Und jetzt in die Offensive!

Wie wird sich Deutschlands Rolle in Europa verändern, wenn die Briten nicht mehr dazugehören? Gut möglich, dass Berlin dann erst recht den Druck der ökonomisch gebeutelten Länder an der EU-Peripherie zu spüren bekommt. Doch ihnen nachzugeben hieße, die Europazufriedenheit der Deutschen zu strapazieren. Wo liegt der Ausweg aus diesem Dilemma?

Mit dem Brexit wird die deutsche Frage noch akuter werden, als sie es ohnehin schon war. Wenn Großbritannien im Laufe der nächsten Jahre tatsächlich aus der Europäischen Union austritt, wird die Zukunft Europas noch stärker mit der Rolle Deutschlands verknüpft sein als bisher. Das bedeutet aber nicht, dass Deutschland in einer EU ohne Großbritannien automatisch mächtiger sein wird als heute. Theoretisch natürlich schon: Politisch und wirtschaftlich wird Deutschlands relatives Gewicht größer werden. Aber es wird Deutschland immer noch an den Machtressourcen fehlen, vor allem an den wirtschaftlichen Ressourcen, um die hegemoniale Rolle einzunehmen, die viele Deutschland seit Beginn der Eurokrise zuschreiben. Um dies zu verdeutlichen reicht eine Zahl: Der Anteil Deutschlands am Bruttoinlandsprodukt der Eurozone beträgt nur rund 28 Prozent. Zusammengerechnet sind schon die Volkswirtschaften Frankreichs und Italiens größer als die deutsche Volkswirtschaft.

Grundsätzlich wird sich mit dem Brexit also an der Situation Deutschlands nichts ändern: Nach wie vor wird das Land nur eine halbhegemoniale Stellung haben. Es wird stärker sein als alle anderen EU-Mitgliedsstaaten, aber immer noch zu schwach, um seine Interessen im Alleingang durchzusetzen oder auf andere Art europäische Probleme zu lösen. Diese Position ähnelt der Stellung Deutschlands in Europa zwischen 1871 und 1945 – mit dem Unterschied, dass die deutsche Frage sich heute im geoökonomischen und nicht im geopolitischen Sinne stellt.

Was sich hingegen künftig verändern wird, ist die Wahrnehmung hinsichtlich einer vermeintlichen deutschen Vorherrschaft in Europa. Schließlich war die Angst vor der deutschen Stärke ein wichtiger Grund, weshalb viele Europäer selbst aus traditionell deutschlandfreundlichen Ländern wollten, dass Großbritannien in der EU bleibt. Aufgrund dieser Wahrnehmung wird nach dem Brexit der Druck auf die übrigen Mitgliedsstaaten wachsen, auf verschiedenen Politikfeldern Koalitionen zu bilden, um sich gegen Deutschland zu behaupten. Somit wird sich jene Dynamik fortsetzen, die in den vergangenen sechs Jahren bereits in der Eurozone und seit 2015 auch unter den Schengen-Ländern zu beobachten war.

Macht der Brexit Deutschland schwächer?

Der Austritt Großbritanniens könnte also dazu führen, dass Deutschland innerhalb der EU paradoxerweise zwar auf dem Papier stärker, in Wirklichkeit jedoch schwächer wird. Um Missverständnissen vorzubeugen: Solche Koalitionen werden nicht in der Lage sein, sich permanent gegen Deutschland durchzusetzen. Jedoch besteht die Gefahr, dass eine Wettlaufdynamik der Koalitionsbildungen unter EU-Mitgliedsstaaten entsteht. Die Folge werden noch mehr Konflikte sein – von denen es seit Beginn der Eurokrise 2010 sowieso deutlich mehr gibt als früher. Europa wird voraussichtlich instabiler werden.

Natürlich ändert der bevorstehende Austritt Großbritanniens nichts an den gewaltigen Herausforderungen, mit denen es Deutschland in der EU zu tun hat. Nach wie vor geht es vor allem um die Art und den Umfang von „Solidarität“ im Kern der EU, also unter den Mitgliedsstaaten des Euro- und Schengenraums. Und nach wie vor sind die Spaltlinien groß, grob gesagt zwischen Norden und Süden in der Eurozone und zwischen Westen und Osten im Schengenraum.

Seit Beginn der Eurokrise dreht sich die Diplomatie zwischen den EU-Mitgliedsstaaten um Berlin, wobei die Länder in dieser Zeit unterschiedlich mit der deutschen Macht umgegangen sind. Die Staaten Mitteleuropas, deren Volkswirtschaften seit der Wiedervereinigung eng mit der deutschen verflochten sind, schienen die geoökonomische Variante einer deutschen Einflusssphäre zu bilden. Andere EU-Mitglieder – besonders diejenigen der so genannten Peripherie – gerieten unter Druck, eine „gemeinsame Front“ gegen Deutschland zu bilden, wie George Soros es nannte, um eine symmetrischere Anpassung und eine weitere Vergemeinschaftung der Schulden innerhalb der Eurozone zu erzwingen.

Seit Beginn der Flüchtlingskrise aber hat sich diese Dynamik weiterentwickelt. Die Visegrád-Staaten und besonders Ungarn und die Slowakei, die im Kontext der Eurokrise eher Verbündete Deutschlands waren, setzten sich heftig von der deutschen Politik ab und bildeten eine Art antideutsche Koalition. Damit ist eine noch komplexere und fluidere Dynamik wechselnder Koalitionen entstanden. Statt zwei sich gegenüber stehenden Blöcken – Gläubiger- und Schuldnerländer – gibt es mehrere Trennlinien quer durch den „Kern“ der EU. In der Mitte steht Deutschland, das aus verschiedenen Richtungen kritisiert wird. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass der Osten und der Süden sich zusammenschließen und eine „Koalition der Peripherien“ gegen die Mitte bilden.

Dass die EU nach dem Brexit-Votum dringend reformiert werden muss, ist mittlerweile ein Allgemeinplatz. Doch wie genau die Veränderungen aussehen sollten, darüber gehen die Meinungen auseinander. Wie lässt sich der Euroskeptizismus überwinden und das Vertrauen der Wähler zurückgewinnen? „Wir dürfen auch nicht die Augen davor verschließen, dass die Unterstützung und Leidenschaft für unser gemeinsames Projekt im letzten Jahrzehnt in Teilen unserer Gesellschaften nachgelassen haben“, schrieben der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault und sein Amtskollege Frank-Walter Steinmeier in einem kurz nach dem Votum veröffentlichten gemeinsamen Papier.

Was eigentlich ist in Europa »das Wesentliche«?

Besteht die Lösung in „mehr Europa“ oder „weniger Europa“? Geht es nach Ayrault und Steinmeier, sollte sich die EU „stärker auf das Wesentliche konzentrieren und die konkreten Erwartungen unserer Bürger erfüllen“. Das Problem: Es gibt unter den EU-27 keine gemeinsame Vorstellung darüber, was das „Wesentliche“ ist und welche Erwartungen die Bürger haben.

Beispielsweise wird allgemein erkannt, dass die europäische Integration besser legitimiert werden muss. Doch der Weg dorthin ist umstritten. Sollte die Eurozone die Vorhut einer engeren, homogeneren EU bilden, vielleicht mit einem eigenen Parlament? Oder muss die EU mittels mehr „differenzierter Integration“ loser werden? Sollen die nationalen Parlamente eine größere Rolle spielen? Oder soll die EU vor allem über das Europäische Parlament legitimiert werden? Was die einen als Lösung betrachten, sehen die anderen als Problem. Was aus Sicht der einen die EU retten könnte, würde aus Sicht der anderen die EU zerstören. Selbst unter den europäischen Regierungen, die eine tiefere Integration des „Kerns“ für unausweichlich halten, wie die sechs Gründungsmitglieder der EU, gibt es gegenteilige Vorstellungen darüber, was unter Integration zu verstehen ist.

Was die Eurozone betrifft, ist der Streit im Grunde genommen immer noch der gleiche, der seit 2010 in regelmäßigen Abständen wiederkehrt. So setzen die Franzosen und Italiener auf mehr risk sharing, während Deutschland strengere Regeln und mehr Strukturreformen durchsetzen will. Der Föderalist Wolfgang Schäuble hatte anscheinend eine solche Angst davor, dass er nach einem Brexit-Votum unter Druck kommen würden, den französischen und italienischen Forderungen nachzugeben, dass er schon vor dem Referendum sagte, dies wäre keine gute Zeit für weitere Integrationsschritte.

Die Haltung Schäubles zeigt, wie wenig Spielraum die Bundesregierung hat, um kreative Lösungen aus der aktuellen Sackgasse zu finden. Häufig wird behauptet, Deutschland sei lange eine Ausnahme in Europa gewesen, da es im Gegensatz zu anderen Ländern immer noch an die europäische Integration glaubte. Deutschland sei politisch wie wirtschaftlich eine Insel der Stabilität gewesen. Erst mit dem Aufstieg der AfD bei den jüngsten Landtagswahlen sei Deutschland etwas „normaler“ geworden.

Diese Beschreibung der Lage wird oft von deutschen „Pro-Europäern“ vorgebracht. Sie ist aber nur bedingt wahr. Es stimmt zwar, dass trotz wachsendem Euroskeptizismus die Mehrheit der deutschen Wähler noch immer „pro-europäisch“ ist, und dass keine euroskeptische Partei bundesweit einen ähnlich großen Stimmenanteil erreicht wie etwa der Front National in Frankreich. Aber die Bedingung dafür ist, dass die EU gemäß deutscher Interessen funktioniert.

So war es auch lange in der EU – bis zum Flüchtlingsandrang. Nicht zuletzt während der Eurokrise konnte Deutschland seine Präferenzen durchsetzen. Es bestand auf eine symmetrische Anpassung in der Eurozone, die die Kluft zwischen Überschuss- und Schuldenstaaten vertiefte anstatt sie zu verringern: Während die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung sank, erreichte sie in den Ländern der so genannten Peripherie Höchststände. Natürlich sind in einem solchen „deutschen Europa“ die deutschen Wähler am wenigsten euroskeptisch.

In der jetzigen Situation ist der Euroskeptizimus also ein Nullsummenspiel: Der Preis dafür, dass die Deutschen weniger europaskeptisch sind, ist die wachsende Euroskepsis in der Peripherie der Eurozone und in den mittel- und osteuropäische Ländern (die der deutschen Politik in der Flüchtlingskrise so massiv entgegengetreten sind). Die Maßnahmen, die notwendig wären, um den Euroskeptizimus in diesen Ländern abzumildern, würden fast zwangsläufig zu einem Zuwachs an europakritischen Einstellungen in Deutschland führen.

Zeit für eine echte progressive Alternative

Dieser Zusammenhang lässt sich gut am Beispiel der EZB verdeutlichen. Aus der Perspektive der Peripherieländer (und der meisten angelsächsischen Ökonomen) ist die EZB die einzige EU-Institution, die seit Anfang der Eurokrise nicht gemäß der Interessen der Gläubigerländer, sondern im europäischen Interesse gehandelt hat. Mit dem Versprechen, für den Zusammenhalt des Euro „alles zu tun“, hat EZB-Präsident Mario Draghi mit dem Anleihenkaufprogramm „Outright Monetary Transactions“ 2012 die Währungsunion gerettet.

Doch gerade die EZB wird seit dieser Zeit Zielscheibe der wachsenden Europaskepsis in Deutschland, wie sie zum Beispiel immer wieder in der FAZ zum Ausdruck kommt. Die Rede ist von einer schleichenden Enteignung der deutschen Sparer und der berüchtigten „Transferunion“. Würde man mit der Vergemeinschaftung der Schulden in der Eurozone tatsächlich weiter gehen, wie es viele Akteure in Frankreich und Italien für notwendig erachten, würde der Euroskeptizismus in Deutschland weiter wachsen – und womöglich die Unterstützung für die Währungsunion verloren gehen.

Der einzige Weg aus diesem Nullsummenspiel ist die Offensive: Das in Deutschland seit Anfang der Eurokrise gängige Narrativ sollte radikal infrage gestellt werden. Bis jetzt hat SPD-Chef Sigmar Gabriel zögerlich versucht, sich vor allem in der Flüchtlings- und Russlandpolitik von Angela Merkel abzusetzen. Besser wäre es, wenn die SPD sich auf den Gebieten der Eurozone und Wirtschaftspolitik profilieren würde. Die Partei sollte der neoliberalen Fixierung auf die „Wettbewerbsfähigkeit“ entgegentreten und sich stattdessen für ein ausgeglichenes Wachstum einsetzen. Die Zeit ist reif, im Gegensatz zur AfD eine echte, progressive Alternative anzubieten.

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