Ungleichheit und Gerechtigkeit in Zeiten progressiver Regierungen

Im letzten Jahrzehnt haben sich die Gesellschaften Südamerikas vom neoliberalen Modell verabschiedet und unterschiedliche Pfade sozial orientierter Politik eingeschlagen. Im Lichte von Marktversagen und Austerität in Europa lohnt deshalb der Blick nach Südwesten: Passiert da drüben aufregend Neues?

Noch immer sind Armut und soziale Segregation in Lateinamerika raue Realität. Trotz des guten Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre und relativ stabiler demokratischer Verhältnisse bleibt der Abbau der Ungleichheit eines der dringlichsten politischen Themen. Gerade die an Rohstoffen und Primärgütern reichen Länder Südamerikas müssen die enormen Gewinne gerechter verteilen und ihre Wirtschafts- und Entwicklungsmodelle überdenken, um nachhaltig Wachstum und Wohlstand zu sichern. Mit dem „Linksruck“ kehrte Südamerika nicht nur der neoliberalen Wirtschaftspolitik den Rücken, auch erhielt die Sozialpolitik einen neuen Stellenwert: Während in vielen europäischen Ländern Sozialleistungen gekürzt werden, baut Südamerika seine Sozialprogramme aus. Diese Entwicklung ist auch deshalb bemerkenswert, da bei allen strukturellen Unterschieden zwischen beiden Kontinenten ähnliche soziale Werte existieren. Angesichts der gegenwärtigen Kritik am existierenden Wirtschaftsmodell der Industrieländer lohnt ein Blick auf die westliche Seite der viel zitierten Wertegemeinschaft zwischen Europa und Lateinamerika.

Seit Beginn des Jahrtausends hat Lateinamerika einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, der von der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise nur kurz unterbrochen wurde. Nach den verlorenen Jahrzehnten der achtziger und neunziger Jahre befinden sich vor allem die Länder des Südzipfels, dem „Cono Sur“, in einer Boomphase. Der Aufschwung hat wesentlich zur politischen Stabilität in der Region beigetragen. Heute sind dort mit Ausnahme Kubas alle Länder demokratisch verfasst; schwere innenpolitische Krisen sind selten geworden. Der Mehrheit der 570 Millionen Lateinamerikaner hat das erste Jahrzehnt deutliche Wohlstandsgewinne beschert, besonders in den großen Ländern ist die Armut zurückgegangen, während die Mittelschichten wuchsen. Dies trifft allerdings nicht für alle Länder gleichermaßen zu: Die Kluft zwischen den wirtschaftlichen Aufsteigern (dazu zählen fast alle Länder Südamerikas) und den Verliererstaaten in Zentralamerika und der Karibik hat sich vergrößert. Brasilien wiederum spielt in einer eigenen Liga. Das Land ist zur regionalen Supermacht aufgestiegen und besitzt wachsenden internationalen Einfluss. Abzuwarten bleibt, ob das Wirtschaftswachstum auch für nachhaltige Entwicklung sorgt. Schließlich blickt die Region auf eine lange Tradition von boom and bust zurück: Auf stark exportgetriebene Wachstumsphasen folgten häufig schwere Krisen, weil Strukturreformen ausblieben, welche die Wertschöpfung erhöhen und den Binnenmarkt vorantreiben. Im Abschwung kam es stets zu Handels- und Leistungsbilanzdefiziten – und schließlich zu Haushaltskrisen und neuer Armut.

Beispiel Argentinien: Im 20. Jahrhundert lernte das Land, mit sozialen Krisen umzugehen. Den letzten Wirtschaftseinbruch gab es in den Jahren 2001 und 2002. Infolgedessen kam es zur Staatspleite; Bankkonten wurden eingefroren und rund 20 Prozent der argentinischen Mittelschicht rutschten in die Armut ab. Ein Jahr nach der Pleite lebte etwa die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Doch schon kurz danach schaffte eine sich vom Druck der internationalen Finanzinstitutionen lösende Wirtschafts- und Finanzpolitik neue Spielräume. Mit der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit entzog sich Argentinien damals den Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Regierung unter dem Peronisten Eduardo Duhalde verabschiedete sich von einer orthodoxen Krisenbekämpfung und wertete den Peso ab. Schon 2003 wuchs die Wirtschaft wieder um rund neun Prozent. Das Land konnte multilaterale Kredite vorzeitig zurückzahlen, seit 2006 hat Argentinien keine Schulden mehr beim IWF. Statt um Akzeptanz an den Märkten zu buhlen, wurde ein makroökonomisches Stabilitätsprogramm aufgelegt. Die Formel lautete: wachsen statt sparen.

Hilfe kam aus Asien. Die starke Nachfrage aus China und Indien nach Ressourcen brachte die notwendigen Mittel für einen imposanten Aufschwung und Wachstumsrekorde. Argentinien ist heute weltweit der drittgrößte Sojaproduzent, wobei fast 90 Prozent der Sojaexporte nach China und Indien gehen. Aber die asiatische Rohstoffnachfrage ist nicht allein für den Boom verantwortlich. Auch wurden Strom, Gas und der öffentliche Nahverkehr subventioniert. Importbeschränkungen und Steuererleichterungen in bestimmten Regionen förderten nationale Industriezweige. Die Kaufkraft insgesamt wurde gestärkt. Auf diese Weise sank die Arbeitslosigkeit von 25 auf heute 8 Prozent. Doch der Wirtschaft fehlt es weiterhin an Vielfalt. Die Wertschöpfung ist zu gering und die Steuerbasis noch nicht ausreichend erweitert.

Neue Chancen für Abgehängte und Vergessene

Viele Länder Südamerikas versuchen, den Abgehängten und Vergessenen neue Chancen für den sozialen Aufstieg zu geben. Uruguay, Brasilien, Bolivien oder Ecuador bewerten seit mehreren Jahren die Rolle des Staates neu. Selbstverständlich setzen die Regierungen unterschiedlicher linker oder links-populistischer Couleur nicht auf die gleiche Politik, aber ihnen ist gemein, dass die Belange der marginalisierten Bevölkerungsgruppen einen Schwerpunktbereich darstellen. Ganz bewusst setzen die Regierungen bei der Sozialhilfe und nicht bei der Sozial- oder Arbeitslosenversicherung an. Denn viele soziale Sicherungssysteme sind an formale Beschäftigungsverhältnisse gekoppelt. Informelle Tätigkeiten sind davon abgeschnitten – und damit je nach Land zwischen 20 und 75 Prozent der Bevölkerung. Die im europäischen Sinne „sozialdemokratischen“ Kräfte wie die vom Linksbündnis Frente Amplio gebildete Regierung in Uruguay oder die Arbeiterpartei Brasiliens gaben entscheidende Impulse, sind mit ihrem Ansatz aber nicht allein. Diese Form der Sozialpolitik beschränkt sich noch nicht einmal auf „fortschrittliche“ Regierungen; beispielsweise legen in Mexiko die konservativen Regierungen von PRI und PAN seit 1997 ähnliche Programme auf.

Mit Sozialprogrammen wie Brasiliens weltbekannter Maßnahme „Bolsa Família“ versuchen die Regierungen, Sozialhilfe mit der Förderung von Chancengerechtigkeit zu verbinden. Um Leistungen zu erhalten, müssen die Familien bestimmte Bedingungen erfüllen, etwa den Schulbesuch der Kinder oder Pflichtimpfungen. Heute erreicht Bolsa Família gut ein Viertel der brasilianischen Haushalte. Seit 2008 haben mindestens zehn Länder der Region ähnliche Programme geschaffen. Ecuadors Programm „Bono de Desarollo Humano“ deckt sogar etwa 40 Prozent der Haushalte ab.

Auch die argentinische Regierung von Cristina Fernández de Kirchner legte Sozialhilfeprogramme für arme Familien auf. Bereits im Mai 2002 startete ein erstes Programm für arbeitslose Familien, das noch im gleichen Jahr zwei Millionen Menschen erreichte. Im Jahr 2010 folgte das Programm „Asignación Universal por Hijo“ (AUH). Bedingung für die Transferleistungen ist, dass sich minderjährige Kinder im Haushalt befinden. Es handelt sich um eine Art universelles Kindergeld für Familien aus den ärmsten Schichten, die keine Arbeit haben, im informellen Sektor beschäftigt oder als Haushaltshilfe tätig sind. Können die Eltern den Schulbesuch und staatlich vorgeschriebene Impfungen nicht nachweisen, wird die AUH nicht ausgezahlt.

Die staatlichen Geldtransfers verbinden die Zahlungen mit der Bereitstellung und der Nutzung von Basisleistungen wie Schulen oder Gesundheitsangeboten. Ohne Bildung und Gesundheit, so die Devise, bleibt der soziale Aufstieg verwehrt. Diese Politik sieht Armut als mehrdimensionales Defizit an, nicht alleine als Folge fehlenden Einkommens. Der Ausbau von konditioniert angelegten Programmen zur Armutsbekämpfung ist ein geeigneter Ansatz, um Armut und soziale Ausgrenzung zu bekämpfen und die soziale Kohäsion zu stärken – besonders in Zeiten der Globalisierung, wo Regierungen nur geringe Spielräume zur Veränderung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik haben.

Bis in das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hinein verfügten die wenigsten lateinamerikanischen Länder über breit angelegte Sozialassistenzprogramme. Heute setzen sie auf massive, kontinuierliche Maßnahmen zur Bekämpfung der extremen Armut. Der Fokus auf Kinder soll die Wirkungen zusätzlich verstärken. Somit handelt es sich um einen eindeutigen Politikwechsel. Jedoch: Die informellen, klientelistischen Substrukturen, die in Argentinien häufig – insbesondere auf lokaler Ebene – tonangebend sind, können sich durch derartige Programme leicht verfestigen, so dass die staatliche Steuerungskapazität eingeschränkt zu werden droht. Nicht selten wird die unabhängige Leistungsfähigkeit der Gemeinde- und Provinzverwaltungen durch fehlende Machtkontrolle und durch Günstlingswirtschaft eingeschränkt. Die argentinische Mittelschicht jedenfalls bleibt skeptisch und sieht in der neuen Sozialpolitik nicht nur eine notwendige Hilfe für Arme, sondern auch wahlpolitische Taktik der Regierungen.

Aus öffentlichen Orten zieht man sich zurück

So befindet etwa die „Frente Amplio Progresista“, ein sozialdemokratisches Bündnis um den Arzt und ehemaligen sozialistischen Gouverneur Hermes Binner, dass ein sozialer Mindestschutz notwendig, aber nicht ausreichend ist. Denn Chancengerechtigkeit könne nicht alleine über die Bereitstellung von Dienstleistungen hergestellt werden. Und in der Tat: Für die Entwicklung individueller Potenziale und den nachhaltigen sozialen Aufstieg reichen Sozialhilfe, Schulessen und der Grundschulbesuch nicht aus. Soziale Mobilität ist damit noch nicht gesichert. Um benachteiligte Bürger langfristig zu vollen Teilnehmern des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens zu machen, bedarf es qualitativ herausragender Bildungsangebote und anderer Förder- und Fortbildungsmaßnahmen.

Der argentinische Staat verteilt seit dem Jahr 2010 an alle staatlichen Schulen Netbooks für die Schüler der Sekundarstufe, um ihnen den Anschluss an die moderne Kommunikation zu ermöglichen. Lange wurde die soziale durch die digitale Schere zementiert. Die meisten Kinder der öffentlichen Schulen kommen aus bildungsfernen Haushalten. Das Materialangebot ist ein großer Schritt, weil der jungen Generation der unteren Mittelschicht und Unterschicht ungekannte Möglichkeiten eröffnet werden. Jedoch müssen auch die Bedingungen geschaffen werden, um das Angebot zu verstehen, nutzbar zu machen oder in Frage zu stellen. Leider mangelt es im öffentlichen Bildungssystem Argentiniens noch an funktionstüchtigen „Hotspots“, an Lehrern, die das Angebot in den Unterricht integrieren sowie an Sekundarschulen, die Fähigkeiten individuell fördern.

Außerdem fehlt es an einem Zusammenleben von Schülern verschiedener sozialer Schichten. Das segregierte Schulmodell ist das Ergebnis der sozialen Trennung zwischen Unterschicht und unterer Mittelschicht auf der einen Seite und Mittelschicht und Oberschicht auf der anderen. Das schlechte Image der öffentlichen Schulen und die mangelhafte Ausbildung im staatlichen System – tagelanger Schulausfall durch streikende Lehrer, wenig Angebote in den Bereichen Computer, Musik und Sport – treibt die Mittelschicht in das Komplettangebot privater Schulen. Während Juanito Laguna in der dritten Klasse der öffentlichen Grundschule noch immer lesen lernt, nimmt Felipe Urbano in der von Sicherheitskräften abgeschirmten Privatschule bereits Multiplikation und eine zweite Fremdsprache durch.

In Lateinamerika gibt es nur wenige Orte, an denen sich Mittel- und Unterschicht wie Gleiche begegnen. Die in den vergangenen Jahrzehnten schroff angestiegene Kriminalität lässt die wohlhabenden Schichten um ihr Eigentum und Leben bangen. Aus öffentlichen Orten zieht man sich zurück. Trotz existierender Buslinien wird das Kind mit dem Auto zur Schule oder zum Sport gebracht. Das öffentliche Bildungssystem wird gemieden. Lieber trifft man Kinder und Eltern aus ähnlichen Lebensverhältnissen. Öffentliche Parkanlagen werden nur in Ausnahmefällen aufgesucht, stattdessen wählt man den privaten Sportclub. Im Extremfall zieht man sich über das Wochenende oder ganz und gar in einen so genannten Country Club zurück – das sind Wohlanlagen an den Peripherien der lateinamerikanischen Metropolen, umgeben von Mauern oder Zäunen, in denen das soziale Leben vom Kids Club über die Schule bis zu den Reit- oder Rugbystunden durchorganisiert ist. Zutritt nur mit Ausweis. Innen privat, außen öffentlich. Innen hui, außen pfui.

Diese Form der Segregation hinterlässt Spuren für spätere Generationen. Oben und Unten leben physisch und geistig in zwei komplett getrennten Sphären. Die obere oder aufsteigende Mittelschicht orientiert sich an den westlichen Konsumformen. Mit der Familienreise nach Disneyland und der Einkaufstour nach Miami erfüllt sie sich die eigenen Kindheitsräume. Hingegen bleiben die unteren Schichten in den verlotterten, von den politischen Verantwortlichen vernachlässigten Stadtvierteln zurück. Oder in den tristen Amtsstuben, auf deren schmutzigen Boden die Babys und Kleinkinder der Mütter herumkrabbeln, die stundenlang auf ihre Sozialhilfe warten. Hierher dringen die kapitalkräftigeren Bürger nie vor; um anfallende Verwaltungsgeschäfte zu erledigen, beauftragen sie einen Mittelsmann.

Fortschritt in tief gespaltenen Gesellschaften?

Das Solidaritätsprinzip – sollte es je existiert haben – hat sich aufgelöst. An die Stelle von Steuerzahlungen, die mit der Alimentierung von Politikern gleichgesetzt wird, tritt die direkte Zahlung an private Dienstleister. Die Bereitschaft, ein System zu finanzieren, das allen zur Verfügung steht, gibt es nicht mehr, weil das System einem selbst nichts bietet. Die für Lateinamerika so bedeutende Erhöhung der Steuerquote, besonders der Einkommenssteuer, wird durch diese Faktoren automatisch ausgebremst. Gelingt es der lateinamerikanischen Politik nicht, die Mittelschicht, die mit ihren Arbeitsplätzen von der Globalisierung profitiert, in den öffentlichen Raum zurückzuholen und Vertrauen in ihren Staat zu gewinnen, kann das soziale Fundament der Gesellschaft nicht gekittet werden.

Fazit: In Südamerika ist die Chance auf soziale Mobilität heute greifbarer als je zuvor. Die Bevölkerungsmehrheit will mehr Chancengerechtigkeit und mehr Umverteilung. Die Programme der Sozialhilfe schließen eine Lücke in den sozialen Sicherungssystemen der Region, jedenfalls solange die Wirtschaft wächst. Dennoch besteht die Gefahr, dass sie die Segmentierung der Gesellschaft vertiefen oder zumindest beibehalten. Viele Länder Lateinamerikas stehen daher vor der Aufgabe, die wachsende Spaltung der Gesellschaft in Leistungsbezieher und -zahler aufzuheben. Der derzeit angetriebene Ausbau der Sozialhilfe ist ein längst fälliges Angebot. Geringverdiener sollten darüber hinaus mit Anreizen in die Sozialversicherung gelockt werden. Der Zugang zu öffentlichen Gütern wie Bildung und Gesundheit muss gewährleistet werden. Aber die angebotenen Güter müssen qualitativ hochwertig sein, damit sie sowohl attraktiv als auch wirksam sind.

Umgekehrt würde eine Vernachlässigung der sozialen Dimension die Legitimation der lateinamerikanischen -Demokratien untergraben. Heute werden die Progressiven Lateinamerikas mit dem Ausbau der sozialen Angebote in Verbindung gebracht. Schaffen sie es, die immer noch selektiv verteilten Chancen konsequent gleicher zu verteilen, wäre Lateinamerika dem süßen Traum der Gerechtigkeit einen bedeutenden Schritt näher.

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