Substanz und Fassade

Auch in der Mediendemokratie haben die Menschen nicht verlernt, zwischen guter und schlechter Politik zu unterscheiden. Viel spricht dafür, dass sie dazu auch in Zukunft in der Lage sein werden

"Sie ist unberechenbar: sie schenkt heute diesem ihre Gunst und morgen jenem, verlangt von einem viel, vom anderen alles, vom dritten nichts. ... Es ist irgendwo Geld im Spiel, aber leider nicht offen und eindeutig. Man weiß nicht, wo und wie, und sie küßt heute, dem sie gestern die Augen ausgekratzt hat."

Kurt Tucholsky über die "bürgerliche Presse" (1914)1

Schlimm ist es um die Parteien in Deutschland bestellt, sehr schlimm. Noch viel schlimmer steht es um ihre Perspektiven. Am schlimmsten aber geht es in Amerika zu, das wissen wir schon lange. Da nämlich ist die Politik völlig entpolitisiert. Da sind die Parteien perdu. Da beteiligt sich nur eine Minderheit der Bürger an den Wahlen, und wer sich überhaupt noch die Mühe macht hinzugehen, wählt unter dem Einfluss wild gewordener Medien völlig regellos mal die einen, mal die anderen.

In Amerika starrt alles auf die Kandidaten, und die sind mediale Kunstfiguren ganz ohne Sinn und Programm. Stets gewinnt, wer besser aussieht, wer die weißeren Zähne bleckt und im Fernsehen die knackigsten soundbites von sich gibt. Wahlen sind in Amerika längst reine Personalplebiszite, bei denen es um alles mögliche geht, ums Aussehen, um Geld und Einschaltquoten, um special effects und Spektakel, Skandale und Theater - nur eben nicht um Politik. Nur nicht mehr darum also, wie die Menschen eines Gemeinwesens ihre unterschiedlichen Interessen in geregelten Verfahren zum Ausgleich bringen und deren Beteiligung an der Machtausübung organisieren.2

Und genau so wie in Amerika wird es auch bei uns sein, sehr bald schon und unvermeidlich. Denn was wir gerade erleben, ist eine kopernikanische Wende aller politischen Verhältnisse in Deutschland, so erläutern es uns kluge Politikwissenschaftler.3 Gegen deren Urgewalt mag man ankämpfen, aussichtslos wie gegen Windmühlen. Man mag das alles wütend verfluchen, man mag es hilflos hinnehmen oder - schon ganz vom amerikanischen Virus infiziert - verzückt begrüßen. Die entfesselte Mediendemokratie wird die deutsche Parteiendemokratie verschlingen und dahinraffen. Vor der Tür steht, sagt man uns, nicht weniger als die "vollendete Amerikanisierung". Das Ende der Parteien, wie wir sie kennen.

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Man wird sehen. Denn ob das alles so stimmt, ist doch recht fraglich. Auf merkwürdige Weise erscheinen Visionen wie diese zugleich zu alarmistisch und zu präsentistisch. Ist es wirklich um die Parteiendemokratie geschehen? Warum gerade jetzt? Wieso kippt heute plötzlich um, was noch vor ein paar Jahren als übermächtig und unangreifbar galt. Noch nicht einmal eine volle Dekade ist es ja beispielsweise erst her, dass die Deutschen über die vermeintliche Omnipotenz der Parteien in geradezu hysterische Raserei gerieten. Als oberster Verdrossener der Republik lamentierte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker seinerzeit über die machtversessene politische Klasse im Parteienstaat, der die entrechteten Bürger gleichsam schutzlos ausgeliefert seien.4 "Die Parteien wirken an der Bildung des gesamten gesellschaftlichen Lebens aktiv mit", hieß es damals unter großem öffentlichen Jubel aus der Villa Hammerschmidt. "Sie durchziehen die ganze Struktur unserer Gesellschaft, bis tief hinein in das seiner Idee nach doch ganz unpolitische Vereinsleben." Überall hatten die Parteien ihre Finger damals tief im Mustopf, wie Weizsäcker wusste: "Man denke nur an die unaufhörliche und ungenierte Tätigkeit der Parteien in den öffentlich-rechtlichen elektronischen Medien." Dagegen bleibe - von Weizsäcker formulierte das tatsächlich so - der "Wille des Volkes" auf der Strecke.

Man wird es als ziemlich unbedachten Mumpitz bezeichnen dürfen, wie das vermeintlich entmündigte "Volk" seinerzeit gegen den mutmaßlich allgewaltigen "Parteienstaat" ausgespielt wurde. Doch darauf kommt es hier nicht an, so dachte man damals eben im unpolitischen deutschen Bürgertum; zahllose Bücher, Artikel und Pamphlete der frühen neunziger Jahren belegen das eindrucksvoll. Aufschlussreicher ist da schon, wie noch vor zehn Jahren der erste Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland das Kräfteverhältnis zwischen Parteien und Medien beurteilte: "Eine Partei braucht nur für irgendeinen Landesparteitag einzuladen und schon kommen Journalisten in großer Zahl. (...) Jeder Journalist tut ein gutes Werk, der nicht immer der Vorgabe der Thematik durch die Parteien folgt", erklärte von Weizsäcker damals.

So schnell ändern sich die Zeiten und mit ihnen die gängigen Zeitdiagnosen. Von den Strippenziehern des hegemonialen Parteienstaates beliebig instrumentalisierbare Medien noch vor zehn Jahren - völlige "Kolonisierung der Politik durch die Medien" (Thomas Meyer) heute: Das passt hinten und vorne nicht zusammen. Weizsäckers Optik mag einseitig und blauäugig gewesen sein. Aber stimmt deshalb umgekehrt die derzeit gängige Extremposition, die angesichts mediokratischer Zwänge inzwischen jegliche Selbstbehauptung der Parteiendemokratie gefährdet sieht? 5

Hat sich - dem Bild der "kopernikanischen Wende" entsprechend - tatsächlich alles so rasend schnell geändert im öffentlichen Leben der Republik? Oder überzeichnet die These von der entfesselten "Mediokratie" nicht für die Gegenwart, was Weizsäcker vor Jahren unterschätzte? Könnte es sein, dass die Parteiendemokratie heute im Kern so wenig von der Mediendemokratie bedroht ist, wie vor einem Jahrzehnt das demokratische Gemeinwesen vom Parteienstaat? Kurz, erleben wir nicht gerade wieder, was diese Republik in ihrer Geschichte schon ziemlich häufig erlebte - eine Konjunktur der Zeitdiagnostik, die einen einzelnen gesellschaftlichen Entwicklungstrend isoliert und so stark überzeichnet, dass die tatsächliche Komplexität und Widersprüchlichkeit der Verhältnisse außer Acht geraten? Die willkürliche Übermacht der kommerziellen Medien hat schließlich schon Kurt Tucholsky vor dem ersten Weltkrieg beklagt. Und Bundesrepublik wiederum hat man in ihrer Geschichte immer wieder auf allerlei abschüssigen Wegen in die "Herrschaft der Verbände" (Theodor Eschenburg) oder den "Einparteienstaat" (Wolf-Dieter Narr) schlittern sehen. Man hat das "Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts" (Ralf Dahrendorf) ausgerufen und an der "Regierbarkeit" (Wilhelm Hennis) der Republik in gezweifelt. Der in Aussicht gestellte große Kladderadatsch blieb dann freilich jeweils aus.

Fast immer treten Beharrung und Veränderung gemeinsam auf

Tatsächlich wird in der sozialen und politischen Wirklichkeit kaum je so heiß gegessen wie gekocht. Ob Scheidungsraten oder Drogenkonsum, Kirchenaustritte oder Parteimitgliedschaft: Keine Entwicklung ist so neu und unerhört, das sie alles Bestehende und über lange Jahre Gewordene in kurzer Zeit vollständig unterpflügen könnte. Stets überlagern sich in Politik und Gesellschaft die Phänomene der Beharrung und der Veränderung. Der voraussetzungslose "Aufbruch" und der "Neuanfang" ab ovo sind in menschlichen Gemeinwesen allemal seltene Phänomene. Für den "Schlussstrich" unter alles Gewesene, die "Stunde null" gar, gilt das umgekehrt nicht weniger. Und erst recht die Sprachfigur der "kopernikanischen Wende" scheint eher fragwürdig, wo es um soziale Tatbestände geht, um Gruppen und Mentalitäten etwa, die Veränderung politischer Präferenzen oder kollektiver Dispositionen. Dass Wandel und Kontinuität in gesellschaftlichen Dingen fast immer gemeinsam und in ambivalenter Wechselwirkung auftreten, dass kaum eine Erscheinung des Umbruchs schon die ganze Geschichte ist - gerade darin besteht ja die ständige Schwierigkeit der Politik. Dass "neue Erfahrungen immer durch den Filter der Mentalität hindurch müssen", wie Hans-Ulrich Wehler schreibt, markiert in der Tat ein zentrales Problem erfolgreicher Reformpolitik.6 Keinesfalls begreift die ganze Komplexität der Verhältnisse, wer stets nur die neuartigen Aspekte des Wandels betrachtet und dabei vergisst, dass zur Wirklichkeit auch die zähe Beharrungskraft des Bestehenden gehört. Gerade auch für so vielschichtige Gebilde wie Parteien und ihre voraussetzungsvollen Umweltbeziehungen gilt das. Stets beides in seinen vielfältigen Wechselwirkungen zusammen zu denken, den Wandel und die Kontinuität, das Neue und das Alte, die Potentiale für den Aufbruch und die Tendenz zur Beharrung - darin besteht deshalb im Übrigen die besondere Begabung umsichtiger Modernisierer von Parteien.

Die Lewinsky-Affäre schockte Amerika. Nur Clinton betraf sie nicht

Aber zurück zum Anfang, zurück nach Amerika. Gerade hier, so kommt es uns oft genug vor, können wir die Zukunft der Demokratie unter den Bedingungen nahezu vollständiger Medienherrschaft schon heute besichtigen. Nirgendwo sonst sei die Transformation traditioneller Politik so weit fortgeschritten wie hier, heißt es. Nirgendwo sonst seien die Parteien bereits so zerfallen. Nirgendwo sonst hätten die elektronischen Medien mit ihren Unterhaltungsformaten inzwischen so sehr Oberhand gewonnen. Damit sei die amerikanische Politik, so wird behauptet, nunmehr zur Gänze aus ihren traditionellen Verankerungen herausgerissen worden - mit der Folge, dass die Öffentlichkeit vom immer schnellerem Wechsel irgendwelcher Kampagnen, von krudem Medienhype und oberflächlichen Stimmungen erratisch hin- und hergerissen werde. Aus Wahlen würden Würfelspiele, die Ergebnisse zunehmend gekennzeichnet durch völlig unberechenbare Ausschläge. Man hat die These oft gehört, man glaubt sie mittlerweile nahezu unbesehen - aber stimmt das alles so überhaupt?

Verblüffenderweise eher nicht. Wenn es in jüngerer Zeit einen Fall gegeben hat, der die Anfälligkeit einer medienfixierten und entpolitisierten Öffentlichkeit für dramatische Meinungskonjunkturen geradezu hätte beweisen müssen, dann war das die Clinton-Lewinsky-Affäre.7 Da hatte nun also der Führer der freien Welt zuerst seine Frau mit einer Praktikantin betrogen, sein Vergehen daraufhin öffentlich geleugnet, war danach seiner Lüge überführt und schließlich um ein Haar schmählich aus dem Amt gejagt worden. Was hätte solch einen Skandal überbieten können? Die Clinton-Lewinsky-Affäre trieb die Auflagen und die Einschaltquoten hoch, sie war über Monate der zentrale Gesprächsgegenstand Amerikas, sie erschütterte und beschäftigte die Nation, sie stachelte Bill Clintons politische Gegner zu wilden Attacken gegen den verhassten Präsidenten an. Es gab kein anderes Thema mehr.

Nur eines veränderte die Clinton-Lewinsky-Affäre überhaupt nicht: Bill Clintons Umfrageergebnisse. Der Präsident hatte sich vor dem Ausbruch der Affäre hoher öffentlicher Beliebtheit erfreut, auf diesem hohem Niveau hielten sich seine Zustimmungsraten in den dramatischen ersten Wochen des Skandals, und kein bisschen tiefer sanken sie im weiteren Verlauf der Ereignisse. Offensichtlich herrschte ausgerechnet im Auge des medialen Hurrikans tiefste Ruhe - wie war das möglich?

Die Gründe sind ganz einfach und ziemlich altmodisch; man traut sich kaum, sie aufzuschreiben. Allen anders lautenden Ankündigungen und Einsichten zum Trotz ist selbst Amerika eben noch längst nicht zu einem Land der ungebundenen Wechselwähler geworden. Das Ausmaß ganz traditioneller party loyalty ist in der amerikanischen Gesellschaft grosso modo so hoch wie eh und je im vergangenen halben Jahrhundert. Beträchtliche Anteile der amerikanischen Bevölkerung entwickeln noch immer in jungen Jahren eine lebenslängliche Anhänglichkeit entweder zu den Demokraten oder zu den Republikanern. Die gängige Behauptung, es zählten heute nur noch die Kandidaten oder die Einzelfragen, ist eben - mindestens - weit überzogen. Weder sind die Wahlergebnisse insgesamt viel "volatiler" geworden noch haben die Parteien ihre Bedeutung eingebüßt - selbst in Amerika nicht. Sie sind noch immer wichtige Bezugs- und Orientierungsgrößen. Als es in der Lewinsky-Affäre um das politische Überleben von Bill Clinton ging, konnte sich der Präsident der Loyalität des Demokratischen Stammpublikums genau deshalb allemal sicher sein.

Die Menschen wissen ganz gut, welche Politiker etwas für sie tun

Das war das eine. Aber noch eine weitere ziemlich altmodische Eigenschaft der Amerikaner trug zu Clintons Rettung bei. Unter den Bedingungen fortgeschrittener Mediendemokratie mag die amerikanische Öffentlichkeit zwar abgelenkt und unkonzentriert sein, heute mit diesem beschäftigt und morgen mit jenem. Dass sie darüber verlernt habe, zwischen Wichtigem und Unwichtigen zu unterscheiden, zwischen politischer Substanz und gehaltlosem Budenzauber, lässt sich aber nach der Clinton-Lewinsky-Affäre schlechter belegen denn je. Wenn große Mehrheiten der Amerikaner ihrem Präsidenten in den Umfragen unbeirrt die Treue hielten, dann nicht zuletzt deshalb, weil Bill Clinton in seiner zweiten Amtszeit so völlig unbestreitbar als ein Präsident des Wohlstands, des inneren und äußeren Friedens sowie der ideologischen Mäßigung agierte.

Unverändert ist es die handfeste Substanz der Politik, die in Amerika über den Erfolg oder Misserfolg von Präsidenten und Parteien entscheidet. Nicht an der Person Bill Clinton hingen die Amerikaner, schon gar nicht war es sein Charakter, der sie beeindruckte. Aber die Politik in der Sache, für welche Clinton stand - die eben wollten sie behalten. Wer Arbeitsplätze sichert und wirtschaftliches Wachstum organisiert, wer das Land aus kriegerischen Verstrickungen heraushält und keine abseitigen Minderheitenpositionen vertritt, wer glaubhaft Zuversicht im Hinblick auf das Kommende verbreitet, der kann sich der Wählerstimmen und der politischen Unterstützung der Wähler sicher sein. Daran hat sich auch in mediendemokratischen Zeiten nicht viel geändert - nicht einmal in Amerika.

Lässt sich aus all dem etwas lernen für die Zukunft des Verhältnisses von Parteien, Medien und Gesellschaft? Durchaus. "Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig", hat Tucholsky einmal geschrieben. Es gibt keinen sonderlich überzeugenden Grund zu bezweifeln, dass sein Satz noch immer stimmt. Die Reaktion der amerikanischen Öffentlichkeit auf die Clinton-Lewinsky-Affäre jedenfalls hat sehr anschaulich bestätigt, dass sich im Zwischenraum von Politik und Gesellschaft vieles längst nicht so schnell, so eindeutig und so sehr zum Schlechteren verändert, wie der schnelle Mediendiskurs über die schnelle Mediengesellschaft gern unterstellt. Zumindest instinktiv und subkutan kennen die meisten Menschen ihre wesentlichen Interessen zu allen Zeiten ziemlich genau. Und sie können auch regelmäßig ganz gut einschätzen, welche Politiker, welche Parteien etwas für sie getan haben und welche nicht.

Es ist vielleicht nicht unwichtig, diese einfachen Einsichten gerade jetzt in Erinnerung zu rufen. Derzeit hegen die Parteien in Deutschland und anderswo tiefe Selbstzweifel darüber, ob sie sich auf veränderte Bedingungen werden einstellen können. Zu Recht. Denn es ändern sich ja keineswegs nur die Medienverhältnisse; diese sind im Grunde durchaus ein Oberflächenphänomen. Weitaus fundamentaler und ursächlicher für die Krise der Parteien ist der Umstand, dass ihnen ihre sozialen und ökonomischen Voraussetzungen sukzessive abhanden kommen, aus denen sie seit dem 19. Jahrhundert hervorgegangen sind.8 "Das ist dahin", hat Wilhelm Hennis - schon vor etlichen Jahren - pointiert festgestellt. "Aber ohne diesen Hintergrund, der nicht ihr Werk war, aus dem sie herauswuchsen, wollen die Parteien immer noch die eigentlich gestaltenden Faktoren der Willensbildung und darüber eben auch der "politischen Kultur′ sein."9 Genau darin liegt in der Tat die unhaltbare Zwangslage, in die sich die Parteien, sozial und kulturell entwurzelt, wie sie inzwischen sind, hineinmanövriert haben. Sie "durchziehen" anders als Richard von Weizsäcker vor zehn Jahren so eigentümlich unzutreffend glaubte - eben schon lange nicht mehr "die ganze Struktur unserer Gesellschaft". Täten sie es doch bloß! So möchte man fast erwidern. Wären sie doch noch sozial und kulturell geerdete Organisationen, schlagkräftige Selbsthilfegruppen von Bürgern inmitten der Gesellschaft! Den Parteien selbst bekäme das gut und dem republikanischen Gemeinwesen, immer verzweifelt auf der Suche nach Kohäsion, Zivilgesellschaftlichkeit und sozialem Kitt, würde es gewiss nicht schaden.

To get things done - das einfache, schwierige Problem aller Politik

Doch die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, die untergegangenen Verhältnisse sind nicht rückholbar. Die ihrer historischen Bindungen entwachsenen Bürger setzen nicht mehr auf die Parteien als gesinnungsfeste Schutz- und Trutzbünde gegen den Staat, das Kapital oder weltanschauliche Widersacher aller Art. Das ändert alles und wird mit Organisationsreformen - mehr Seiteneinsteiger, mehr Referenden, mehr Internet, mehr Netzwerke - oder noch so pfiffiger medialer Selbstinszenierung schon gar nicht zu kompensieren sein. Aber was bleibt dann eigentlich noch? Vielleicht sollten sich die Parteien vor allem daran erinnern, was den Kern aller Politik ausmacht - oder doch ausmachen sollte. "It is about the search for a remedy", hat der kluge amerikanische Historiker Arthur M. Schlesinger geschrieben.10 Was zählt, anders gesagt, ist to get things done. Und in der Tat, wo keine Kollektivgesinnung und kein Liedgut, kein Milieu und kein Vorfeld die Menschen noch an die Parteien binden, da wird diesen auf die Dauer - schwierig genug - allein die Flucht in die Arbeit an der besseren Lösung, der besseren Politik helfen. Nehmen sie die Herausforderung an, könnte es die Parteien dann noch lange geben - gesund geschrumpft gewissermaßen. Das Beispiel der entfesselten amerikanische Mediendemokratie, in der die Bürger trotzdem noch immer ganz gut zwischen glatter Oberfläche und politischer Substanz zu unterscheiden wissen, ist so gesehen Mahnung und Trost zugleich.

1 Kurt Tucholsky, Eine feile Dirne?, in: Derselbe, Gesammelte Werke, Bd. 1, hrsg, von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Reinbek: Rowohlt, S. 210 f.

2 Vgl. dazu klassisch Bernard Crick, In Defence of Politics, 2. erweiterte Auflage, Harmondsworth: Penguin 1982.

3 Thomas Meyer, Mediokratie: Die Kolonisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 2001

4 Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger, Frankfurt am Main: Eichborn 1992; siehe auch Gunter Hofmann und Werner A. Perger (Hrsg.), Die Kontro-verse: Weizsäckers Parteienkritik in der Diskussion, Frankfurt am Main: Eichborn 1992.

5 Vgl. neben Thomas Meyers kritischen Thesen zur "Medio-kratie" neuerdings - und eigentümlich trivial - vor allem Andreas Dörner, Politainment: Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001

6 Hans-Ulrich Wehler, Bonn - Berlin - Weimar: Droht unserer Republik das Schicksal von Weimar?, in: Ders., Umbruch und Kontinuität: Essays zum 20. Jahrhundert, Mün-chen: Beck 2000, S. 98-113, hier S. 107.

7 Zum Folgenden siehe vor allem John Zaller, Monica Lewinsky and the Mainsprings of American Politics, in: W. Lance Bennett und Robert M. Entman (Hrsg.), Mediated Politics: Communication in the Future of Demo-cracy, Cambridge University Press 2001, S. 252-278.

8 Vgl. etwa Gøsta Esping-Andersen, Politics without Class: Postindustrial Cleavages in Europe and America, in: Herbert Kitschelt et. al. (Hrsg.), Change and Continuity in Contemporary Capitalism, Cambridge University Press 1999, S. 293-316; auch Will Hutton und Anthony Giddens (Hrsg.), On the Edge: Living with Global Capitalism, London: Jonathan Cape 2000.

9 Wilhelm Hennis, Überdehnt und abgekoppelt: An den Grenzen des Parteienstaates (zuerst 1983), in: Derselbe, Auf dem Weg in den Parteienstaat: Aufsätze aus vier Jahrzehnten, Stuttgart: Reclam 1998, S. 69-92, hier S. 87.

10 Arthur M. Schlesinger, Jr., The Short and Happy Life of American Political Parties, in: Derselbe, The Cycles of American History, Harmondsworth: Penguin 1989, S. 256-276.

Der Text wird auch erscheinen in: Hans-Peter Bartels und Matthias Machnig (Hrsg.), Rasender Tanker: Die Modernisierung der Sozialdemokratie, Steidl Verlag Göttingen, Oktober 2001

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