Steigt Ungarn aus dem Westen aus?

Premier Viktor Orbán verfolgt ein waghalsiges Projekt. EU-Mitgliedsland Ungarn soll sich komplett vom freiheitlichen Gesellschaftsverständnis des Westens abwenden. Als neue Vorbilder gelten China, die Türkei - und Russland. Noch ist die Opposition schwach, doch in der ungarischen Gesellschaft wächst der Widerstand

Am 17. November 2014 fand in Budapest und in anderen ungarischen Städten mit dem so genannten „Tag der Empörung“ die vierte große Demonstration gegen die Regierung von Premierminister Viktor Orbán innerhalb von drei Wochen statt. Ausgelöst worden war die größte Protestwelle seit Beginn der zweiten Regierung Orbán im Jahr 2010 durch die Ankündigung der Regierung, eine Internetsteuer einzuführen.

Inzwischen hat sich der Protest gegen die Internetsteuer zu einer umfassenden Oppositionsbewegung ausgeweitet, obwohl Orbán die angekündigte Steuer bereits kurz nach Beginn der Proteste zumindest vorläufig wieder zurücknahm. So konnte man auf der Demonstration am 17. November hören und lesen: „Wir sagen nein zur Internetsteuer!“; Wir sagen nein zur staatlichen Korruption!“; „Wir sagen nein zur übermäßigen Besteuerung!“; und „Wir sagen nein zur aktuellen Außenpolitik!“. Ein weiterer Slogan lautete: „Wir wollen nicht zusammen mit dem System verrotten.“

Die Vehemenz dieses Protests kommt überraschend, denn im ungarischen Superwahljahr 2014 ist das Regierungsbündnis aus nationalkonservativer Fidesz und christdemokratischer KDNP sowohl in den Parlamentswahlen im April als auch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai sowie bei den Kommunalwahlen im Oktober eindrucksvoll bestätigt worden.

Orbáns vollständiger Systemwechsel

Nach dem Erdrutschsieg von Fidesz und KDNP bei den Parlamentswahlen im April 2010 hatte Viktor Orbán einen vollständigen Systemwechsel angekündigt und mit hohem Tempo eine Umgestaltung des politischen Systems vorangetrieben. Zentrale Elemente dieses Umbaus waren die Verabschiedung einer neuen Verfassung („Grundgesetz“), ein neues Wahlgesetz und ein neues Mediengesetz. Zweifellos haben die damit verbundenen Veränderungen die vorhandenen Gegengewichte im demokratischen Institutionensystem geschwächt. Das Parlament wurde in seinem Budgetrecht und damit in einer seiner Kernkompetenzen eingeschränkt. Auch die zahlreichen Bereiche, die man durch Kardinalgesetze geregelt hat, die nur mit einer Zweidrittel­mehrheit verändert werden können, begrenzen die Handlungsmöglichkeiten zukünftiger parlamentarischer Mehrheiten erheblich.

Außerdem wurde das Verfassungsgericht in seinen Kompetenzen beschnitten. Gleichzeitig ermöglicht die erhöhte Zahl der Verfassungsrichter und ein verändertes Bestellungsverfahren der Richter die Besetzung des Gerichts nach parteipolitischen Gesichtspunkten. Auch das neue Wahlrecht verschafft den Regierungsparteien zumindest aktuell Vorteile. So wurden die Wahlkreise offen­bar so neu festgelegt, dass Fidesz davon profitieren wird.

Insgesamt sind diese und andere Maßnahmen der Regierung Orbán ein Beleg für den Versuch, die aktuelle Dominanz von Fidesz und die nach dem Regierungswechsel 2010 vorgenommenen Veränderungen auf Dauer „einzubetonieren“. Eine Aufhebung der Gewaltenteilung bedeutet dies aber (noch) nicht. Ebenso wenig ist der Vorwurf gerechtfertigt, das neue Mediengesetz habe die Pressefreiheit in Ungarn aufgehoben, auch wenn die neu geschaffenen Kontroll- und Aufsichtsgremien mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet sind und die öffentlich-rechtlichen Medien nach ihrer Umstrukturierung und einer politisch motivierten Entlassungswelle eindeutig den Kurs der Regierung unterstützen. Die der Opposition nahestehenden Zeitungen sowie verschiedene Internetportale erscheinen weiterhin täglich mit kritischer Berichterstattung über die Regierung.

Für die Qualität der ungarischen Demokratie ist aber nicht nur der von Orbán betriebene Umbau des politischen Systems abträglich. Ebenso problematisch ist die Absicht, eine moralische Erneuerung herbeizuführen, die ein neues „bürgerliches“ Ungarn entstehen lassen soll. Das angestrebte neue „System der nationalen Zusammenarbeit“ basiert auf einer majoritären, antipluralistischen Auffassung von Politik und sieht eine Hegemonie des konservativ-christlich-nationalen Wertesystems vor. Damit verbunden ist letztlich die Erwartung, dass sich diejenigen, die sich der ungarischen Nation zugehörig fühlen, mit diesem Wertesystem identifizieren.

Der politische Wettbewerber gilt als totaler Feind

Tatsächlich sind die politischen Eliten und die Gesellschaft Ungarns aber tief gespalten. Die politischen Auseinandersetzungen sind durch eine starke Polarisierung geprägt, die sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten sukzessive verstärkt hat. Der zunehmend konfrontative und populistische Stil der Auseinandersetzungen hat dazu geführt, dass beide Seiten die Legitimität und Integrität des jeweiligen politischen Gegners infrage stellen.

Der politische Gegner wird in Ungarn nicht als legitimer Partner im demokratischen Wettbewerb betrachtet, sondern vielmehr als „totaler Feind“. Mit den Grundprinzipien einer pluralistischen Demokratie ist eine solche Haltung kaum vereinbar. Dieses bereits in den vergangenen Legislaturperioden bestehende Problem hat durch die Zweidrittelmehrheit der Fidesz-KDNP-Regierung eine neue Qualität bekommen, da erstmals ein politisches Lager über die Möglichkeit verfügt, die eigenen Vorstellungen ohne Rücksicht auf die Opposition durchzusetzen.

Nach der Bestätigung der Regierung Orbán bei den Parlamentswahlen im April 2014 und dem Sieg von Fidesz bei den Europa- und Kommunalwahlen wurde eine Fortsetzung des Systemumbaus in noch höherem Tempo angekündigt. Da die Regierungspartei auf ein Wahlprogramm mit konkreten Zielen verzichtet hatte, kamen die in den vergangenen Wochen angekündigten Maßnahmen, wie etwa die Einführung neuer Steuern oder die Umstrukturierung des Schulsystems, wohl auch für viele Fidesz-Wähler überraschend.

Bereits im Juli 2014 hatte Orbán mit einer Rede in Baile Tusnad (Rumänien) Aufsehen erregt, in der er grundsätzliche Kritik am System der liberalen Demokratie übte und gleichzeitig Singapur, China, Indien, Russland und die Türkei zu Vorbildern erklärte. Er verkündete außerdem, dass Ungarn sich von den liberalen Prinzipien und Methoden der Gesellschaftsorganisation und überhaupt vom liberalen Verständnis der Gesellschaft lossagen müsse. Stattdessen solle ein auf Arbeit basierter Staat und eine auf Arbeit basierte Gesellschaft organisiert werden, die nicht liberaler Natur ist.

Zwei weitere Themen haben die ungarischen Bürger in den vergangenen Wochen beschäftigt: zum einen das Vorgehen der Regierung gegen zivilgesellschaftliche Organisationen, die von einem norwegischen Fonds unterstützt werden; zum anderen die von der amerikanischen Regierung verhängten Einreiseverbote für ungarische Offizielle, denen Korruption und Betrug vorgeworfen wird.

Die Opposition bietet ein desolates Bild

Schließlich war es wohl die Kombination aus angekündigten Steuererhöhungen und der Weigerung der Regierung, dem Korruptionsvorwurf nachzugehen, die die aktuelle Mobilisierungs- und Empörungswelle auslöste. Der Regierungschef und andere Vertreter von Fidesz reagieren auf diese Empörung mit Unverständnis und verweisen auf ihre jüngsten Wahlerfolge. Dabei wird allerdings übersehen, dass Fidesz und KDNP trotz der erneut erreichten Zweidrittelmehrheit im Parlament tatsächlich nur von weniger als der Hälfte der ungarischen Wähler gewählt wurden. Vergleicht man die Zahl mit den Stimmen, die die Regierungsparteien bei den vorherigen Parlamentswahlen erhielten, so zeigt sich außerdem, dass sie 2014 gegenüber 2010 mehr als eine halbe Million Wähler verloren haben.

Generell ist zu bedenken, dass die Wahlsiege von Fidesz und KDNP im Jahr 2014 nicht nur auf die Zufriedenheit mit der Regierung Orbán zurückzuzuführen sind, sondern auch auf das Fehlen einer Alternative. Der Opposition ist es offensichtlich nicht gelungen, sich zu erneuern und ein glaubwürdiges Gegenangebot zu Fidesz und KDNP zu entwickeln. Stattdessen konnten sich die Oppositionsparteien vor den Parlamentswahlen nur mühsam auf eine gemeinsame Liste einigen. Unmittelbar nach den Wahlen zerfiel der oppositionelle Zusammenschuss, und bei der Europawahl traten die Parteien schon wieder getrennt an. Auch bei den Kommunalwahlen boten die Oppositions­parteien ein desolates Bild.

Ob die aktuelle Protestwelle nachhaltige Wirkung haben und die Regierung Orbán zu einer Kurskorrektur zwingen wird, ist noch nicht absehbar. Im Jahr 2011 hatte sich schon einmal größerer Widerstand gegen die Regierung und ihren „Systemumbau“ formiert. Anlässlich der Jahrestage der Revolution von 1848 am 15. März und des Volksaufstandes von 1956 am 23. Oktober waren 2011 jeweils mehrere zehntausend Menschen zusammengekommen, um zum Ausdruck zu bringen, dass ihre Vorstellungen von der ungarischen Demokratie nicht mit denen der Regierung Orbán übereinstimmen. Sie wandten sich gegen den Anspruch der Regierung, von oben ein politisch-moralisches Wertesystem vorzugeben, mit dem sich jeder Bürger des ungarischen Staates identifizieren sollte. Dass die Regierung zu dieser Zeit deutlich an Zustimmung verlor, schlug sich auch in den Meinungsumfragen nieder. Diese wiesen beispielsweise nach, dass von den drei Millionen Ungarn, die 2010 Fidesz oder KDNP gewählt hatten, mehr als eine Million Wähler ihre Stimme diesen Parteien Ende 2011 nicht mehr gegeben hätten.

Noch fehlt die glaubwürdige Alternative

Auch wenn die damaligen Demonstrationen zeigten, dass es in der ungarischen Gesellschaft breiten Widerstand gegen den Kurs der Regierung gab, führte die Protestbewegung nicht zur Stärkung der politischen Opposition. Weder gelang es den oppositionellen Parteien, das Protestpotenzial aufzugreifen, noch ging aus der Bewegung eine starke neue Partei hervor. Ganz im Gegenteil: Zum Ende der Legislaturperiode stieg die Zufriedenheit mit der Fidesz-KDNP-Regierung wieder deutlich an. So prognostizierten im Vorfeld der Parlamentswahlen im April 2014 alle Umfrageinstitute eine klare Bestätigung der Regierungsparteien.

Ob der Block aus Fidesz und KSNP tatsächlich für 15 bis 20 Jahre der dominante Faktor in der ungarischen Politik bleiben wird – so wie es Viktor Orbán im Jahr 2009 angekündigt hat –, hängt davon ab, ob aus der Protestbewegung eine neue politische Kraft hervorgehen wird, die eine glaubwürdige Alternative darstellt. Die heutigen Oppositionsparteien müssten einen grundsätzlichen personellen und inhaltlichen Neubeginn durchführen, um diese Alternative anbieten zu können. Sonst wird Orbán selbst bei sinkender Zustimmung sein antiliberales Projekt weiterverfolgen können.

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