Türken in Deutschland: Loyalität per Dekret?

Angela Merkel verlangt von den Türkeistämmigen mehr Loyalität zu Deutschland. Doch das Gefühl von Zugehörigkeit lässt sich auf diese Art nicht erreichen

Die Türkei ist uns in Deutschland näher, als wir es manchmal wahrhaben wollen. Zum einen leben schon seit mehreren Generationen rund drei Millionen Türkeistämmige hier, zum anderen müssen wir im politischen Alltag immer drängender mit der Türkei kooperieren – sei es in der Flüchtlingskrise, bei der Sicherung der EU-Außengrenzen oder im Dialog mit der islamischen Welt. Europa kann einem Teil seiner politischen Verantwortung nur nachkommen, wenn es die Türkei angemessen berücksichtigt. Diese Ausgangslage hat seit Juli 2016 an Komplexität und Spannung gewonnen. Denn der gescheiterte Putschversuch in der Türkei und die Reaktionen darauf führten eindrücklich vor Augen, wie gespalten die türkische Gesellschaft ist. In der Folge wurde auch – zum wiederholten Male – die Frage der Integration von Türkeistämmigen in Deutschland aufgeworfen: Wie kann es sein, dass hier aufgewachsene junge Türken auf Veranstaltungen AKP-naher Organisationen türkische Fahnen schwenken und aus ihrer Begeisterung für den türkischen Staatspräsidenten keinen Hehl machen? Läuft hier etwas falsch mit der Integration oder sind unsere Annahmen einer allmählichen Angleichung von Einheimischen und Zugewanderten fehlgeleitet?

Beide Aspekte, die Spaltung der türkeistämmigen Community und die angenommenen Integrationsdefizite, hängen in gewissem Maße miteinander zusammen. Das wird nicht nur bei den zahlreichen Demonstrationen pro und kontra Erdog˘ an sichtbar, sondern auch im Wahlverhalten: Einerseits verzeichnet die AKP bei den hier lebenden Türken eine Wählerschaft von 50 bis 70 Prozent, die somit etwas höher liegt als in der Türkei (weshalb Deutschland ein begehrter Wahlkampfort für AKP-Politiker ist). Andererseits erfährt die oppositionelle, eher linksliberale und den Kurden nahestehende HDP hierzulande ebenfalls starke Unterstützung (rund 16 Prozent). Die türkische Sozialdemokratie (CHP) als zweitstärkste Kraft in der Türkei spielt in Deutschland hingegen kaum eine Rolle.

Diese Differenzen der parteipolitischen Präferenzen lassen sich in erster Linie mit den unterschiedlichen Migrationswellen aus der Türkei nach Deutschland erklären: In der ersten Phase der Migration rekrutierten sich die damaligen „Gastarbeiter“ eher aus der ländlichen Bevölkerung, die weitgehend konservativ-islamisch war. Sie organisierten sich mit der Zeit in Moscheevereinen und bilden heute das zentrale Wählerreservoir der AKP in Deutschland. In der zweiten größeren Migrationswelle, während und nach dem Militärputsch von 1980, kamen verstärkt Menschen mit einer eher linken politischen Gesinnung oder aus den kurdischen Gebieten, die in Deutschland Asyl suchten. Heute stellen neben linksliberalen Intellektuellen kurdische und auch alevitische Gemeinden die größten Unterstützungspotenziale für die HDP dar.

Günstige Bedingungen – das wäre mal eine Idee!

Außerdem führen transnationale Netzwerke, Freundschaften und familiäre Beziehungen in die Türkei sowie ethnisch-kulturelle Rückbesinnungseffekte bei jungen Deutsch-Türken zu einer stärkeren Ideologisierung des Lebens in der Diaspora. Die räumliche Distanz und der fehlende Bewährungsdruck für die Ideologie im Alltag nähren die Identifikation und Stilisierung der „heimatlichen Größe und Macht“.

Genau in dieser Situation fordert die Bundeskanzlerin etwas aufgeschreckt mehr Loyalität mit Deutschland, mit dem Land, in dem die Türkeistämmigen doch die meiste Zeit ihres Lebens verbringen. Doch was ist von so einem Appell zu halten? Man kann ihn geflissentlich ignorieren oder als wahltaktisches Manöver einordnen, um Rechtsgesinnte in der CDU nicht an die AfD zu verlieren. Man kann aber auch fragen, warum nur Türkeistämmige zu Loyalität aufgerufen werden, und dies als Teil des gegenwärtigen Türkei-Bashings bewerten. Doch wenn wir die Forderung ernstnehmen und überlegen, wie Loyalität als eine emotionale Haltung durch äußere Intervention erreicht werden soll, wird die Hilflosigkeit und Widersinnigkeit eines solchen Aufrufs deutlich. Die Aufforderung, beispielsweise jemanden zu lieben, gibt doch keine Gewähr dafür, dass man den anderen auch tatsächlich liebt. Man kann allenfalls die Bedingungen günstig gestalten, freundliche Begegnungen organisieren und Hindernisse aus dem Weg räumen.

Die Forderung erinnert an die Debatte, dass Flüchtlinge doch schleunigst unsere Werte annehmen müssten. Aber Werte lassen sich nicht einfach wie ein Implantat in den mentalen Haushalt der Zugewanderten einpflanzen oder per Dekret verordnen. Werte sind kein kognitives Weltwissen, das revidiert, erlernt und unmittelbar in Handeln übersetzt wird. Sie können nur in gemeinsamen Erfahrungs- und Begegnungskontexten individuell angeeignet werden; und sie werden meist erst dann relevant, wenn es Konflikte gibt und nicht, wenn das Handeln reibungslos abläuft. So gesehen bieten gerade diskursive Konflikte um angeblich „illoyale Türken“ gute Anlässe, Werte – also auch Loyalitätsbindungen – zu thematisieren und ihre unbewusste Vermittlung in Interaktionen und Handlungen auf die Ebene des Bewusstseins zu heben. Nachhaltige Wertbindungen sind nämlich nur jene, die von den Individuen bewusst übernommen und anerkannt werden. Kennzeichen einer „reifen“ Wertebindung sind Autonomie im Handeln und Entscheiden des Einzelnen – und nicht die Reaktionen auf sozialpolitischen Druck.

Was kann also politisch getan werden? Die Kenntnis der Werte kann erleichtert werden; es kann auf ihre Gültigkeit hingewiesen und um sie geworben werden. Dabei ist es jedoch nicht hilfreich, die Ziele und Wege wertgeleiteten Handelns paternalistisch von „oben“ vorzugeben. Insofern laufen Forderungen nach mehr Loyalität psychologisch ins Leere. Um unterschiedliche Werte zu erfahren, sie auszuhandeln, braucht es Begegnungen und Gespräche auf einer vertrauensvollen Grundlage. Genau daran scheint es in Deutschland aber gegenwärtig zwischen Einheimischen und Türkeistämmigen zu mangeln.

Auf die Chancengleichheit kommt es an

Es ist in der Integrationsforschung eine Binsenweisheit, die aber immer wieder genannt werden muss: Die zentrale Voraussetzung für eine Identifikation von Zuwandern mit Deutschland bilden im Wesentlichen die staatsbürgerliche, soziale und kulturelle Gleichberechtigung sowie ihre Akzeptanz. Solange wir in der Gesellschaft offenen oder subtilen Rassismus, racial profiling und Diskriminierungen in der Arbeitswelt dulden, fällt die Identifikation schwer. Denn unter solchen Bedingungen erscheint sie auch widersinnig: Warum, so fragen sich „Ausgegrenzte“, sollten sie die Normen und Werte jener Gruppe teilen, die sie gar nicht in ihrer Mitte haben will? Diskriminierungserfahrungen erzeugen vor allem bei bereits gut integrierten Zuwanderern das Gefühl, dass ihnen trotz ihrer hohen Integrationsleistungen die Zugehörigkeit und Akzeptanz verweigert wird.

Gleichbehandlung, Chancengleichheit und der Schutz vor Diskriminierung sind wesentliche Voraussetzungen für eine Gesellschaft, die Vielfalt als Gewinn betrachtet. Loyalitäten und Identifikationen sind kein Nullsummenspiel: Individuen können sich sowohl mit der Herkunfts- als auch mit der Aufnahmegesellschaft identifizieren und je nach Lebenssituation zwischen beiden wechseln.

Eine empirische Studie in Berlin stellte bereits vor Jahren fest, dass türkeistämmige Jugendliche bei den Bemühungen um ethnisch-kulturelle Abgrenzung höhere Werte aufwiesen als ihre Mütter. Dieser Befund ist zunächst kontraintuitiv, weil wir stets annehmen, dass in der Nachfolgegeneration der Zuwanderer die Bereitschaft zur Offenheit und Angleichung an die Mehrheitsbevölkerung größer ist; vor allem, weil sie durch die unausweichlichen Kontakte in der Schule eine höhere Interaktionsdichte zu Deutschen hat als ihre Elterngeneration. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass gerade Jugendliche durch die häufigen Kontakte öfter auch Prozessen des „Othering“, Zuschreibungen des Andersseins („Du bist ja ein Türke“), ausgesetzt sind und als Reaktion ihrerseits stärker das Bedürfnis verspüren, sich abgrenzen zu müssen, offensiver die Differenzen zu betonen, und die als „typisch“ für die „türkische Kultur“ unterstellten traditionellen Werte verteidigen zu müssen. Vor einigen Jahren haben niederländische Forscher einen ähnlichen Befund herausgearbeitet, den sie als „Paradox der Integration“ beschrieben haben: Bei den dort befragten ethnischen Gruppen (Türken, Marokkaner, Surinamesen) hatten vor allem die besser gebildeten und besser integrierten Migranten (mit einer hohen Kontaktdichte zu Einheimischen) weniger positive Einstellungen zur Aufnahmegesellschaft, weil sie deutlich sensibler sind gegenüber gesellschaftlicher Diskriminierung und verweigerter Zugehörigkeit. Ein weiterer Grund lautete, dass sie die – ähnlich wie in Deutschland – zum Teil gehässig verlaufenden Diskurse über Erwünschtheit und Integration von Zuwanderern aufmerksamer verfolgen.

Statt uns also über fehlende Loyalitäten zu beklagen, sollten wir vielmehr schauen, wie wir Zugehörigkeiten stärken können. Unerlässlich sind hierzu vor allem eine aktive Antidiskriminierungspolitik in den zentralen gesellschaftlichen Feldern wie Arbeit, Bildung, Wohnen und in Behörden sowie eine glaubwürdige Kommunikation über die Chancen von Zuwanderung für die Aufnahmegesellschaft. Auch die politische Partizipation von Zuwanderern sollte gestärkt werden. Für viele Türkeistämmige erscheinen diese Bemühungen aber derzeit nicht authentisch genug zu sein angesichts der Vorbehalte in Deutschland gegen einen EU-Beitritt der Türkei oder gegen die Visafreiheit für türkische Bürger.

Der Begründer der philosophischen Hermeneutik, Hans-Georg Gadamer, formulierte die Bedingungen für das Gelingen eines Dialogs sehr klar: „In den Dialog eintreten heißt, eingestehen, dass auch der andere Recht haben kann.“ Solange wir diese Maxime nicht ernstnehmen, wird die Kluft zwischen Einheimischen und Zugewanderten kaum geschlossen werden.

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