffentlichen Verkehr, der Wasserwirtschaft, der kommunalen sozialen Infrastruktur oder der Rentenversicherung.

Begründet wurde die Privatisierungswelle mit dem Argument, der Staat sei verschwenderisch und ineffizient. Bürokraten seien keine Unternehmer, sondern unfähig, Marktsignale zu erkennen und sich den Anforderungen an Innovation und Kundenpräferenzen anzupassen. Sie würden zu rentseekers, die sich ein leistungsunabhängiges Einkommen sichern könnten, weil sie im Besitz eines Monopols auf ein knappes Gut seien: politische Macht. Aus Eigeninteresse trieben die Bürokraten die Staatsausgaben in die Höhe. Was immer an Teilwahrheiten in dieser Kritik steckt, sie unterschlägt summarisch die schon von Max Weber erkannte Leistung der legalen Herrschaft für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Diese Leistung zu bewerten und zu reformieren ist eine gute Idee der neuen Managementbewegung. Aber die pauschale Staatskritik fegte die Wertschätzung öffentlicher Aufgaben zugunsten von Deregulierung absichtsvoll hinweg. Die marktordnenden Funktionen sollten fortan die privaten Wirtschaftsakteure selbst in die Hand nehmen. Aber dass sich die konkurrierenden und bewusst eigennützigen Marktteilnehmer freiwillig auf Beschränkungen ihres Profitstrebens im Sinne des Gemeinwohls einigen könnten, unterstellt dem Homo Oeconomicus ein viel zu hohes ethisches Potenzial. In früheren Jahrhunderten war dies allenfalls unter der selbstverständlichen Voraussetzung religiöser Fundierung denkbar. Hayek hingegen kommt ohne eine solche Fundierung aus. Bei ihm ergibt sie sich aus der verantwortungsvollen Freiheit.

Die Pervertierung eines bürgerlichen Begriffs

Besonders die deregulierten Finanzmärkte sprengten die ethischen „Fesseln“. Denn im Hintergrund wirkten neue Marktregeln des fiktiven Kapitals und führten zu einem Verständnis von „Leistung“, das den klassischen bürgerlichen Begriff pervertierte und damit auch seinen Konnex mit dem Gemeinwohlgedanken und der staatsbürgerlichen Solidarität löste. Viele Leistungen der neuen Marktwirtschaft werden in der „Financial Services Industry“ erbracht und erhalten den Charakter von Erträgen aus Hochrisikospielen. In und nach der Ära Thatcher breitete sich dieser Wirtschaftssektor von der Londoner City in die ganze Welt aus. Noch vor einigen Jahren wurde Deutschland in der britischen Publizistik ökonomisch abgeschrieben, weil es auf eine „alte Industrie“ setze. Im Vereinigten Königreich hingegen nähmen die Finanzdienstleistungen einen immer größeren Teil des Bruttosozialproduktes ein – dies sei die Zukunft. Zwar hat dieser Ansatz mittlerweile deutlich an Attraktivität eingebüßt. Dennoch hat die entstandene neue Leistungsideologie noch Bestand, vor allem in ihren „Derivaten“ in anderen Sektoren. Indem die Einkommen der britischen und amerikanischen Broker und Banker auch anderswo zum Maßstab wurden, wandelte sich allmählich der Leistungsgedanke: Bilder drängten sich auf vom Spielerglück, vom Bluff sowie von den Profiteuren des „Kasino-Kapitalismus“. Warum sollte man sein Glück mit Fremden teilen?

Eine „leistungslose Eigentümerklasse“ (Sighard Neckel) schien am Werk. Nach der Grundlage für Renditen und Vermögen wurde nicht mehr gefragt. Übrigens auch nicht bei den Tycoons, die ihre Waren auf dem freien Weltmarkt von unterernährten und minimal bezahlten Arbeitskräften produzieren lassen, sich mit billigen Rohstoffen versorgen, die sie dann überteuert verkaufen oder die ihre PCs und Smartphones in China durch staatskapitalistisch kujonierte Arbeiter produzieren lassen. Überall entwertet der freie Weltmarkt die „ehrliche“ Arbeit. Und da vor allem der reiche Mensch gerne vergleicht und nachahmt, schlich sich die Spielermentalität in andere Sektoren ein und zog Teile der upper middle class mit sich. Der rasante Anstieg von Managergehältern, Handelsgewinnen, Einkommen von Gesundheitsfunktionären oder Filmstars beruhte letztlich nicht auf freien Marktprozessen. Die Konsumenten konnten den Preis der Produkte nicht mehr nach überprüfbaren Qualitätsmerkmalen mitbestimmen. Sondern auf einem Jahrmarkt der Eitelkeiten wurden von den Produzenten Fiktionen definiert und nach dem „Gefällt-mir-Prinzip“ auktioniert.

Der Staat kann für Bildung und Infrastruktur sorgen

Mit der Finanzkrise regte sich dann doch das Gewissen. Im Rahmen der neuen, auch in Deutschland rezipierten amerikanische Philanthropie möchten die großen Vermögensbesitzer nun mittels Stiftungen und freiwilligen Spenden „etwas von ihrem Glück zurückgeben“ und den geschwächten Sozialstaat durch private soziale Tätigkeit ergänzen oder gar ersetzen. Dies treibt die Privatisierung auf die Spitze. Nun wollen die Reichen selbst bestimmen, welche anderen Staatsbürger sie des Empfangs sozialer Leistungen für würdig erachten. Wie Gutsbesitzer teilen sie die Bevölkerung in Fürsorgeberechtigte und Außenstehende ein – und steigern zugleich eigennützig ihre öffentliche Wertschätzung. Anstatt diesen quasi-royalen Habitus zu bewundern, sollte den Bürgern doch der demokratisch verantwortliche Staat lieber sein. Die Verteilung von Steuereinnahmen durch berechtigte Volksvertreter können sie über Wahlen immerhin beeinflussen und kontrollieren. Infrastruktur und allgemeine Bildung werden auch weiterhin vom Staat gewährleistet werden müssen. Wer meint, sein Vermögen sei durch die kluge Wahrnehmung von Chancen entstanden, muss allen Staatsbürgern solche Chancen eröffnen. Und dies kann nur der Staat in seinen sozialen Funktionen gewährleisten. Die Vertreter der sozialen Marktwirtschaft hatten wenigstens das begriffen.

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