Uneinig in die Einheit

Wie Lafontaine und seine Gesinnungsfreunde die Sozialdemokratie 1989/90 ins Desaster manövrierten

Alle Atomwaffen müssten aus Deutschland abgezogen werden, Waffenexporte seien grundsätzlich zu verbieten, auf den Jäger 90 gelte es zu verzichten. Und: Die Dauer des Zivildienstes sei der des Wehrdienstes anzugleichen. So lauteten die Wahlkampfschlager des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten im Jahre 1990. Mit diesen Themen bestritt Oskar Lafontaine nicht zuletzt seine Rede zum Vereinigungsparteitag von SPD und Ost-SPD am 27. September 1990 – eine Woche vor der staatlichen Einheit.

Von der Vereinigung selbst mochte Lafontaine, damals saarländischer Ministerpräsident und stellvertretender SPD-Vorsitzender, nicht reden. Er konstatierte allein, die Einheit sei mit dem 3. Oktober 1990 nicht vollzogen. Als er gefragt wurde, was er unter dem Begriff Vaterland verstehe, antwortete Lafontaine: „Das müssen Sie Kohl fragen.“

Helmut Kohl, der damalige Kanzler und CDU-Chef, wurde von Lafontaine heftig attackiert – es herrschte schließlich Wahlkampf. Kohls Wort von 1989 als einem Jahr der Deutschen sei falsch gewesen, meinte Lafontaine. Es sei vielmehr „das Jahr der Freiheitsbewegungen in Osteuropa überhaupt“. Mit jenen Bürger- und Freiheitsbewegungen in Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei aber hatte Lafontaine, „jene gelungene Mischung aus Napoleon und Mussolini“ (Willy Brandt), in den Jahren zuvor wenig verbunden. So war Lafontaine nur konsequent, wenn er im gleichen Atemzug die Kontakte mit kommunistischen Staatsführungen verteidigte. Um Kritik vorzubeugen, wies er darauf hin, er habe sich im Jahre 1988 für die Freilassung der Schriftstellerin Freya Klier eingesetzt. Lafontaine appellierte an seine Zuhörer, es gelte sich von „alten Denkgewohnheiten“ zu lösen sowie „Denkkategorien abzustreifen und sofort für das neue, größere Deutschland Politikkonzepte zu entwickeln“.

Von dieser Maxime ließ er in seiner fünfzigminütigen Rede jedoch wenig erkennen: Obgleich – oder weil? – Lafontaine das Thema staatliche Einheit nahezu komplett ausgeklammert hatte, dankten ihm die Delegierten seinen Auftritt mit stehenden Ovationen. Die von ihm angesprochenen klassisch westdeutschen Themen der späten achtziger Jahre aber hatten die Vertreter der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) enttäuscht. Richard Schröder, der Fraktionsvorsitzende der SDP in der DDR-Volkskammer, sagte, Lafontaine müsse noch „die DDR-Mundart lernen“. Ähnlich skeptisch äußerte sich Stephan Hilsberg, einer der Gründer der SDP: „Man muss ehrlich sagen, dass Helmut Kohl offenbar einen leichteren Zugang zu den Menschen findet als Lafontaine. Kohl scheint mehr ein deutsches Gefühl zu verkörpern.“ Dennoch verabschiedeten die Delegierten des SPD-Parteitags den Antrag „Oskar Lafontaine soll Bundeskanzler werden“ nach dessen Rede mit 470 von 482 Stimmen.

Lafontaine präsentierte daraufhin sein Regierungsprogramm mit dem Titel „Der Neue Weg“ und zeigte sich auf dem Parteitag mit Blick auf den Wahlausgang optimistisch – ganz wie sich das für einen Spitzenkandidaten im Endspurt gehört. Er rief den Delegierten zu, die Meinungsumfragen, „die mich allmählich nerven“, beeindruckten ihn politisch nicht. „Hier steht einer vor Euch, der erprobt ist, wenn es darum geht, Wahlen zu gewinnen“, versuchte er dem Parteitag Mut zu machen.

„Der Neue Weg“ aber sollte die gesamtdeutsche Sozialdemokratie schon bald geradewegs in die Sackgasse führen. Parteiinterne Kritiker Lafontaines gaben dem Titel des Regierungsprogramms einen neuen Sinn: „Der Neue: Weg!“ Dabei wurde das Regierungsprogramm im Westen mit einem anderen Untertitel („Ökologisch, sozial, wirtschaftlich stark“) versehen als im Osten. Hier hieß es etwas weniger geschmeidig: „Sichere Arbeitsplätze, saubere Luft, wirtschaftlich stark.“ Diese Schlagworte und Themen bezeichneten die sozialdemokratischen Prioritäten in diesem Wahlkampf: Zum einen fehlte die nationale Dimension völlig. Zum anderen ordnete die SPD das soziale Element, ihr Ursprungsthema, ihr Movens über 125 Jahre hinweg, dem ökologischen Aspekt unter. Kurzum: Die Sozialdemokratie verpasste den Kairos. Zu ihren Wurzeln in Sachsen und Thüringen fand sie nicht zurück. Vielen Menschen dort blieb sie fremd.

Entsprechend ging für die SPD die Bundestagswahl zwei Monate später aus. Die SPD fuhr an jenem 2. Dezember 1990 mit 33,5 Prozent der Stimmen ihr schlechtestes Ergebnis seit 1957 ein. Am Tag darauf kam es in den Führungsgremien der Partei zu einer harten Auseinandersetzung. Willy Brandt, der den Dilettantismus seiner „Enkel“ bis dahin – zumindest öffentlich – schweigend verfolgt hatte, rechnete mit Lafontaine ab. Schon anlässlich der Einheitsfeierlichkeiten in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober vor dem Berliner Reichstagsgebäude hatte der Ehrenvorsitzende der SPD seinem Kanzlerkandidaten den mitternächtlichen Handschlag verweigert. Als Freiheitsglocke und Nationalhymne verklungen waren, umgab sich Brandt stattdessen lieber mit Christdemokraten wie Gerhard Stoltenberg und Norbert Blüm, aber auch mit vertrauten Parteifreunden wie Norbert Gansel. Beim anschließenden Empfang im Reichstagsgebäude schwiegen sich Brandt und sein einstiger Lieblingsenkel Lafontaine an.

Die Wirklichkeit galoppierte, doch die SPD beharrte auf dem Status quo

Wie war es zu diesen Differenzen – und letztlich zum Desaster bei der ersten gesamtdeutschen Wahl – gekommen? Bis in die sechziger Jahre war die SPD die Partei der nationalen Einheit gewesen. Der Osten, womit lange zusätzlich noch die Gebiete östlich von Oder und Neiße gezählt wurden, waren der SPD ein Herzensanliegen – deutlich mehr als der rheinisch-katholisch geprägten CDU unter Konrad Adenauer. Noch Jahre nach ihrem Tod wirkte die Politik von Kurt Schumacher und Ernst Reuter nach. Auf die Konfrontation des Kalten Krieges und die Zementierung der deutschen Spaltung reagierte die Sozialdemokratie dann in den sechziger Jahren mit einer wegweisenden Politik. Willy Brandt setzte diese maßgeblich von Egon Bahr geprägte Linie unbeirrt gegen den harten Widerstand der Unionsparteien durch. Später näherten sich CDU und CSU der sozialdemokratischen Entspannungspolitik an. Ab 1982 setzte die Regierung Kohl diesen Kurs de facto fort.

In der Phase 1989/90 hingegen agierte die Sozialdemokratie weit weniger vorausschauend – und weit weniger erfolgreich. Während die SPD in den sechziger Jahren flexibel auf die sich verfestigende Teilung reagiert hatte, spielten sich 1989 genau gegenläufige Bewegungen ab: Das SED-System erodierte, wirtschaftlich stand es ohnehin auf tönernen Füßen. Massenweise flohen Menschen aus der DDR gen Westen. Honecker und seine Leute reagierten konzeptionslos und ohne jedes Gespür für die Lage in ihrem Land. Die SPD aber beharrte auf dem Status quo. Ihr Ziel bestand allein darin, den Zustand des Friedens in Europa (ohne Freiheit östlich der Elbe!) zu bewahren – während sie in den sechziger Jahren noch den Beton der Spaltung aufzubrechen geholfen hatte. Anstatt nun wieder einen solchen Aufbruch zu unterstützen, beobachtete die westdeutsche Sozialdemokratie nur fassungslos die Vorgänge in der DDR, aber auch in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Als der Eiserne Vorhang zu zerfallen begann, verschloss die Führung der SPD ganz fest die Augen. Sie weigerte sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass in der DDR die Unzufriedenheit gewachsen war und weiter wuchs. Dabei rief der eine oder andere vollends verwirrte Sozialdemokrat sogar nach neuem Mörtel – um damit, sehnsüchtig nach dem Status quo, die klaffenden Spalten im Beton des Kalten Krieges wieder zu schließen.

Die SPD spiegelte dabei die Mentalität vieler Westdeutscher wider, die mit der Zweistaatlichkeit aufgewachsen waren und sich darin bequem eingerichtet hatten. Mailand lag allzumal den „Enkeln“ Willy Brandts näher als Magdeburg. Dabei wurden die Zustände in der DDR zuweilen relativiert, die Frage der Menschenrechte verlor man aus dem Auge. Der eigentliche Feind, so schien es zuweilen, saß im Westen, jenseits des Atlantik: Verkörperten nicht die Vereinigten Staaten Kapitalismus und Militarismus? Zuweilen wurde so argumentiert. Hinzu kam ein eigenartiger Werterelativismus. So betrachteten viele führende Sozialdemokraten das bundesrepublikanische Gesellschaftssystem kritischer als das der DDR. Zuweilen erschien die soziale Sicherheit in der DDR sogar erheblicher besser als in der Bundesrepublik.

Die Revolution in der DDR im Herbst 1989 brachte zuvor gültige politische Zuordnungen innerhalb der Sozialdemokratie durcheinander – so wie dies bei allen Revolutionen der Fall ist. Dabei hing die Haltung zu den Veränderungen in der DDR nicht vom generellen politischen Standpunkt der Akteure, von „links“ oder „rechts“ ab. Daneben waren es keineswegs nur die „Parteirechten“, die für eine Vereinigung – und später eine schnelle Vereinigung – plädierten. Zunächst hatte sich Erhard Eppler so positioniert, ein Mann also, der stets als „Linker“ galt und den manche Parteifreunde sogar für einen Ideologen hielten. Doch im Jahre 1989 war das Gegenteil der Fall.

Der „linke“ schleswig-holsteinische Landesverband der SPD zeigte sich gegenüber Einheitsbestrebungen offen. Die „linken“ Bundestagsabgeordneten Freimut Duve, Norbert Gansel und Gert Weisskirchen – alle Angehörige der „Enkel“-Generation – widersprachen der Bahrschen Ideologie und dessen Etatismus, die beide so sehr auf den Status quo – und auf Gespräche mit der SED – setzten. Sie ermöglichten der Sozialdemokratie ungetrübte Blicke auf die Realität in der DDR. Zwar zielten sie mehr auf die Menschenrechte ab denn auf die Nation. Aber sie thematisierten die Verletzung von Menschenrechten in der DDR! Anders als die Vertreter des Etatismus in der eigenen Partei benannten sie Demokratiedefizite in Südafrika und in der DDR. Aus ihrer Sicht sollte der „Wandel durch Annäherung“ von einem „Wandel durch Abstand“ (Gansel) abgelöst werden. Begegnungen mit der SED-Spitze hielt diese Gruppe für „Reisen in die Vergangenheit“. Ehrhart Körting, SPD-Parlamentarier im Berliner Abgeordnetenhaus bezeichnete solche Treffen als Besuche „im Wachsfigurenkabinett des Spätstalinismus“. Sie alle kooperierten früh mit der SDP und plädierten für die staatliche Einheit, nachdem ihnen deutlich geworden war, dass dies der Mehrheitsmeinung in der DDR entsprach. Mancher eben noch als „links“ und der Einheit nicht eben zugetan geltende westdeutsche Sozialdemokrat befürwortete diese plötzlich. Karsten Voigt, Mitgründer der „Parlamentarischen Linken“ in der SPD-Fraktion, wurde aus diesem Flügel de facto exkommuniziert, nachdem er im Frühjahr 1990 für eine NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland plädiert und damit seiner südhessischen Parteifreundin Wieczorek-Zeul widersprochen hatte.

Die Revolution im Osten überforderte die Generation der Enkel

Selbst nach dem Machtwechsel von Honecker zu Krenz versäumte es die SPD, ihren Trampelpfad des Dialogs mit der SED und der von Egon Bahr dominierten Deutschlandpolitik zu verlassen. Johannes Raus präzise Beschreibung der Lage in der DDR und sein Appell im Präsidium, den Kurs zu ändern, stieß dort auf strikte Ablehnung. Gleiches galt für die deutlichen Worte von Erhard Eppler – man denke an seine wegweisende Rede zum 17. Juni 1989 im Bundestag – und Hans-Ulrich Klose ebenso wie für das zaghafte Drängen Björn Engholms. Eine „konservative“ Allianz aus Egon Bahr, Oskar Lafontaine, dem damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin Walter Momper sowie Heidemarie Wieczorek-Zeul verschloss sich jedem Ansinnen, die sozialdemokratische Deutschlandpolitik zu korrigieren. Sie wünschten ein „Weiter so“. Verständlicherweise wandte sich Willy Brandt mit Grausen ab.

Die Revolution in der DDR überforderte vor allem diejenigen, die einst von der Revolution im Westen geträumt hatten. Besonders die Generation der „Enkel“, geprägt von der Achtundsechziger-Revolte, konnte die Vorgänge in der DDR nicht in die eigene politische Vorstellungswelt einordnen. Lafontaine ist dafür das beste Beispiel. Ihm, an der Grenze zu Frankreich aufgewachsen, war der Osten seit jeher fremd. Er lebte und dachte völlig westlich orientiert, sprach gern über französische Küche und italienische Urlaubsorte. Pflichten waren ihm ein Gräuel. Lafontaine kannte die DDR allein aus Begegnungen mit FDJ und SED. Wer aber ein Land allein aus der Perspektive einer plumpen Partei-Propaganda sah, musste für die Realitäten blind sein, vielleicht sogar blind bleiben. Auch die West-Berliner SPD zeigte sich inmitten der revolutionären Veränderungen an den Vorgängen in der östlichen Stadthälfte auf frappierende Weise desinteressiert. Erst spät kam es zu der ersten Begegnung mit der SDP. Von Ehrhart Körting und wenigen anderen abgesehen, beobachtete die Partei die Entwicklung in der DDR teilnahmslos.

Dem Fall der Mauer am 9. November 1989 begegneten die meisten Sozialdemokraten mit einem Gefühl der Unsicherheit. Als die Nachricht bekannt wurde, setzte die Programmkommission ihre Arbeit fort. Die Parteispitze feierte – tief im Westen – den 50. Geburtstag Björn Engholms. Aus der Führungsspitze begaben sich am Tag darauf allein Brandt und Vogel nach Berlin. Rau weilte in jenen Stunden längst in der DDR, er war zur Eröffnung einer Ausstellung nach Leipzig gereist.

„Der Willy wird auch älter“, erklärte Günter Grass

Die höchst unterschiedliche Rhetorik von Brandt und Momper bei ihren Ansprachen am 10. November 1989 vor dem Rathaus Schöneberg offenbarte einen tiefen deutschlandpolitischen Graben, der sich in den folgenden Wochen durch die SPD zog. Bahr, Lafontaine, Momper, Wieczorek-Zeul und andere spürten dabei sehr wohl, was in der Luft lag: Der Drang der Deutschen nach staatlicher Einheit. Dem aber versuchten sie sich zu widersetzen. Sie beschworen deutsch-nationale Geister und beriefen sich sogar auf die Rolle der Alliierten. Kurzum: Sie wehrten jedwede Einheitsbestrebungen mit der Feststellung der fehlenden Souveränität Deutschlands ab. Mit teilweise absurden Argumenten versuchten sie, um keinen Preis vom Status quo abzurücken. Dabei ging es ihnen nicht allein darum, ein Blutvergießen in der DDR – ein im Herbst 1989 durchaus realistisches Szenario – zu vermeiden.

Hinsichtlich der Horrorgemälde eines aufkeimenden Nationalismus liegt die Frage nahe, ob die Menschen nicht friedlich waren, die sich am 9. November mit Tränen in den Augen und Sektflaschen in der Hand um den Hals fielen. Sollte jener 9. November wirklich eine Renaissance des Nationalismus herbeiführen? Norbert Gansel betonte zu Recht, die Menschen hätten den Mauerfall in Berlin mit dem Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ begrüßt – und nicht mit der Nationalhymne, geschweige denn den drei Strophen des Deutschlandliedes. Stand der breite Pfälzer Helmut Kohl plötzlich für den schneidigen Militarismus Preußens? Würde der katholische Sozialethiker Norbert Blüm nun den Manchester-Kapitalismus durchsetzen? Indem einige Sozialdemokraten derartige Horrorbilder zeichneten, offenbarte sich eine konsequente Fehleinschätzung des politischen Koordinatensystems. Bei allen diesen Szenarien war der Wunsch der Vater des Gedankens – der Wunsch nach einem neuen Feindbild. Denn in welchen Punkten konnte sich die SPD begründet von der ebenso überwältigten, aber doch in weiten Teilen behutsam handelnden Regierung Kohl absetzen?

Wie tief die SPD längst gespalten war, zeigte der Berliner Parteitag im Dezember 1989. Die beiden Reden Willy Brandts und Oskar Lafontaines konnten unterschiedlicher kaum sein. Brandt bemühte nationales Pathos, scheute sich nicht, seine Ergriffenheit über die historischen Umwälzungen zu zeigen. Lafontaine hielt die sozialdemokratische Standardrede und verkündete unter anderem: „Plutonium strahlt 500.000 Jahre.“ Günter Grass zeigte sich entsetzt über die Rede Brandts und erklärte: „Der Willy wird auch älter.“ Die Programmpartei SPD verabschiedete ein neues Grundsatzprogramm, das Berliner Programm. Damit legte man sich inmitten revolutionärer Zeiten auf Jahre hinaus fest. Wieder war von „demokratischem Sozialismus“ die Rede. Das Programm gilt bis heute, und Sozialdemokraten kommen zumeist in Erklärungsnöte, wenn sie gebeten werden, „demokratischen Sozialismus“ zu definieren. Die damalige Parteiführung sah sich nicht in der Lage, auf die weltpolitischen Umwälzungen flexibel zu reagieren. Stattdessen arbeitete man die Beschlusslage ab. Zuweilen verlor sie dabei die Prioritäten aus den Augen.

Egon Bahr und andere versuchten derweil noch Anfang des Jahres 1990 mit der SED zu kungeln – und stießen damit die mutigen Gründer der SDP, die sich noch vor dem Fall der Mauer mit Konzept, Mut und Chuzpe hervorgetan hatten, regelmäßig heftig vor den Kopf. Bahr tat dies durchaus bewusst, und Momper eiferte ihm nach. Während des Jahres 1990 versuchte die SDP zuweilen, ihre westdeutsche Schwesterpartei zum Jagen zu tragen. Die Sozialdemokraten in der DDR kannten die Sorgen und Nöte der DDR-Bevölkerung, die auf rasche Einheit drängte und sich nach der D-Mark sehnte. Weitsichtige Sozialdemokraten wie Ingrid Matthäus-Meier und Wolfgang Roth, die finanz- und wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, bemühten sich ebenso, nicht den Anschluss an die Realität zu verpassen. Sie plädierten früher als die Regierung Kohl für eine deutsch-deutsche Wirtschafts- und Währungsunion und wurden dafür heftig kritisiert. Der Bundesverband der deutschen Industrie attackierte sie ebenso wie – Oskar Lafontaine.

In den folgenden Monaten hatte Hans-Jochen Vogel als Partei- und Fraktionsvorsitzender der SPD die undankbare Aufgabe, zwischen dem einheitsfreundlichen Brandt und dessen Anhängern sowie der Kassandra Lafontaine samt seinen Truppen zu vermitteln. Vogel gelang es zwar, eine Eskalation des stets schwelenden Streits zu vermeiden. Doch es zeigte sich, dass eine derart gelähmte Partei auf einen raschen politischen Wandel nicht reagieren konnte. Erst recht gelang es ihr nicht zu agieren. In einer Phase der Bewegung legte Lafontaine dabei einen Kurs fest, der auf eine völlige Bewegungslosigkeit zielte. Vogels Disziplinierungsversuche waren nur selten erfolgreich. Der Parteivorsitzende wirkte zuweilen gelähmt und die „Enkel“, die in Vogel ohnehin nur einen Mann des Übergangs sahen, machten ihm das Leben schwer.

Konservativ und unflexibel hielten die „Enkel“ am „Sozialismus“ fest

Tragfähige Konzepte wie das von Matthäus-Meier und Roth zur Wirtschafts- und Währungsunion, das die Bundesregierung in Verlegenheit brachte, blieben auf der Strecke. Vermutlich nahm der Kanzlerkandidat Lafontaine derartige Vorstöße nicht einmal zu Kenntnis. Es war in der SPD schließlich ein offenes Geheimnis, dass Lafontaine Papiere nicht las, nicht einmal in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Programmkommission. Während Brandt nun, zumeist gemeinsam mit den ostdeutschen Sozialdemokraten, das Tempo Richtung Einheit zu steigern versuchte, vergnügten sich Lafontaine und die Seinen im Bremserhäuschen. Vogel musste diese gegenläufigen Interessen bündeln – eine Aufgabe, die nicht gelingen konnte.

Die kulturellen Unterschiede zwischen der kleinen, neu gegründeten, intellektuell geprägten SDP und der mächtigen Schwesterpartei SPD im Westen lagen auf der Hand: Distanziert gingen die meisten ostdeutschen Sozialdemokraten mit dem Begriff „Sozialismus“ oder der Anrede „Genosse“ um. Markus Meckel, einer der Initiatoren der SDP, sprach mehr oder weniger aus folkloristischen Gründen vom „Sozialismus“, beabsichtigte aber, diesen Begriff zu entleeren. Brandt besaß wiederum ein Gespür für diese emotionale Abneigung der ostdeutschen Sozialdemokraten. Und so ließ der Vorsitzende der Sozialistischen Internationale deutlich werden, dass er selbst den Begriff des „demokratischen Sozialismus“ kaum als Glaubensbekenntnis empfand. Brandt und andere wären ohne weiteres bereit gewesen, ihn durch den Begriff „Soziale Demokratie“ zu ersetzen. Dies aber war mit der SPD nicht zu machen. Besonders Momper und die „Enkel“ erwiesen sich als konservativ und unflexibel. Sie hielten stur am „Sozialismus“ fest und mühten sich sogar, die ostdeutschen Parteifreunde zu missionieren. Ihr Erfolg dabei blieb bescheiden.

Egon Bahr gibt ein Beispiel dafür, dass es sich bei der innerparteilichen Auseinandersetzung nicht um einen glasklaren Generationenkonflikt handelte. Während Brandt sich nach Veränderungen sehnte, fürchtete Bahr sie. Gleichwohl standen die Älteren in der SPD – Brandt und Rau seien genannt, aber auch die Polit-Pensionäre Klaus von Dohnanyi, Hans Koschnick und Helmut Schmidt – der Einheit deutlich positiver gegenüber als die „Enkel“. Vor allem Eppler und Rau personifizierten einen linken Protestantismus, der noch immer gesamtdeutsch orientiert war. Sie hatten ohnehin während ihres gesamten politischen Lebens mehr gen Ost denn West geblickt. Das „karolingische“ Europa war ihnen ebenso fremd geblieben wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Neben Eppler hatte Rau umfangreiche Kontakte in die DDR gepflegt. Dies spielte auch für seine Politik eine wichtige Rolle. Da Rau nicht nur von Politbüromitgliedern empfangen wurde, besaß er ein umfassenderes Bild der Situation in der DDR. Daneben waren Sozialdemokraten wie Hans Büchler, Dieter Haack, Horst Niggemeier, Annemarie Renger und Hans-Jürgen Wischnewski niemals in den Verdacht geraten, das grundgesetzliche Gebot zur staatlichen Einheit aus den Augen zu verlieren.

Lafontaine gelang es im Jahre 1990 besser als der SPD gut tat, die Seinen hinter sich zu versammeln. Im Osten Deutschlands kokettierte Lafontaine geradezu mit seiner kulturellen Distanz. Es wundert daher wenig, wie skeptisch die Ost-SPD Lafontaine sah, während dieser im Westen noch als Hoffnungsträger galt. Auch hier war die Ost-SPD der West-SPD voraus: Sie litt schon 1990, ein Jahrzehnt früher als die Gesamtpartei, unter Lafontaine und dessen Eskapaden. Ihre Vertreter wunderten sich daher weit weniger als westdeutsche Sozialdemokraten darüber, dass Lafontaine sich im Jahre 1999 von seinen Ämtern an der Spitze von SPD und Bundesfinanzministerium trennte wie von einem „dreckigen Hemd“ (Hans-Jochen Vogel).

Nicht auszudenken, wie die SPD ohne Willy Brandt agiert hätte

Als schwerer Fehler für die SPD erwies sich die Kanzlerkandidatur Oskar Lafontaines 1990. Obschon Lafontaine der Liebling der Partei war, war er zu jener Zeit fehl am Platze. Das wusste Lafontaine und entsprechend bot er einen Verzicht auf seine Kandidatur an. Hinzu kam das Attentat im April des Jahres. Lafontaine befand sich mithin physisch, psychisch und politisch in der Defensive. In solch einer Lage kann man nicht Kanzler werden wollen. Und man kann nicht Kanzler werden. Die „Enkel“ aber setzten auf Lafontaine. Willy Brandt war in jener Phase ein Segen für die SPD. Es ist nicht auszudenken, wie die Sozialdemokratie ohne ihn agiert hätte. Er bewahrte seine Partei vor dem Schlimmsten. Brandt schuf Fakten, etwa mit seinem Wort „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ oder seinen Besuchen in der DDR. Es mag ins Reich der Vermutungen gehören, doch was hätte die SPD auf ihrem Parteitag im Dezember 1989 wohl alles ohne das Wirken Willy Brandts beschlossen?

Indem die ostdeutschen Sozialdemokraten in eine Große Koalition unter Lothar de Maizière (CDU) einwilligten – und dies gegen allerlei Grummeln in den eigenen Reihen –, entschieden sie sich ganz nach ihrer Programmatik für das Prinzip Verantwortung. Das konnte Lafontaine nicht schmecken. Die Streitigkeiten zwischen ihm und den Sozialdemokraten in der DDR geben davon Zeugnis. Er führte eine aussichtslose Auseinandersetzung gegen die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, obgleich der erste Vorschlag dazu aus der SPD gekommen war. Dieser Streit verzehrte parteiintern viele Kräfte, brachte die Fraktion gegen den Kandidaten auf und führte mittelbar in die Wahlniederlage bei der Bundestagswahl im Dezember 1990.

Lafontaine und der niedersächsische SPD-Spitzenkandidat Gerhard Schröder hatten zunächst allein ihre Landtagswahlen im Blick, die sie mit ebenso polemisch wie populistisch geprägten Wahlkämpfen gewannen. Beide stimmten – Schröder war inzwischen Ministerpräsident – wenig später im Bundesrat gegen die Währungsunion. Damit konterkarierten sie die von Vogel vorgegebene Linie einer Kooperation mit der Bundesregierung in dieser Frage. Dann setzten sie auf eine rein westdeutsche Bundestagswahl, bei der Lafontaine – strategisch nachvollziehbar wie zumeist – bessere Chancen sah, gegen Kohl zu gewinnen als bei einer gesamtdeutschen Wahl. Lafontaine wähnte im schlechten Abschneiden der Ost-SPD bei der Volkskammerwahl sogar eine besondere Chance für die SPD im Westen! Doch diese Pläne wurden durchkreuzt, allzumal von der eigenen Partei. Brandt und andere hatten die Bundestagswahl mit dem Saarländer an der Spitze längst verloren gegeben. Zumindest intern. Sie sollten Recht behalten.

Die vergebene Chance einer gesamtdeutschen Zukunft

Kurzum: Die Sozialdemokratie agierte 1989/90 defensiv, uneinig und wenig überzeugend. Mit einem anderen, aufgeschlossenen, konstruktiven Kurs hätte die SPD in dieser Phase eine wesentlich bessere Ausgangslage erzielt. Eine frühe Abkehr von der SED – nach dem Modell Eppler –, ein klares Ja zur ostdeutschen Sozialdemokratie – wie es Norbert Gansel aussprach –, eine Orientierung am ostdeutschen Wunsch nach Einheit – wie sie Willy Brandt besaß – und eine konstruktive Begleitung des Vereinigungsprozesses – analog zu Hans-Jochen Vogels Praxis – dies alles hätte der Sozialdemokratie in Ost wie West hohe Sympathien eingebracht. Sie wäre so in den neuen Ländern und damit in ganz Deutschland mehrheitsfähig geworden. Und mit der Besinnung auf ihre große Geschichte hätte die Sozialdemokratie ihrer gesamtdeutschen Zukunft aufgeschlossen und optimistisch entgegen sehen können.

Der Autor ist über das Thema „Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90“ promoviert worden. Er ist für seine Arbeit, die im nächsten Frühjahr im Verlag J. H. W. Dietz erscheint, mit dem Willy-Brandt-Preis zur Förderung von Nachwuchswissenschaftlern ausgezeichnet worden.

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