Transformation statt Status quo

Die Kontroversen zwischen Koalition und Opposition in der "Wachstumsenquete" des Bundestages zeigen, wie verschieden die Vorstellungen von der Zukunft unserer Gesellschaft sind: Wo die einen das meiste prima finden, wünschen sich die anderen Fortschritt

Vor ziemlich genau zwei Jahren begann die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ damit, einen neuen Wohlstandsbegriff zu beschreiben. Heute ist sich das Gremium fraktionsübergreifend einig, dass die alte Gleichung „Mehr Wachstum gleich mehr Wohlstand“ ihre Gültigkeit verloren hat. Wohlstand ist mehr als der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und muss ganzheitlich erfasst werden.

Die Kommission schlägt ein so genanntes Wohlstandstableau vor, mit dem Wohlstand und Lebensqualität umfassend gemessen und beurteilt werden sollen. Es besteht aus den drei Leitindikatoren materieller Wohlstand, Soziales und Ökologie sowie zehn Einzelindikatoren. Das BIP pro Kopf ist einer davon, aber auch die Beschäftigungsentwicklung, der Zugang zu Bildung oder der Ausstoß von Treibhausgas. Das Tableau ist ein guter Kompromiss aus Vollständigkeit und Übersichtlichkeit.

Schon lange spielen derartige Indikatoren für politische Entscheidungen eine zentrale Rolle. Doch bisher mangelte es an einer systematischen Zusammenschau der drei Dimensionen materieller Wohlstand, Soziales und Ökologie. Mit dem vorliegenden Vorschlag soll erreicht werden, dass jede Bundesregierung in einem konsistenten Bericht Farbe bekennen muss, was die Entwicklung dieser Dimensionen angeht. Gelingt es uns, eine solche Form der Wohlstandsmessung zu verankern, dann könnten wir zu einer neuen Qualität politischer Rechenschaftslegung gelangen. Das täte unserer Demokratie gut.

Zwischen der schwarz-gelben Koalition und der Opposition gibt es grundsätzliche Unterschiede in Bezug auf die Einordnung und Bewertung des Stellenwerts von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft. Interessant sind vor allem die abweichenden Analysen der gegenwärtigen Krisen, egal ob es sich um die Wirtschafts- und Finanzkrise, die soziale Spaltung oder den menschengemachten Klimawandel handelt. Teile der Regierungskoalition vertreten die Auffassung, dass diese multiplen Krisen allein mit einer konsequenten Rückkehr zum „Ordnungsrahmen der Marktwirtschaft“ gelöst werden könnten – nach Auffassung der Opposition eine nicht hinnehmbare Bagatellisierung. Denn die gegenwärtigen Krisen sind mehr als Betriebsunfälle eines im Übrigen gut funktionierenden Systems. Genau deshalb hat die Opposition versucht, sie in die Geschichte unserer wirtschaftlichen Entwicklung einzuordnen. Als Konsequenz fordern wir eine „sozial-ökologische Transformation“, deren Ziel es ist, die Wohlfahrtsentwicklung vom Verbrauch natürlicher Ressourcen und der Beanspruchung natürlicher Kohlestoffspeicher zu entkoppeln. Dazu bedarf es gigantischer Innovationssprünge und technischer Verbesserungen, Systemänderungen des ordnungsrechtlichen Rahmens, im Steuerrecht oder in der Finanzpolitik, aber auch sozialer und kultureller Veränderungen.

Die Koalition entzieht sich lieber der Debatte

Obwohl innerhalb der Kommission Konsens besteht, dass Wachstum kein Ziel an sich ist, entzieht sich die Koalition einer systematischen Diskussion über die Schwächen des BIP als Maßstab für politisches Handeln. Die Opposition hingegen erkennt das BIP zwar als gute (wenn auch nicht perfekte Maßeinheit) für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit an, nicht aber als darüber hinausgehendes Wohlstandsmaß. Eine umfassende Messung von Wohlstand ist aber zentral, weil Wirtschaftswachstum negative Auswirkungen auf unsere Umwelt und unser soziales Umfeld haben kann. Die Koalition entzieht sich der entscheidenden Aufgabe, wirtschaftliches Wachstum nachhaltig zu gestalten und durch entsprechende Rahmensetzungen eine nachhaltige Entwicklung einzelner Unternehmen wie der gesamten Volkswirtschaft zu unterstützen.

Auch bei der Bewertung der Finanzkrise unterscheiden sich Koalition und Opposition. Schwarz-Gelb setzt weiter auf ein gescheitertes Wirtschaftsmodell und glaubt, dass vor allem deregulierte Finanzmärkte Wachstum generieren. Wichtige Krisenursachen wie die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen sowie die Entkopplung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft werden ignoriert. Anders die Opposition. Wir haben eine Analyse derjenigen Faktoren vorgelegt, die die Finanzmärkte destabilisieren. Heute sind die Märkte für die Finanzierung von Unternehmen weniger bedeutend als vielfach angenommen. Die Finanzspekulation hat sich von der Realwirtschaft entkoppelt. Im Rahmen eines nachhaltigen Entwicklungsmodells muss diesem Trend entgegengewirkt werden. Das Oppositionsvotum umfasst konkrete Vorschläge, um die Finanzmärkte zu stabilisieren und sie auf ihre eigentliche Funktion zurückzuführen. Dazu zählen die Einführung eines Trennbankensystems, deutlich erhöhte Eigenkapitalanforderungen, die Abschöpfung des Zinsvorteils systemrelevanter Banken zur Finanzierung eines Bankenrestrukturierungsfonds sowie die Einführung einer Finanztransaktionssteuer.

Erstaunlich ist, dass die Koalition den zentralen Zusammenhang von Wachstum und Umwelt schlicht nicht thematisiert. Das konfliktbehaftete Verhältnis von Wachstum und Umwelt kann aber nur dann nachhaltig gestaltet werden, wenn eine realistische Einschätzung vorgenommen wird, aus der sich die erforderlichen Schritte ableiten lassen. Die Opposition versucht das und macht konkrete Vorschläge für die Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum. Zudem müssen die Modernisierungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten einer nachhaltigen Wirtschaft genutzt werden. So hat die Chemische Industrie seit 1990 trotz einer um mehr als 40 Prozent gestiegenen Produktion ihren Energiebedarf um etwa 20 Prozent senken können.

Für die schwarz-gelbe Koalition ist die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts eine zentrale Stellschraube, um mehr Wachstum zu schaffen. Die negativen Auswirkungen dieser Strategie werden zwar zur Kenntnis genommen, aber die Koalition zieht keine Schlüsse daraus, wie eine Verringerung prekärer Beschäftigung erreicht werden kann. Hingegen sind den Oppositionsparteien vor allem die institutionellen Rahmenbedingungen von Wachstum und Beschäftigung wichtig. Denn diese bestimmen, wer durch Wachstum in Arbeit kommt – und in welche Arbeit. Auch wenn die Zahl der Erwerbstätigen in den vergangenen Jahren erfreulicherweise zugenommen hat, sinkt das Beschäftigungsvolumen. Atypische Beschäftigungsverhältnisse haben sich ausgedehnt und sind häufig prekär. Besonders Frauen sind oft unfreiwillig teilzeitbeschäftigt und schlecht bezahlt. Mit dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ist das alles nicht vereinbar. Vonnöten ist eine Form der Regulierung, die die Rechte der Arbeitnehmer auf gesicherte und adäquat bezahlte Beschäftigung stärkt – verbunden mit einer geschlechtergerechten Erwerbsbeteiligung, besserer Bildung und Qualifizierung sowie mit Modellen zur Verkürzung der Durchschnittsarbeitszeit.

In vielen Bereichen der Gesellschaft entfaltet Wachstum nicht per se eine positive Wirkung: Oft nützt es, manchmal schadet es auch. Es kommt immer darauf an, was wächst und wie es wächst. Deshalb müssen wir das Wachstum des BIP im Zusammenhang mit anderen Wohlstandsdimensionen betrachten. Die Verankerung der alternativen Wohlstandsmessung in einem einzigen, in sich konsistenten Jahreswohlstandsbericht ist dafür eine entscheidende Weichenstellung. Diese Forderung wird von einer breiten Mehrheit der Enquete-Kommission getragen, wenngleich über die Anzahl der Indikatoren auch innerhalb der Opposition unterschiedliche Ansichten bestehen.

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