Strohfeuer oder Dauerbrenner?

Das Rennen ist wieder offen. Umfragen zufolge könnte die SPD im Herbst den Kanzler stellen. Die Euphorie ist groß, aber die Erinnerung an die Kandidatur Peer Steinbrücks ist noch frisch. Der startete ebenfalls mit rasantem Tempo - und ging dann jäh in den Sinkflug über. Wird mit Martin Schulz diesmal alles anders?

Eine Euphorie hervorzurufen ist schwer, sie zu befeuern hingegen kurzzeitig recht leicht. Sie dann allerdings langfristig in eine dauerhafte Kampagne zu überführen – das ist knallharte Arbeit. Zurzeit machen die SPD, ihr Kandidat Martin Schulz und das Willy-Brandt-Haus verdammt viel richtig. Die sonst oft schwerfällige Parteizentrale ist agil wie seit Jahren nicht mehr. In hohem Tempo werden immer neue Ideen produziert, Schulz bekommt eine bildliche und textliche Rahmung, die ihn positiv unterstützt. Termine werden organisiert und immer größere Hallen gebucht, weil Veranstaltungen mit dem Kanzlerkandidaten derzeit überrannt werden. Ein guter Anfang. Der Wahltag jedoch ist noch ein halbes Jahr entfernt.

Dass für CDU und CSU gerade etwas anbrennt, hat mittlerweile auch der Letzte in der Union verstanden. Der Platzhirsch im politischen Berlin kommt im Wahljahr 2017 kaum in die Gänge. Zu viel Kraft wird zu lange schon in internen Streitigkeiten zwischen den Schwesterparteien gebunden. Die eigenen Abgeordneten geraten reihenweise in Panik, wodurch wiederum die Kernstärke der CDU unter Angela Merkel in Gefahr gerät: Es droht der Verlust der übergeordneten Gelassenheit.

Das Unwohlsein in der Union entsteht nicht nur aus den steigenden Umfragewerten der SPD. Es entsteht vor allem aus der Ausweglosigkeit der eigenen Situation. Man findet in der CDU-Zentrale kaum eine Kante, an die man den Hebel für eine erfolgreiche Trendwende zurück zur Unionsübermacht ansetzen könnte. Weder kann man sich im aktuellen Zwist zwischen CDU und CSU auf populäre Forderungen verständigen, noch entfaltet Angela Merkel besondere Bindungskraft. Um nicht gänzlich handlungsunfähig zu erscheinen, wählt die Union einstweilen das Repertoire der Verzweiflung: direkte Angriffe auf Martin Schulz ohne eigenen positiven Gegenentwurf. Eine Strategie, die immerhin dafür gesorgt hat, dass nun nicht mehr allein über die SPD und ihren erfolgreichen Kandidaten berichtet wird, sondern sich der mediale Diskurs auf das Thema Wahlkampf verlagert. Allerdings zu dem Preis, dass die Union als noch schwächer und besiegbarer thematisiert wird. Das ist keine gute Ausgangslage, um die eigenen Reihen zu schließen.

Wie konnte Merkel so schnell abstürzen?

Wie konnte Merkel binnen so kurzer Zeit so stark abstürzen? Die Kandidatur von Martin Schulz kam für alle überraschend. Dass sie so erfolgreich werden kann, entschied sich allerdings bereits zwei Wochen zuvor. Denn da wählte die Basis der Grünen ihre Spitzenkandidaten und entschied sich für Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir, zwei seit langem bekannte Gesichter aus Berlin. Damit war das gesamte bundesdeutsche Kandidatentableau für die Bundestagswahl gesetzt. Jede Spitzenperson der anderen Parteien ist Teil des täglichen Berliner Streits um den richtigen Weg.

In diese Gruppe der üblichen bundespolitischen Akteure platzt Martin Schulz als zwar politisch etablierter, aber eben nicht mit Berlin verbundener Kandidat hinein. Damit fühlt er sich plötzlich neuer und sogar als mehr von außen kommend an als die AfD. Selbst mit ihrem maßlosen Hass auf Merkel sind Frauke Petry, Beatrix von Storch und Alexander Gauland in den Köpfen der Menschen doch genauso Teil des Berliner Politsystems wie Sigmar Gabriel, Sahra Wagenknecht oder die Kanzlerin.

Aber auf Euphorie kann auch der Kater folgen. Der Schulz-Effekt schöpft sich aktuell vor allem aus seinem Gegenbild: Angela Merkel und ihre zerstrittene Union. Damit ist Martin Schulz im wahrsten Sinne des Wortes zunächst einmal vor allem Gegenkandidat. Umso wichtiger wird es sein, den Gegenentwurf zu Merkel zu einem positiven Entwurf für Martin Schulz weiterzuentwickeln. Er wird die sozialdemokratische Politik neu justieren müssen. Der äußere Aufbruch mit Schulz muss auch zum inneren Aufbruch der SPD werden. Die schnell aufgestellte These, man habe eigentlich alles richtig gemacht, bisher aber nur den falschen Vorsitzenden gehabt, verkennt den verbreiteten Wunsch nach einer Haltungsänderung der Partei.

Der kompromissreiche Stil der Großen Koalition und die beständige Bereitschaft, auf externe Effekte flexibel zu reagieren, muss abgelöst werden durch eine deutlich kompromissärmere Geradlinigkeit unter Schulz. Oder um es mit den Worten eines jungen Mannes zu sagen, der gerade in die Partei eintreten will: „Bei Schulz hat man die Hoffnung, dass es nach Jahren endlich mal wieder jemanden gibt, der bei Gegenwind stehen bleibt, statt sich zu drehen.“

Das Schulz-Dilemma der Konkurrenz

Nach Lage der Dinge wird Martin Schulz im jetzt anbrechenden Wahlkampf zusehends im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen. Die Kampagnen der Konkurrenz werden sich an ihm und seinem Stil ausrichten müssen. Je langsamer man sich als Konkurrent am Stil des möglichen „neuen Kanzlers“ ausrichtet, desto stärker wird man als Teil der verbrauchten Ära Merkel wahrgenommen. Je schneller man sich anpasst, desto mehr verstärkt man andererseits den Schulz-Effekt – ein strategisches Dilemma für die gesamte Konkurrenz.

Zu erwarten ist daher, dass vor allem die kleinen Parteien einen reinen Markenkern-Wahlkampf werden führen müssen, um wenigstens ihre Kernklientel zu aktivieren. Damit entstehen für die beiden Volksparteien größere Spielräume, die fürs Erste nur die SPD auszunutzen weiß. Daraus kann man die Erwartung ableiten, dass für die SPD – so unglaublich das scheint – noch weiteres Potenzial nach oben vorhanden ist. Besonders dann, wenn Schulz noch deutlich stärker als bisher seine spezifische Stärke in den Mittelpunkt rückt: Aufsteiger und Außenseiter zu sein. Denn Schulz’ Biografie schafft Bindungskraft besonders für diejenigen Teile der SPD-Zielgruppe, die sich bei den vergangenen Wahlen immer stärker in die Wahlenthaltung zurückgezogen haben. In den ersten Wochen seiner Kandidatur attackierte die Union besonders Schulz’ wenig geradlinige Biografie. In seinem Vorleben als „Buchhändler ohne Abitur“ machten die CDU-Strategen die zentrale Schwäche des Sozialdemokraten aus. Die Christdemokraten lösten ungewollt das Gegenteil des Beabsichtigten aus: mehr Begeisterung für Schulz.

Nun wird bald auch der letzte Unionspolitiker verstanden haben, dass jeder Angriff auf die angeblich „gebrochene“ Biografie von Martin Schulz diesen nur noch weiter stärkt. Damit wird seine Vita aus dem Wahlkampf verschwinden – es sei denn, Schulz macht sie konsequent selbst zum Thema.

„Gefühlt“ bereits Kanzler zu sein hat riesige Vorteile. Man kann auf diese Weise große Siege erringen – aber auch besonders bitter scheitern. Angela Merkel ist dafür der beste Beweis. Im Jahr 2005 war sie „gefühlt“ schon Bundeskanzlerin mit absoluter Mehrheit, wurde dann aber vom „gefühlten“ Oppositionsführer Gerhard Schröder vor sich her getrieben. Ähnliches könnte auch Martin Schulz passieren, wenn sein Angebot politischen Wandels zu radikal ausfällt oder wenn die gegnerische Erzählung verfängt, Schulz sei abgehoben und arrogant. Dies bietet Angela Merkel eine kleine Chance, den kommenden Kanzler Schulz noch zu verhindern. Bis jetzt spricht wenig dafür, dass sie ihre Chance zu nutzen wissen wird.

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