Strategie aus dem Bauch

In der Flüchtlingskrise verfluchte Horst Seehofers CSU die Bundeskanzlerin als Verursacherin der Misere. Jetzt wird Angela Merkel aus Bayern plötzlich als »Trumpf der Ordnung« in unsicheren Zeiten angepriesen. Ob das so klappen kann?

Seit ihrer Gründerzeit lautet das Programm der CSU: „Bayern zuerst“. Sie hat dieses Motto nicht von Donald Trump kopiert, wie jüngst zu lesen war – ein weiterer Beleg für das verbreitete publizistische Unvermögen, diese Sonderpartei im deutschen Parteiensystem richtig zu verstehen. Dem Vorrang Bayerns ordnet die CSU jede Strategie seit je unter, denn ohne ihn verflüchtigte sich auch der besondere Einfluss der Partei in Berlin. Ohne diesen Ansatz wäre Bayern heute auf Politikfeldern wie Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Bildung und innerer Sicherheit im Ländervergleich auch nicht an der Spitze, was der CSU ebenfalls Wählerstimmen bringt.

Das bajuwarisch Symbolische und das politisch Materielle sind im Fall der CSU längst eine Symbiose eingegangen. Denn bei allem internationalen Bedeutungsgewinn von „Identität“ – es ist fraglich, ob eine Regionalpartei im Kontext der Globalisierung nur das Gefühl von „Heimat“ ansprechen kann, ohne eine politische Leistung zu erbringen. Vielmehr scheint es umgekehrt so zu sein, dass gute Politik das Regionalbewusstsein schafft beziehungsweise stützt, indem sie positive Auswirkungen auf das Lebensgefühl der Bürger hat.

Der Nutzen der Eigenständigkeit


Dies ist auch deshalb wichtig, weil das soziale Gefüge nicht mehr so ausschlagkräftig für das Wahlverhalten ist wie früher. Die CSU galt einmal als Bastion des „Christlichen“ und als prominenteste Vertreterin des „Bürgerlichen“. Doch die Prozesse der Säkularisierung und Tertiarisierung sind auch am Freistaat Bayern nicht vorübergegangen. „Katholische“, „konservative“ oder „mittelständische“ Strategien allein bringen keine Wahlergebnisse von 45 Prozent mehr – von den entrückten „50 Prozent plus x“ ganz zu schweigen. Seit Langem versteht sich die CSU als „auch“ konservative Partei, die sich neuerdings aber auch grünen Themen zuwendet. Angesichts der Verflüssigung der Milieus ist eine strategische Bandbreite gefordert, die viele gesellschaftliche Strömungen anspricht – und auch manchen Widerspruch enthält. Die CSU versucht, die Individualisierungstendenzen, die Ausdifferenzierung von Interessen und Lebensstilen, die die Gesellschaft fragmentieren, mittels politischer Angebote zu integrieren. Dieses alte Rezept der Volksparteien hat in der Gesellschaft an Attraktivität eingebüßt und bei den übrigen Parteien kaum noch Realisierungschancen. Im Fall der CSU scheint es noch immer Wirkkraft zu entfalten, weil regionale Interessen und Emotionen noch immer integrativ wirken. Noch jede Wahlstrategie der CSU beruhte darauf. Im Verhältnis zur Schwesterpartei CDU existieren deshalb seit jeher sowohl kooperative als auch eigenständige Elemente. Dass die Eigenständigkeit in jedem Wahlkampf politisch (auch aus der CDU) wie publizistisch in Frage gestellt wird, spielt der CSU dort, wo sie gewählt werden kann, sogar in die Hände: Die Wähler fühlen sich dann erst recht besonders gut vertreten. Und jene in Bayern, die mehr der CDU zuneigen, haben sowieso keine Wahl.

Gleichwohl steht die CSU 2017 vor besonderen Herausforderungen. Denn obwohl gerade in Bayern die Wirtschaftslage als positiv empfunden wird, trüben diffuse Zukunftsängste im Hinblick auf Flüchtlinge, Terror, Sicherheit, EU und kulturelle Identität die Stimmung. Die aktuelle wirtschaftliche Zufriedenheit paart sich mit Ungewissheit, ob es die Kinder später auch so gut haben werden. Diese gemischten Gefühle tragen dazu bei, dass die Zufriedenheit mit der Demokratie und den Parteien abnimmt. Dies kann die CSU nicht unberührt lassen, obwohl sie sich bei den genannten Themen unter den klassischen Parteien am deutlichsten positioniert und Brandmauern gegen die AfD errichtet hat, wo andere Parteien eine Lücke hinterließen.

Das bayerische Merkel-Paradox


68 Prozent der AfD-Sympathisanten würden eine bundesweite Ausbreitung der CSU begrüßen. Das zeigt, dass es auf dem Feld der Gesellschafts- und Sicherheitspolitik einen Markt für einen verantwortungsethischen Konservatismus frei von Radikalismus gibt. Die CSU liefert hier ein Angebot, welches das Verhältnis zur Schwesterpartei und zu deren Vorsitzenden Angela Merkel stark belastet hat. In den Augen von Parteichef Horst Seehofer und seiner Parteibasis hat die Bundeskanzlerin die Zukunftsängste der Deutschen durch ihre Flüchtlingspolitik mit hervorgerufen. Gleichwohl erscheint Merkel in der internationalen Unordnung als kompetenter, beruhigender und stabilisierender Faktor. Rund 18 Monate lang hatte Seehofer seine Basis auf äußerste Distanzierung eingeschworen. Sechs Monate vor der Wahl erhebt er Merkel nun zum „Trumpf“ der Parteifamilie. Doch 39 Prozent seiner Wähler wollen ihm dabei im Frühjahr 2017 noch nicht folgen. Und im Herbst?


Es ist paradox: Die (Mit-)Verursacherin eines Krisenbewusstseins wird zur Mutter der Krisenbewältigung erhoben. Das kann nur dann sinnvoll sein, wenn die Menschen der Ansicht sind, dass die aktuelle Krise weit umfassender ist als das Flüchtlingsdilemma. In Seehofers Logik übertrumpft also die große Krise die „kleinere“ Migrationskrise – und Merkel „sticht“ als Trumpf beide.

Mit diesem Ansatz lässt sich wohl nur schwer eine Strategie gestalten. Die einzige Möglichkeit wäre es, das zentrale Thema der Flüchtlingskrise zumindest vorübergehend klein zu halten. Was aber geschieht, wenn andere genüsslich an Obergrenzen und Koalitionsvorbehalte erinnern?

Gehört der Methode Seehofer die Zukunft?


Es ist wahrscheinlich, dass die Felder innere Sicherheit und Migration auch im Wahljahr 2017 andere politische Themen überlagern werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich Seehofers Vorgehen wohl nicht als Strategie im klassischen Sinn verstehen. Doch strategische Rationalitäten werden heutzutage ohnehin durch kurzfristige Debatten, Agenda-Setting und Hypes relativiert. Möglicherweise wird die Politik „aus dem Bauch“, die Seehofer oft vorgeworfen wird, deshalb zu einer Zukunftsoption.

Weil dieser experimentelle Prozess in einer komplizierten innen- und weltpolitischen Situation in vollem Gang ist, verpufft die jüngst inszenierte Nachfolgediskussion. Niemand hat ein Interesse daran, sie auf die Spitze zu treiben, schon gar nicht die Epigonen. Denn faktisch ist jeder erledigt, der im Vorfeld von zwei bedeutenden Wahlen einen Führungsstreit provoziert. Wenn er will – und er will – wird Seehofer die CSU bis 2020 beherrschen, vielleicht sogar ein wenig darüber hinaus, erfolgreiche Wahlen 2017 und 2018 vorausgesetzt.

Vorschläge zur Steuer- und Familienpolitik oder die kongeniale Thematisierung der von der Konkurrenz entdeckten „hart arbeitenden Menschen“ sind wichtig, sie erscheinen im Wahljahr 2017 aber als Arabeske. Wähler werden stärker durch das eigenständige „Bayernprogramm“ angesprochen. Vor allem aber: Die Welt ist in Unordnung – mit Konsequenzen für das Lebensgefühl der Wähler. Da rät es sich, alles zu tun, um einen Trumpf der Ordnung ins Spiel zu bringen – wenn man ihn denn schon hat, und sei es auch „nur“ bei der Schwesterpartei.

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