Über die Große Koalition hinaus

Regierungen zu bilden, wird in Deutschland immer komplizierter. Darum müssen sich die Parteien auf neue informelle Regeln verständigen. Nicht mehr die stärkste Partei, sondern das stärkste Lager sollte den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten

Die Landtagswahlen am 13. März 2016 zeichneten sich durch ein besonderes Spannungsmoment aus – einerseits durch die Verschiebungen der parteipolitischen Kräfteverhältnisse, andererseits durch die unüberschaubare Regierungsbildung. Je mehr Parteien ins Parlament gelangen, desto stärker sind beide Aspekte voneinander entkoppelt. Ein Wahlergebnis lässt dann möglicherweise mehrere Varianten der Regierungsbildung zu. Weil sich die Parteien im Vorfeld der Wahl nicht immer klar positionieren, welche Bündnisse sie eingehen oder ausschließen wollen, gerät die Stimmabgabe zum Lotteriespiel: Welche Regierungskonstellation sie am Ende begünstigt, bleibt unsicher.

Nur in Sachsen-Anhalt schien der Fall klar zu sein. Die vor einem Jahr durchaus realistische Hoffnung, die schwarz-rote Koalition durch ein rot-rot-grünes Dreierbündnis nach Thüringer Vorbild ablösen zu können, mussten Linkspartei, SPD und Grüne im Zuge des Aufstiegs der AfD begraben. Gleichzeitig war der Vorsprung der CDU vor der SPD in den Umfragen so groß, dass letztere nur „auf Platz“ spielen konnte und keine Chance hatte, die Führung der Regierung zu übernehmen. Überraschend war, dass es aufgrund der Stärke der AfD arithmetisch nicht einmal für Schwarz-Rot gereicht hat. Besonders die CDU kann deshalb von Glück reden, dass die Grünen der Koalition durch ihren knappen Einzug in das Parlament zur Mehrheit verhelfen. Denn andernfalls wäre eine Regierungsbildung nur mithilfe der Linkspartei möglich gewesen, was wahrscheinlich zu Neuwahlen geführt hätte.

Noch kniffliger war die Situation in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. In beiden Ländern mussten sich die amtierenden Regierungen aus SPD und Grünen darauf einstellen, zusammen keine Mehrheit zu erreichen. Dasselbe galt für Schwarz-Gelb. In Baden-Württemberg konnte die FDP zuversichtlich sein, ein gutes Ergebnis zu erzielen. In Rheinland-Pfalz stand ihr Einzug dagegen auf der Kippe, selbst die Grünen lagen kurz vor der Wahl nur noch knapp über der Fünfprozentmarke. Dass die Linkspartei in beiden Ländern scheitern würde, war vorgezeichnet, während die AfD ebenso sicher davon ausgehen konnte, in die Parlamente zu gelangen. Dass sie am Ende deutlich zweistellige Ergebnisse bekommen würde, verblüffte am Wahlabend selbst die Demoskopen.

Welche Perspektiven der Regierungsbildung ergeben sich daraus? Nachdem die Grünen in Baden-Württemberg in den Umfragen an der Union vorbeigezogen waren, schloss deren Spitzenkandidat Guido Wolf vor der Wahl aus, dass seine Partei in eine von Winfried Kretschmann geführte grün-schwarze Regierung eintreten würde. Auch die FDP erteilte einer Zusammenarbeit mit Rot-Grün eine Absage. Stattdessen empfahl sie sich als Mehrheitsbeschafferin eines schwarz-roten Bündnisses. Weil die Sozialdemokraten ihre Beteiligung an einem solchen Bündnis offen ließen, war dies die einzige Koalition, die aufgrund der Vorab-Festlegungen der Parteien infrage kam.

Die CDU spielt nur noch die zweite Geige

Dass eine solche Regierung kaum dem Wählerwillen entsprochen hätte, war Union und FDP nach dem Wahlausgang zwar klar. Dennoch brachte Schwarz-Gelb die Option einer Mehrheit jenseits der Grünen vor den Sondierungsgesprächen noch einmal aufs Tapet, bis die SPD dem Spuk ein Ende bereitete. Da die FDP wiederum von ihrem Nein zu einer Ampel nicht abrücken wollte, blieb der CDU nichts anderes übrig, als sich in die Rolle des Juniorpartners in einer grün-schwarzen Koalition zu fügen.

In Rheinland-Pfalz war sowohl die arithmetische als auch die politische Ausgangslage eine andere. Zum einen sind SPD und Union hier zusammen so stark, dass es für eine Große Koalition bequem reichen würde. Zum anderen konnten auch eine Ampelkoalition sowie eine Jamaika-Koalition mit einer Mehrheit rechnen, im Unterschied zu Baden-Württemberg aber kein schwarz-grünes Zweierbündnis. Politisch waren die genannten Bündnisse ebenfalls gangbar, weil keiner der Beteiligten sie explizit abgelehnt hatte. Selbst die FDP hielt sich bei ihrer Absage an eine Ampelkoalition vor der Wahl eine Hintertür offen, indem ihr Spitzenkandidat Volker Wissing lediglich „eine Unterstützung der rot-grünen Politik in Rheinland-Pfalz für ausgeschlossen“ erklärte.

Die Bildung einer Großen Koalition gestaltet sich in Rheinland-Pfalz schwierig, weil Union und SPD annähend gleich stark sind und Julia Klöckner für eine Herausforderin beachtliche Zustimmungswerte erhielt. Der CDU, die bis vor wenigen Wochen noch wie die sichere Siegerin aussah, wäre die Rolle des Juniorpartners ebenso schwer gefallen wie der SPD, wenn sie die Position als stärkste Partei knapp verpasst hätte. Vermieden werden kann eine solche Konstellation jetzt deshalb, weil sich die Liberalen einem Ampelbündnis nicht verweigern. Psychologisch kommt der FDP neben ihrer guten Erinnerung an die gemeinsame Regierungszeit mit den Sozialdemokraten dabei zugute, dass sie der stärkere der beiden Juniorpartner ist.

Dem Juniorpartner drohen regelmäßig Verluste

Schwieriger hätte die Regierungsbildung werden können, wenn in Rheinland-Pfalz neben einer Ampel auch ein schwarz-grün-gelbes Dreierbündnis mehrheitsfähig gewesen wäre. Weil die Grünen koalitionspolitisch nach wie vor primär auf die Sozialdemokraten orientiert sind, präferieren sie eine SPD-geführte Ampelkoalition naturgemäß stärker als ein unionsgeführtes Jamaika-Bündnis, bei dem sie vollständig ins andere Lager springen müssten. Umgekehrt tut sich die FDP mit Jamaika leichter als mit der Ampelkoalition, da für sie die Union der Wunschpartner bleibt. Wenn Grüne und FDP gleichzeitig als Scharnier für die Koalitionsbildung benötigt werden, sie als Teile dieses Scharniers aber in verschiedene Richtungen streben, drohen sich die Optionen gegenseitig zu blockieren.

Um dies zu vermeiden, müssten sich die Parteien zukünftig auf bestimmte Regeln der Regierungsbildung informell verständigen. Der Automatismus der Mehrheitsbildung hat in der Bundesrepublik dafür gesorgt, dass es solcher Vorkehrungen in der Vergangenheit nicht bedurfte. Weder gab und gibt es die Institution eines „Regierungsformateurs“, noch musste man auf das ungeschriebene Gesetz zurückgreifen, wonach der Regierungsauftrag im parlamentarischen System stets der stärksten Partei gebührt. Die einzige Regel, die bislang unstreitig galt und akzeptiert wurde, lautet, dass innerhalb einer Koalition die stärkste Partei die Regierung anführt und das Amt des Regierungschefs besetzt. Sie gewinnt vor allem bei Großen Koalitionen Bedeutung, in denen sich die Parteien „auf Augenhöhe“ begegnen. Für deren Bildung erweist es sich häufig als Problem, dass die Rolle des Juniorpartners undankbar ist. Dies gilt auf der Landesebene noch mehr als in der Bundespolitik. Weil sich die mediale Aufmerksamkeit ganz auf den Regierungschef richtet, zieht dessen Partei aus der Ämterverteilung Nutzen, während der kleineren Partei trotz ihres Anteils am Regierungserfolg Verluste drohen – wie jüngst die SPD in Baden-Württemberg schmerzlich erfahren hat.

Versuche, den Anspruch der stärksten Partei innerhalb einer Koalition auf das höchste Amt infrage zu stellen (wie von Gerhard Schröder nach der Bundestagswahl 2005) oder ihn durch das „israelische Modell“ einer rotierenden Besetzung zu relativieren (wie bei der Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt 1994), hatten in der Bundesrepublik bislang keinen Erfolg. Dass sie überhaupt ins Spiel kamen, hängt mit der fehlenden Flexibilität der Koalitionsbildung zusammen, die das Zusammengehen von Union und SPD mangels Alternativen immer häufiger erzwingt. Wie das österreichische Beispiel zeigt, sind Große Koalitionen aus demokratischer Sicht jedoch prekär. Weil sie das Prinzip der alternierenden Regierung suspendieren und den Wettbewerb von der Mitte an die politischen Ränder verlagern, sollten sie in einer parlamentarischen Demokratie eine zeitlich begrenzte Ausnahme bleiben. Dies können sie aber nur, wenn alternative Koalitionsmodelle vorhanden sind und ihre Realisierung durch informelle Festlegungen oder institutionelle Reformen gefördert wird. Speziell auf der Länderebene bieten sich dafür die folgenden drei Wege an.

Drei Wege zu tragfähigen Koalitionen

Erstens müsste ein fester Regelmechanismus etabliert werden, wem aufgrund des Wahlergebnisses das primäre Recht zukommt, die Regierung zu bilden und anzuführen. Das aus anderen Ländern mit Mehrparteienkoalitionen geläufige Prinzip der „stärksten Partei“ erscheint dabei nur bedingt geeignet. Weil die Parteien in mehr oder weniger festgefügten Lagern koalitionspolitisch verbunden sind, wäre es sinnvoller, auf diese Kernbündnisse abzustellen. Stehen Schwarz-Gelb und Rot-Grün als gewünschte Koalitionen gegeneinander, könnte man den Regierungsauftrag der stärkeren Formation zusprechen (statt der stärkeren Partei). In Baden-Württemberg, wo Grün-Rot mit 8 Prozentpunkten vorne lag, hätte sich die FDP demnach genauso als Mehrheitsbeschafferin für Grüne und SPD in die Pflicht nehmen lassen müssen wie jetzt in Rheinland-Pfalz. Hier betrug der Vorsprung immerhin noch 3,5 Prozentpunkte. Hätte Schwarz-Gelb die Nase vorne gehabt, wie es die Umfragen bis kurz vor der Wahl signalisierten, wäre es an den Grünen gewesen, die Regierungsbildung durch einen Sprung über den Lagergraben zu ermöglichen.

Das Abstellen auf die Stärke der Formationen ist auch aus Sicht der Wähler sinnvoll, die bei der Stimmabgabe dann ihrer tatsächlichen Präferenz folgen und taktische Überlegungen zurückstellen könnten. Letztere dürften zum Beispiel in Baden--Württemberg viele SPD-Wähler dazu verleitet haben, anstelle der Sozialdemokraten lieber die Grünen zu wählen, um sicherzustellen, dass diese in einer erwartbaren Koalition mit der CDU stärkste Kraft bleiben und den Ministerpräsidenten stellen würden. Aus demselben Grund entschlossen sich Wähler in Rheinland-Pfalz, die eigentlich die Grünen favorisierten, zur Stimmabgabe für die SPD, weil sie eine Große Koalition für wahrscheinlich hielten. Wären die Grünen dadurch unter die Fünf-Prozent-Hürde gedrückt worden, hätte es rechnerisch keine Alternative zu einem Zusammengehen von Rot und Schwarz gegeben.

Was für Minderheitsregierungen spricht

Die Bildung von lagerübergreifenden Dreierbündnissen könnte zweitens dadurch unterstützt werden, dass die mehrheitsbeschaffende Partei nicht förmlicher Teil der Regierung wird, sondern diese lediglich stützt beziehungsweise toleriert. Die Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt (1994–2002) und Nordrhein-Westfalen (2010 –2012) haben die Funktionsfähigkeit von Minderheitsregierungen bestätigt. Darüber hinaus verbinden sich mit ihnen speziell auf der Landesebene weitere Vorteile: Zum einen beleben sie den dort zunehmend verkümmerten Parlamentarismus, indem sie die Entscheidungsprozesse von der exekutiven in die parlamentarische Arena verlagern. Zum anderen erleichtern sie es, systemkritische Parteien wie die Linkspartei und demnächst vielleicht die AfD in die Regierungsverantwortung einzubeziehen. Dies hat auch damit zu tun, dass die Tolerierungspartner anders als bei einer förmlichen Koalition keinen direkten Einfluss auf das Verhalten der Landesregierung im Bundesrat nehmen können.

Wenn Minderheitsregierungen, weil sie mit der strikten Mehrheitslogik des parlamentarischen Systems brechen, den Eigenarten der Länderpolitik auf diese Weise entgegenkommen, könnte man drittens überlegen, ob man die parlamentarische Regierungsform in den Bundesländern nicht ganz zur Disposition stellt. Die Alternative wäre ein System nach dem Vorbild der reformierten Kommunalverfassungen, die heute eine direkte Wahl des Regierungschefs (Bürgermeisters) parallel zur Wahl der Stadt- oder Gemeinderäte vorsehen. Auf die Länderebene übertragen hätte dies nicht nur den Vorteil, dass es der überragenden Bedeutung des Persönlichkeitsfaktors bei der Ministerpräsidentenwahl besser entsprechen und gleichzeitig die Unabhängigkeit des Landtages gegenüber der Regierung stärken würde. Es trüge auch dazu bei, die notorische Überlagerung der Landes- durch die Bundespolitik zurückzudrängen, die nicht zuletzt den Zwängen der Koalitionspolitik geschuldet ist.

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