Unsere besseren Engel

Steven Pinker zeigt, warum es noch nie so gewaltarm zuging wie gerade jetzt

Eskalierte die Gewalt im Laufe der Ge­schichte? Nein, meint der kanadische Psychologe Steven Pinker. Und er hat natürlich recht damit. Aber wirklich neu, wie das der deutsche Titel seines Buches und begeisterte Besprechungen in den Feuilletons suggerieren, ist diese Er­kennt­nis nicht. Historiker, Anthropo­logen und Politikwissenschaftler haben in den vergangenen Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass die Gewalt­schwelle in den Kriegen des 20. Jahr­hun­derts, verglichen mit anderen Kriegen in der Ge­schichte der Menschheit, eher gestiegen ist. Doch der Rückgang der Gewalt ist kein kontinuierlicher, linearer Prozess, wie Pinker andeutet, sondern dieser wurde immer wieder von tiefen Einschnitten der Gewalteskalation unterbrochen.

Aber der Reihe nach: Der Anstoß für Pinkers Studie war eine Petitesse, nämlich ein Diagramm aus dem Jahr 1981, wonach die Anzahl der Morde in verschiedenen Regionen Englands vom 13. bis zum 20. Jahrhundert um das Zehn- bis Hun­dert­fache zurückgegangen waren. Daraufhin initiierte der Harvard-Pro­fes­sor eine Um­frage und kam zu einem gänz­lich anderen Resultat: Die große Mehrzahl der Befrag­ten war überzeugt, in England sei die Gefahr für Leib und Leben noch nie so groß gewesen wie heute. Der objektive Rückgang der Mord­quote um immerhin 95 Prozent seit dem 14. Jahrhundert hatte offenkundig keine Auswirkung auf die Wahrnehmung der Menschen. 

Pointiert ist damit das Fazit von Pin­kers 1.200 Seiten starker Gewalt­ge­schichte der Menschheit bereits vorweggenommen. Ihm zufolge sind es in erster Linie unsere kognitiven Eigenheiten, die uns, angeheizt von einer Medienberichterstattung nach dem Motto „Blut bringt Auflage“, anfällig machen für den Irrglauben, wir lebten in einer besonders gewalttätigen Welt. In Wahrheit habe die Gewalt mit der Zeit immer weiter abgenommen; so friedlich wie heute sei unsere Welt noch nie gewesen.

Unter Dschingis Khan ging es härter zu

Um diese These zu belegen, unternimmt der Autor einen Schnelldurchlauf durch die Weltgeschichte. Das Ergebnis: Selbst dem Zweiten Weltkrieg mit seinen rund 55 Millionen Toten kommt laut Pinker in der Weltgeschichte keine Sonderstel­lung zu. Im Gegenteil, gemessen an den Be­völ­kerungszahlen hätten die beiden Welt­krie­ge des 20. Jahrhunderts rund zwei Milliarden Tote hervorbringen müssen, um auch nur ansatzweise an die Gewalt­intensität früherer Zeiten heranzukommen, etwa an die Eroberungs­züge eines Dschingis Khan. Dass bei einem solchen Ansatz der Holocaust mit seinen „lediglich“ sechs Millionen Toten statistisch praktisch nicht mehr ins Ge­wicht fällt, versteht sich von selbst.

Am Ende seines Werkes kommt der Psychologe Pinker auf das Wesen des Men­schen zu sprechen. Er unternimmt den Versuch, die beiden Analyseebenen – die historische und die psychologische Di­men­sion – miteinander zu verknüpfen.

Was also hat die Menschen im Verlauf der Geschichte sukzessive davon abgehalten, sich anarchisch zu bekriegen und gegenseitig nach Belieben abzuschlachten wie noch vor 5.000 Jahren zur Zeit der Jäger, Sammler und Gärtner? Pinker nennt es, mit einer Verbeugung vor Nor­bert Elias („dem wichtigsten Den­ker“), den „Prozess der Zivilisation“. Dieser habe nicht nur zu immer weniger Kriegstoten geführt, sondern auch zur immer größeren gesellschaftlichen Ächtung anderer Formen der Gewalt, etwa gegen Frauen, Kinder und auch Tiere – zumindest in der westlichen Hemisphä­re.

Auf das Gewaltmonopol kommt es an

Als Voraussetzung nennt Steven Pinker eine Reihe struktureller Faktoren, unter denen der funktionierende Staat, der über das Gewaltmonopol verfügt und dieses auch durchsetzt, an erster Stelle steht. Essenziell ist für ihn zudem die friedliche wirtschaftliche Zusammen­arbeit; sie befördere den Wohlstand der Menschen und Staaten und ermögliche nicht nur den Austausch von Waren, sondern auch von Gedanken. Der Handel ist in Pinkers Augen ein Paradebeispiel für den Prozess gesellschaftlicher Selbstzi­vili­sierung: Er stärke die Vernunft („unter Handelspartnern sind Menschen im lebenden Zustand wertvoller, als wenn sie tot sind“) und führe, wenngleich bisweilen auf Umwegen, zu einem „Welt­bür­gertum“. Dieses trage dazu bei, dass Menschen sich zunehmend in andere Menschen und Kulturen hineinversetzen können. Pinker nennt das die Fähig­keit zu „Empathie“ und „Sympa­thie“.

Kurzum, der Schlüssel zur Erklärung der Gewaltreduzierung in der Geschichte liegt für Pinker bei den umweltbedingten Veränderungen, sprich dem Wandel der historischen Rahmenbedingungen, die das immergleiche Wesen der Menschen in unterschiedlicher Weise beeinflussen.

Pinker beschreibt die Einhegung des Menschen in ein Regelwerk aus bindenden staatlichen und gesellschaftlichen Sanktionen – Gesetze, Werte, Normen und Moral –, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet und zur Abnahme der Ge­walt geführt haben. Kritiker wenden ein, er verharmlose mit seiner empirischen Herangehensweise die Verbrechen des 20. Jahr­hunderts. Diese Kritik ist nachvollziehbar, aber nicht überzeugend.

Ruhmreich war, wer viele Feinde tötete

Lange schon ist man in der vergleichenden Geschichtswissenschaft dazu übergegangen, die Verbrechen des National­so­zialismus in Beziehung zu setzen zu den Untaten anderer totalitärer Regime wie der Sowjetunion unter Stalin. Das ist legitim und hat sich wissenschaftlich bewährt. Davon abgesehen ist Pinkers grundsätzlicher Befund zutreffend: Misst man die Kriegsgewalt anhand der Be­völkerungsanteile, die in den Krieg zogen und getötet wurden, ist die Gewalt im langfristigen historischen Verlauf tatsächlich nicht angestiegen. Im antiken Rom, um nur ein Beispiel zu nennen, war zwar der Kriegsauftakt geregelt, nicht aber der Krieg selbst. Dieser verlief schran­kenlos. Der Ruhm des Feldherrn hing von der Zahl der getöteten Feinde ab.

Wie es weitergeht, ist nicht gewiss

Löst man hingegen den Blick von den ganz langen Entwicklungslinien und konzentriert sich auf kürzere Phasen in der Geschichte, wird deutlich, dass Pinkers optimistisches Fortschritts­mo­dell bisweilen an Grenzen stößt. Ein Beispiel: Das „lange 19.Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm) war eine Zeit der begrenzten Gewalt –  begrenzt sowohl was die Zahl der Kriege als auch der Kriegstoten anbelangt. Der Grund dafür war, dass die Staaten nach den verheerenden Gewalt­er­fahrungen der vorangegangenen Jahr­hun­derte, vor allem des Dreißigjährigen Krieges, nach neuen Regeln für den bewaffneten Kon­flikt suchten. Krie­ge sollten fortan zwischen Armeen ausgetragen werden, ohne die Zivil­be­­völkerungen in Mitlei­den­schaft zu ziehen.

Der Plan ging auf: In den europä­ischen Kriegen des 19. Jahrhunderts kon­nte das Ideal des Kabinettskrieges weitgehend verwirklicht werden. Erst im 20. Jahr­hundert kehrte mit dem Ersten Weltkrieg die Praxis des Vernichtungs­krieges nach Europa zurück. Im Zweiten Weltkrieg gehörte die systematische Tö­tung von Zivilisten erneut zum Alltag aller Kriegs­mächte. Für die Staaten bedeutete dies eine Rückbesinnung auf die Anfänge der Kriegsgewalt. Mit rein quantitativen Me­thoden lässt sich diese neue Haltung freilich nicht belegen.

Derzeit sterben jährlich rund 400.000 Men­schen an den Folgen von Gewalt. Dabei weist Nordeuropa mit weniger als drei von 100.000 Menschen die weltweit niedrigste Todesrate durch Gewaltein­wirkung auf. Das war gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon einmal so. Man kann also hoffen – und vor allem: daran arbeiten! –, dass es auch in Zukunft so sein wird. Eine Gewähr dafür lässt sich aus der Geschichte jedoch nicht ableiten. «   

Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2011, 1.212 Seiten, 26 Euro

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