Triumph der Sesshaften

Die bodenständigen Wahlsieger in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg haben vorgeführt, wie Modernisierung heute gemacht werden muss. Für den sozialdemokratischen Wahlkampf 2002 lässt sich daraus eine Menge lernen

Die beiden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben nicht nur landespolitische Akzente gesetzt. Mit zeitlicher Platzierung eingangs der Zielkurve zur Bundestagswahl 2002 liefern die Ergebnisse aus dem Südwesten auch einige Hinweise auf die sich anbahnende bundespolitische Gefechtslage, die in den Hauptquartieren der Parteien sorgfältig analysiert werden sollten. Dabei fallen die Zwischenbilanzen aller Parteien keineswegs einheitlich aus - auch nicht für die Sozialdemokraten, die in beiden Ländern ihren Stimmenanteil deutlich erhöhen konnten. Neben aufmunternden Signalen gibt es immer auch Anzeichen einer prekären Stellung am Wählermarkt.


Sowohl in Baden-Württemberg als auch in Rheinland-Pfalz ging es bei den Wahlen vom 25. März um zwei Probleme, die auch im Herbst 2002 über den Wahlausgang entscheiden werden. Zum einen waren die Landtagswahlen Probeläufe zur Frage, mit welchen Modernisierungsstrategien Regierungen und Parteien zum Erfolg kommen können. Dabei soll hier Modernisierung - bewusst in weitem Sinne - als Umbau tradierter Sozial- und Transfersysteme sowie als Aufbau von Ermöglichungsstrukturen etwa in Bildungswesen und Wirtschaft verstanden werden. Zum anderen konnte man beobachten, in welchem Maße die Parteien zur Mobilisierung ihrer Wählerpotentiale im Stande sind. Beides zusammen - erfolgreiche Modernisierung und daraus folgende Mobilisierung - ergibt die Erfolgsformel für die Bundestagswahl.

Bedächtigkeit und Bienenfleiß

Die folgende Skizze soll ein paar Fingerzeige für die Positionierung der SPD geben. Dabei geht es zunächst um die Frage nach einem für die Sozialdemokratie adäquaten Verständnis von Modernisierung, dann um das Problem der Mo-bilisierung von Wählerpotentialen.


Zunächst also zur Modernisierung. Hier fällt auf, dass beide Wahlsieger - der sozialdemokratische Ministerpräsident Kurt Beck wie sein christdemokratischer Amtskollege Erwin Teufel - bei allen Unterschieden ihrer persönlichen politischen Profile eines gemeinsam haben: Sie zählen nicht zu den strammen Modernisier-ern. Vielmehr verkörpern sie in ihren Lebensläufen, in Habitus und Stil die eher traditionellen Bereiche ihrer Parteien. Für Erwin Teufel mit seinem bedächtigen Konservatismus und den Einflüssen der katholischen Soziallehre trifft das zu, ebenso für Kurt Beck, der seine Wurzeln in der Gewerkschaftsbewegung hat und seine Prägung durch die sozialdemokratische Kommunalpolitik mit einer für seine politischen Gegner nahezu beängstigend bienenfleißigen Präsenz vor Ort verbindet. Hinzu kommt bei beiden Wahlsiegern - unüberhörbar - eine ausgeprägte Bodenständigkeit. Das schwarzwälderische und pfälzische Element sind auch bei Ausflügen auf die Bundesebene stets gegenwärtig gewesen. Kurzum, die Wahlsieger im Südwesten sind Spezialisten für Bodenhaftung.

Die Eliten sind heute heimatlos

Diese Porträtskizzen sollen nun nicht die guten alten Zeiten verklären, als Politiker noch echte Kerle waren und die Milieus, den Parteien vorgelagert, schier unerschöpfliche Reservoirs an politischen Führern mit passendem Stallgeruch. Gleichwohl kann die anti-modische Eigentümlichkeit von Teufel und Beck für einen Trend zunehmender Entwurzelung und Heimatlosigkeit sensibilisieren, der sich seit etwa drei Jahrzehnten in den deutschen Parteien bemerkbar macht. Professionalisierung der Politik, Ausrichtung der politischen Eliten auf Parteigremien, Schrumpfung der traditionellen Milieus, Fixier-ung der Politiker auf eine von sozialen Wurzeln weitgehend abgetrennte Medienwelt: Soziologen und Politologen bieten plausible Erklärungen für die "Heimatlosigkeit der Macht" der Parteien und ihrer Eliten an. Der Marsch der Gesellschaft in die Modernisierung wird dadurch schwierig, denn das Zutrauen in die politischen Führer droht schneller brüchig zu werden, wenn sie zunehmend weniger mit den Lebenswelten und Gefühlslagen der Wähler zu tun haben, wenn selbst ihre politischen Masken und Rolleninterpretationen die Menschen nicht mehr an gemeinsame Lebenslagen erinnern.


Dieses traditionalistische Profil der beiden Ministerpräsidenten hebt sich deutlich von den objektiven Parametern der Modernisierungsschübe und dem gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungsstand ihrer Länder ab. Baden-Württemberg zählt seit langem zu den prosperierendsten Wirtschaftsregionen Deutschlands. Hier hat sich bereits in den sechziger Jahren - ähnlich wie in Bayern - eine durchgreifende Industrialisierung und danach die Entstehung eines modernen Dienstleistungssektors vollzogen, allerdings in weichen, die dörflichen und kleinstädtischen Strukturen kaum verändernden Formen. Gäbe es in Baden und Württemberg nicht andere Trachten - der Slogan "Laptop und Lederhose" könnte von hier sein. Eine ähnliche Entwicklung hat sich während der zehn Jahre sozialdemokratisch geprägter Landespolitik in Rheinland-Pfalz vollzogen.


Rheinland-Pfalz, einst als "Land der Reben und Rüben" verschrien und wegen seiner Militärstandorte als "amerikanischer Flugzeugträger" bekannt, hat nach den dramatischen Truppenreduzierungen zu Beginn der neunziger Jahre eine erfolgreiche Konversionspolitik betrieben. Nachdem der Niedergang traditioneller Industrien wie etwa der Schuhfabrikation in der Pfalz weitgehend aufgefangen werden konnte, hat Rheinland-Pfalz inzwischen die drittniedrigste Arbeitslosenquote aller Bundesländer. Auch in Rhein-land-Pfalz hat sich der wirtschaftliche Wandel zumeist ohne Umbruch der gewachsenen Sozial- und Siedlungsstrukturen als weiche Modernisierung vollzogen.

Modernisierung als Kulturleistung

Im einen wie im anderen Fall bestand und besteht die strategische politische Leistung der führenden Landespartei darin, diese Modernisierungen so behutsam und unter Rücksicht auf die Traditionen, Vorbehalte und Vorurteile in der Bevölkerung zu inszenieren, dass die Anhängerschaft bei der Fahne bleibt und die Parteien selbst durch die behutsame Modernisierung den Status einer strukturellen Mehrheits- und Landespartei erringen. Diesen Status als Landespartei hat die CDU in Baden-Württemberg eindrucksvoll verteidigt. Und die SPD unter Kurt Beck ist drauf und daran, ihn in der vormaligen CDU-Bastion Rheinland-Pfalz zu erobern.


Erfolgreiche Modernisierungspolitik - das zeigen Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz - vollzieht sich also nicht zuvörderst durch die Leistung entsprechend kalibrierter Politiker in einzelnen Themenfeldern. Sie hängt vielmehr wesentlich von einer angemessenen Interpretation der einzelnen Modernisierungsschritte im Rahmen der jeweiligen politischen Traditionen der einzelnen Parteien und auch von überzeugenden symbolischen und personellen Inszenierungen ab. Erfolgreiche Modernisierungspolitik ist also weniger die brachiale Durchsetzung objektiver Modernisierungserfordernisse als eine dialogische Aktivität, ja eine Kulturleistung.

Die Panik vor der Beschleunigung

Der Dialog findet dabei im übrigen unter zwei erschwerenden Bedingungen statt, die man leicht übersieht. Zum einen verleitet die positive bis euphorische Haltung gegenüber fast allen Formen der Modernisierung, wie sie etwa in Zeitungskommentaren und anderen öffentlichen Stellungnahmen zum Ausdruck kommt, zu dem Fehlschluss, diese Modernisierungsbereitschaft der Eliten finde breitesten Rückhalt in der Bevölkerung. Qualitative Befragungen offenbaren ein anderes Bild, vor allem bei den potentiellen Anhängern der Sozialdemokratie: Unter einer dünnen Firnis pauschaler Modernisierungszustimmung zeichnen sich auf nahezu allen wichtigen politischen Bereichen - Gesundheitspolitik, Rentenpolitik, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik - zahlreiche Vorbehalte und Befürchtungen ab, die sich sehr schnell zu politischer Panik verdichten können.


Auch ein zweites Datum unterstreicht die Notwendigkeit, anstehende Modernisierungen behutsam zur Sprache zu bringen. Der Altersaufbau der Wählerschaft ist inzwischen so eindeutig von den älteren, bereits zu Zeiten des traditionellen bundesrepublikanischen Wirtschafts- und Sozialsystems aufgewachsenen Generationen geprägt, dass hier nach aller Erfahrung ein hochwirksames Element von Erwartungs- und Strukturkonservatismus als Widerpart zu tiefergreifenden Veränderungen ins Spiel kommt. Nur noch gerade 5 Prozent der Wähler bei den Landtagswahlen waren jünger als 25 Jahre; über 30 Prozent dagegen älter als 60 Jahre. Und die Altersgruppen derjenigen, die älter als 45 Jahre sind und im Hinblick etwa auf den Arbeitsmarkt schon als Problemgruppen gelten müssen, umfasst mittlerweile volle zwei Drittel der Wählerschaft. Auch unter ihnen lösen Modernisierungsfanfaren keine spontane Begeisterung aus.


Dies alles soll nicht in ein Plädoyer für politischen Stillstand münden, sondern aufzeigen, dass der Marsch in die Modernisierung immer ein Marsch über dünnes Eis ist. Und genau hier fügen sich die Porträtskizzen Teufels und Becks und die weichen Modernisierungsverläufe in beiden Ländern zu einem schlüssigen Bild zusammen. In beiden Fällen gelang es den Regierungschefs, auf der Grundlage der jeweiligen christlich-konservativen und sozialdemokratischen Traditionen und der Gegebenheiten des Landes Modernisierung autoritativ zu interpretieren und so klare Mehrheiten zu gewinnen.

Ute Vogt holte, was zu holen war

Dass Teufels Sieg bei diesem Unterfangen weniger spektakulär wirkte als der Erfolg Becks hat im Wesentlichen mit den Unterschieden der jeweiligen Oppositionsstrategien und -kandidaten zu tun. In Baden-Württemberg liess eine junge und charmante Herausforderin den Minister-präsidenten im eigentlichen Sinne alt aussehen. Ute Vogt holte so ziemlich alles an Stimmen heraus, was durch eine Personality-Kampage herauszuholen war. So gelang es ihr, die baden-württembergische SPD aus ihrer desolaten Diasporalage zu befreien und in die landespolitische Satisfaktionsfähigkeit zurückzuführen. Gleichwohl war das Fundament an Zufriedenheit mit der Landespolitik und den Zuständen im "Ländle" zu solide, als dass die Vorherrschaft der CDU durch den von Ute Vogt glänzend mobilisierten "Flirt-Faktor" ernsthaft zu gefährden gewesen wäre.


In Rheinland-Pfalz hatte Kurt Beck wesentlich leichteres Spiel. Sei christdemokratischer Gegenkandidat Christoph Böhr galt während des gesamten Wahlkampfes selbst unter CDU-Anhängern als blass und konnte zu keiner Zeit an die Sympathie- und Kompetenzwerte des Ministerpräsidenten heranreichen. Zudem verstrickte sich die CDU in einer konfusen Kampagne und zeigte wieder einmal, dass sie landespolitisch auch ein Jahrzehnt nach dem Verlust der Regierungsmacht in Mainz noch nicht wieder auf die Beine gekommen ist.

Behutsamkeit statt Nonsens

Aber diese Unterschiede im Geschick der Oppositionen beider Länder sollten den Blick für drei zentrale Botschaften aus der Doppelwahl vom 25. März nicht verstellen: Modernisierung sollte im Kontext der politischen Traditionen der Parteien interpretiert und inszeniert werden, um nicht Entfremdung bei den Anhängern zu erzeugen. Modernisierung sollte auch in ihren Auswirkungen auf die Lebenswelten in der Provinz bedacht werden, damit sie nicht im Glanzlicht medialer Impressionen und aus der fernen Perspektive Berlins falsch eingeschätzt wird. Modernisierung als politische Gestaltungsaufgabe bedarf heute mehr denn je behutsamer und verlässlicher Führung; gerade die Sozialdemokratie mit ihrer krisenanfälligen Klientel ist auf jenen Typus politischer Führung angewiesen, den die Amerikaner no-nonsense leadership nennen.


Die Landtagswahlen vom 25. März vermittelten neben den Lehrstücken über erfolgreich vermittelte Modernisierungspolitik auch Einblicke in die Mobilisierungsprobleme, die sich vor allem für die beiden großen Parteien im Blick auf die Bundestagswahl 2002 stellen werden. Nun zählt die Interpretation der Wahlbeteiligung und ihrer Schwankungen zu den schwierigsten Aufgaben der Wahlforschung. Diese Schwierigkeit geht auf drei Ursachen zurück. Zum einen gibt es zwar eine Reihe von Faktoren wie Bildung, Status, Lebensalter, soziale Integration und politisches Interesse, die als zuverlässige Bestimmungsfaktoren für die Bereitschaft zum Wählen gelten können. Daneben jedoch sind Motivlagen untersucht worden, deren Wirkungen überaus widersprüchlich sein können. So kann etwa politische Unzufriedenheit mal zu gesteigerter Wahlbereitschaft, mal zu Wahlenthaltung führen. Ähnliches gilt für die Auswirkung des erwarteten Wahlausgangs auf die Wahlbereitschaft: Einige Anhänger der Partei, die als Sieger erwartet wird, bleiben im Gefühl des sicheren Sieges zu Hause, andere wollen die Chance, auf Seiten der Gewinner zu sein, nicht verpassen und beziehen aus Siegesprognosen zusätzliche Motivation zum Urnengang.


Zum zweiten wird die Erforschung der Wahlbeteiligung dadurch erschwert, dass bei der Frage nach den Gründen für das Wählen viele Befragte "mogeln": Wählen gilt vielen als demokratische Pflicht, und dass man diese Pflicht versäumt hat, gibt man ungern zu. Folglich behaupten viele Befragte, die zu Hause bleiben, doch zur Wahl gegangen zu sein. Oder sie "basteln" sich Erklärungen, die ihre Wahlabstinenz rechtfertigen soll. Dies hat die auf Umfragen gestützten Befunde zur Wahlbeteiligung ungenauer gemacht als die Ergebnisse zum Wahlverhalten selbst.


Drittens schließlich hat sich gerade in Deutschland in den letzten Jahren die Bewertung des Wählens als Zeichen demokratischer Reife und Bürgertugend ziemlich verändert. Zu Recht haben Wahlforscher darauf hingewiesen, dass die im internationalen Vergleich sehr hohe Wahlbeteiligung etwa in der Weimarer Republik, aber auch noch in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik viel eher der Ausdruck von treu befolgter Bürgerpflicht als von demokratischen Teilhabewünschen gewesen ist. Umgekehrt lässt diese Interpretation den Schluss zu, die seit den siebziger Jahren abstinkende Wahlbeteiligung, gerade bei den jüngeren Generationen, sei kein Krisensymptom, sondern Zeichen demokratischer Normalisierung.

Wer nicht mobilsiert, der verliert

Das Zusammenspiel all dieser Gründe macht es schwierig, die bei den beiden Landtagswahlen gesunkene Wahlbeteiligung pauschal als "zu niedrig" oder als "krisenhaft" zu bewerten, wie dies in einigen Kommentaren gleich nach der Wahl geschah. Allerdings lassen sich zwei politisch bedeutsame Mobilisierungsprobleme sehr wohl in der Struktur von Wahlenthaltungen am 25. März erkennen. Dies sind zum einen die Mobilisierungsverluste der CDU vor dem Hintergrund der normalerweise zu erwartenden zyklischen Schwankungen zwischen zwei Bundestagswahlen, zum anderen die seit 1999 fortdauernde Mobilisierungsschwäche der SPD bei ihrem Wählerpotential in der unteren Hälfte der Sozialpyramide.


Zunächst zu den Mobilisierungsschwierigkeiten der CDU. Für die Bundesrepublik hat sich - wie für andere westliche Demokratien - eine Gesetzmäßigkeit eingependelt, nach der die im Bund regierende Partei bei Landtagswahlen zur Mitte der Legislaturperiode mit Einbußen rechnen muss. Umgekehrt kann die Opposition Gewinne erwarten. Dieser electoral cycle und seine midterm effects beruhen wesentlich auf unterschiedlicher Mobilisierung der Anhängerschaften. In der Vergangenheit gelang es in aller Regel der Opposition im Bund besser, ihr Wählerpotential zu Midterm-Zeiten zu mobilisieren, als dies der führenden Regierungspartei gelang. Infolge dieser Mechanik ist es zwischen 1969 und 1982 zu etlichen spektakulären Erfolgen der CDU bei Landtagswahlen gekommen - und umgekehrt zu entsprechenden sozialdemokratischen Siegen in den 16 Jahren der Ära Kohl.

Apathisch dümpelt die Union dahin

Vor diesem Hintergrund war auch nach dem Regierungswechsel von 1998 ein Erstarken der CDU bei Landtagswahlen wahrscheinlich, und in der Tat entsprachen die CDU-Erfolge im Verlaufe des Jahres 1999 im Wesentlichen den aufgrund besserer Mobilisierung der eigenen Wählerpotentiale zu erwartenden Gewinnen. Diese Mobilisierungsvorteile sind jedoch wegen der lähmenden Effekte der christdemokratischen Spendenaffären weitgehend neutralisiert worden. Sowohl in den Landtagswahlen des Jahres 2000 als auch in den beiden Landtagswahlen am 25. März konnte die CDU weite Teile ihrer Anhängerschaft nicht mobilisieren und blieb so deutlich hinter den Möglichkeiten zurück, die sich aus der für die Union strategisch günstigen Terminierung der Wahlen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz innerhalb des electoral cycle geboten hätten. Selbst der deutliche Sieg der CDU in Baden-Württemberg nach Stimmenanteilen täuscht über die Mobilisierungsmalaise der Union hinweg, die sich in ihrem Ausmaß erst bei einem Blick auf die Entwicklung der Anteile der Stimmen an der Gesamtheit der Wahlberechtigten offenbart.


Das Ausbleiben der Mobilisierungsgewinne in der günstigen Phase des electoral cycle kann für die CDU im Blick auf die Bundestagswahl schwere Folgen haben, weil damit zugleich der Aufbau einer Erfolgsdynamik auf die Bundestagswahl hin zum Erliegen kommt: Die Union dümpelt seit dem Spendenskandal reglos in einer weitgehend apathischen Unionswählerschaft vor sich hin, und es ist ungewiss, ob sie aus dieser lähmenden Flaute herausfindet.

Die SPD braucht die kleinen Leute

Freilich: Für die SPD besteht im Hinblick auf 2002 wenig Grund zu frohlocken. Sie hat selbst seit den Wahlen des Jahres 1999 mit der hartnäckigen Wahlabstinenz eines wesentlichen Teils ihrer Anhänger aus den unteren Schichten zu kämpfen. Diese Wahlunlust hat sich bei den Landtagswahlen am 25. März erneut gezeigt. Die Enthaltungen dieses wichtigen Teils des SPD-Potentials können sich durchaus zu einer Bedrohung des Bundestagswahlsieges 2002 ausweiten. Denn ohne die erfolgreiche Mobilisierung der kleinen Leute wird die SPD eine Bundestagswahl nicht gewinnen.


Die Gründe für die Mobilisierungsprobleme der SPD in diesem strategisch bedeutsamen Wählersegment hängen wesentlich mit dem Verständnis und der Kommunikation von Modernisierungspolitik zusammen, die von der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung seit 1999 vorangetrieben wird, mit einer Politik also, die aus einem Mix aus Haushaltskonsolidierung, Rück- und Umbau wesentlicher Teile der sozialen Sicherungssysteme, Stimulierung privater Vorsorge und der Bereitstellung günstiger Bedingungen für Unternehmen besteht. Diese Politik kollidiert - zumindest in relevanten Bereichen - mit den auch in Deutschland, und vor allem in den neuen Bundesländern, langfristig gewachsenen wohlfahrtsstaatlichen Orientierungen. Sie genügt nicht der breiten Erwartung einer staatlichen, am Prinzip von Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich ausgerichteten Interventionspolitik. Verschiedene Studien aus den letzten Jahren belegen eindrucksvoll, dass die Verankerung dieser gesellschaftspolitischen Einstellungen in breiten Bevölkerungsschichten weitaus stabiler ist, als der zuweilen von einem wahren "Modernisierungsschwips" getragene öffentliche Diskurs in den Medien und unter den Eliten vermuten lässt - übrigens auch in Berufsgruppen, die der so genannten Neuen Mitte zugerechnet werden.


1998 beruhte der Wahlerfolg der SPD neben dem reizvollen Kontrast zwischen dem Auslaufmodell Helmut Kohl und dem dynamischeren Gerhard Schröder vor allem auf der überzeugenden - damals vom Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine auch personalisierten - Inszenierung des Konflikts zwischen den Anhängern einer Gerechtigkeits- und Sozialstaatsideologie und den Gegnern wohlfahrtsstaatlicher Orientierungen. Dieser für den Wahlsieg entscheidende, auf gesellschaftlichen Strukturen beruhende Erfolgsfaktor ist in den Monaten danach leider aus dem Blick geraten. Er spielte angesichts der auch bei SPD-Führern verbreiteten Modernisierungseuphorie keine große Rolle mehr und wurde nach Lafontaines Abgang auch nicht mehr signifikant personifiziert.

Ganze Quartiere klinken sich aus

Für die Anhänger des Sozialstaatsgedankens ist dieser Wandel in der öffentlich sichtbaren Priorität des Gerechtigkeitsmotivs eine wesentliche Ursache ihrer hartnäckigen Distanz zur SPD. Dabei wird von sozialdemokratischen Wahlkampfstrategen diese Distanz immer noch unter der Prämisse diskutiert, die jetzt noch Zögerlichen seien 2002 wieder für die Sozialdemokratie zu mobilisieren. Das ist aber längst nicht ausgemacht. Wir kennen aus anderen Ländern politische Entfremdungs- und Marginalisierungstendenzen, die auf die dauerhafte Abkopplung ganzer Segmente der Wählerschaft vom demokratischen Wettbewerb hinauslaufen.


Wenn in Nordrhein-Westfalen oder selbst in Rheinland-Pfalz in vielen städtischen Quar-tieren bis zu 70 Prozent der Wahlberechtigten über Jahre hinweg dem Wahlgeschehen fernbleiben, klingt es sehr wie Pfeifen im dunklen Wald, dies einfach nur als Mobilisierungsdefizit zu bezeichnen. Ganz offensichtlich besteht hier ein enger Zusammenhang zwischen dem breit kommunizierten Modernisierungsverständnis und der schleppenden Mobilisierungsbereit-schaft, der auch durch landespolitische Impulse nicht ohne weiteres aufzubrechen ist.

"Alles Schröder" wird nicht reichen

So gleichen die beiden großen Parteien in der zurückliegenden Sequenz von Landtagswahlen hinsichtlich ihrer Mobilisierungsfähigkeit zwei geschwächten Boxern: Während die Union auf wackligen Beinen durch den Ring tappt, versagt der SPD die bewährte Schlaghand.


Für die bevorstehende Bundestagswahl ergeben sich aus den Erfahrungen vom 25. März für die SPD einige einfache, bei genauerem Hinsehen jedoch delikate Konsequenzen. Die von der Bundesregierung mit Dynamik inszenierte Modernisierungspolitik sollte daraufhin überprüft werden, ob und unter welchen kommunikativen Bedingungen sie in sozialdemokratische Traditionen einzubauen ist. Nur so kann sie im Wahlkampf für inhaltlichen Schub sorgen. Dabei wird die Frage nach der Platzierung des altvertrauten sozialdemokratischen Topos vom Wohlfahrtsstaat eine ausschlaggebende Rolle spielen. Denn nur durch die erneute Bestätigung und Festigung des Vertrauens in den Wohlfahrtsstaat gerade unter Wählern aus den unteren Schichten wird sich für diese strategisch bedeutsame Wählergruppe eine Brücke aus der momentanen Indifferenz hin zur Stimmabgabe für die SPD zimmern lassen.


Nach der Devise "Alles Schröder" allein auf die unspezifische Popularität des Kanzlers zu hoffen wäre zu riskant; denn - so sagen Wahlforscher etwas gestelzt - Kandidaten wirken erst im Kontext. Das heißt: Nur im Einklang mit den Traditionen der Sozialdemokratie und auf der Basis einer zugkräftigen Aktualisierung historisch gewachsener Konfliktmuster in der Wählerschaft kann ein erfahrener und glänzender Wahlkämpfer wie Gerhard Schröder seine Popularität für die SPD in die Waagschale werden. Nur dann wird Modernisierung auch politische Mobilisierung erzeugen.

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