Stärker und trotzdem schwach

Die Sozialdemokratie in Europa erholt sich aus der Depression. Als stärkste Kraft einer unübersichtlichen Linken muss sie pragmatisch bleiben und erkennen, dass man Wachstum nicht kaufen kann

Die Sozialdemokraten in Europa sind schon oft totgesagt worden. Und tatsächlich ist ihr Einfluss auf die europäische Politik derzeit eher gering. Nur noch eine kleine Minderheit der Staats- und Regierungschefs der EU gehört einer der sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien an. Kein einziger kann als starker Chef eines starken Landes glänzen. Wenn derzeit Stärke gefordert ist, dann von Sozialisten wie José Rodriguez Zapatero und Giorgos Papandreou in Spanien und Griechenland bei der Durchsetzung harter Sparpolitik.

Andererseits haben die vergangenen Monate gezeigt, dass der sozialdemokratischen  Parteienfamilie und ihrer Politik keinesfalls das Ende droht. In einer zunehmend zersplitterten Parteienlandschaft bleiben sie die stärkste Kraft auf der linken Seite des Spektrums. Und sie werden – ob in Nordrhein-Westfalen, den Niederlanden oder Belgien – zur Regierungsbildung gebraucht. Diesen relativen Machtzuwachs haben sie der Tatsache zu verdanken, dass der Siegeszug der klassischen Konservativen und Christdemokraten im Jahr nach der Finanzkrise plötzlich abgebrochen ist. In Großbritannien verlor Labour zwar wie erwartet, aber erstmals seit den siebziger Jahren gibt es eine Koalition, weil David Camerons Durchmarsch von einer Labour Party, die wieder kämpfte, und Nick Cleggs Liberaldemokraten aufgehalten wurde.

In den Niederlanden wurde der Christdemokrat Jan-Peter Balkenende geradezu verjagt, von Jürgen Rüttgers hatten die Bürger in Nordrhein-Westfalen schon nach einer Wahlperiode genug, und auf der deutschen Bundesebene würde Schwarz-Gelb derzeit kaum besser abschneiden. Den Christdemokraten und Konservativen könnte es ergehen wie den Sozialdemokraten Ende der neunziger und Anfang der nuller Jahre: Sie stellen die Mehrheit der Regierungen, aber es gelingt ihnen nicht, daraus ein gemeinsames Projekt zu machen.

Die neue Schwäche der einen führt aber nur bedingt zu neuer Stärke der anderen. Von einer gemeinsamen, europäisch abgestimmten Antwort für die Bürger ist Europas Sozialdemokratie weit entfernt. Die offenen Fragen werden seit Jahren auch in der SPD gestellt: Ist Pragmatismus gefragt oder eine dezidiert „linke“, auf Umverteilung gerichtete Politik? Soll Wachstum Vorrang haben oder Ressourcenschonung? Soll die Partei die Angst der Bürger vor dem Abstieg und den Zorn auf Banker und Reiche schüren oder Glaubwürdigkeit dadurch erreichen, dass sie gerade keine Umwälzungen verspricht, die sie im Zweifel gar nicht durchsetzen kann?

Erst einmal bündnisfähig werden

Wenn Sozialdemokraten gestalten und nicht in der Opposition verharren wollen, müssen sie mehrheitsfähig bleiben – in einem neuen Sinne. Die klassische Mehrheitsfähigkeit ist verschwunden, also die gute alte Zeit, in der eine „eigene Mehrheit“ oder eine Koalition mit nur einer anderen Partei möglich war. Selbst bei einem aus heutiger Sicht guten Abschneiden wie in Nordrhein-Westfalen werden nur halb so viele Wähler erreicht wie vor 10 oder 15 Jahren, rechnet man die geringere Wahlbeteiligung ein. Die Mobilisierung der Sympathisanten reicht oft nicht aus, und so landen Sozialdemokraten im Zweifel knapp hinter einem Konkurrenten wie der CDU in NRW oder der rechtsliberalen VVD in den Niederlanden.

Wenn Sozialdemokraten dennoch regieren wollen, müssen sie in der Lage sein, vergleichsweise breite Bündnisse zu schmieden. Die sichersten Partner sind die Grünen, dazu kommen Linksparteien und Liberale. Als „die, die uns nahe sind“, hat Job Cohen, der Spitzenkandidat der Partij van de Arbeid in den Niederlanden, die dortigen Grünen und die Linksliberale D66 bezeichnet. Aber selbst unter Einbeziehung der sozialistischen SP gab es für ihn keine linke Mehrheit. Die ewigen Appelle der deutschen Linkspartei, die SPD möge doch endlich zur reinen Lehre ihrer Tradition zurückkehren und auf einen antikapitalistischen Kurs einschwenken, hilft in einem solchen Fall nicht weiter. Wenn es keine linke Mehrheit gibt, brauchen Sozialdemokraten die Mitte. Die niederländischen Sozialisten übrigens, die linke Konkurrenz der PvdA, haben deutlich verloren und nicht wenige ihrer Wähler an den ausländerfeindlichen Geert Wilders abgeben müssen.

Der Aufstieg der Rechtsparteien in vielen Staaten offenbart auch ein anderes Dilemma für sozialdemokratische Wahlstrategen. Wähler aus den Arbeitermilieus machen ihre Probleme mit der Globalisierung an „den Ausländern“ fest, während Einwanderer in den europäischen Großstädten eine wichtige Wählergruppe  geworden sind und in französischsprachigen Regionen oft schon eine starke Rolle in der Mitgliedschaft spielen. Auch dem neuen Regional-Nationalismus, wie er sich bei der jüngsten Wahl in Belgien gezeigt hat oder im Norden Italiens, stehen die sozialistischen Parteien noch ohne schlüssiges Konzept gegenüber.

Angstpolitik können andere besser


Forderungen nach einem Linksruck oder das Konzept einer „Sozialdemokratie der Angst“, wie sie der britische Historiker Tony Judt empfiehlt, sind in dieser Lage mit Vorsicht zu genießen. Ängste verbreiten und politisch ausschlachten können andere besser. Und als Verteidiger nur des Althergebrachten, als Schutzmacht der Mühsamen und Beladenen und als Verteidiger des Sozialstaats allein werden sich  Mehrheiten nur in Einzelfällen erzielen lassen. Einfach neue Sozialleistungen zu versprechen wie die wallonischen Sozialisten, ist angesichts einer erdrückenden Staatsverschuldung wenig glaubwürdig. Immer nur zu mahnen, es müsse wild gespart werden und „There is no alternative“ reicht aber auch nicht. Es geht um einen dritten Weg zwischen Bundesbank und Verdi.

Lest wieder Giddens!

Der Begriff „dritter Weg“ ist absichtlich gewählt. Anthony Giddens Vorschläge für eine moderne Sozialdemokratie vom Ende der neunziger Jahre lohnen durchaus, wiedergelesen zu werden. Dass Tony Blair sich in den Augen der meisten Sozialisten vor allem aufgrund seiner Irak-Politik und seines Verhaltens gegenüber der EU unmöglich gemacht hat, ändert nichts an den guten Konzepten bei Giddens, etwa dem des aktivierenden Sozialstaats. Folgende Ansätze scheinen mir möglich, die allesamt mehr Durchschlagskraft haben, wenn sie abgestimmt in ganz Europa von den Mitte-Links-Parteien vertreten werden.

Erstens: Politik machen zugunsten der Realwirtschaft und einer „grünen“ Wirtschaft. Dazu gehört, den Finanzsektor zu schrumpfen, auch durch Abgaben und Steuern, die auf den ersten Blick auch Privatleute und Firmen treffen. Reichen-Bashing löst die Probleme des Sozialstaats nicht, aber die obersten Einkommensschichten können über Vermögens- und Erbschaftssteuern mehr zum Gemeinwohl beitragen. Die Umwelt- und Energiepolitik muss konsequenter werden, Kohle- oder Autonostalgie sind kein Zukunftsprogramm. Wachstumsverzicht, wie ihn manche fordern, ist die falsche Alternative: Es geht um menschen- und umweltfreundliches Wachstum.

Zweitens: Bürgernah agieren. Tony Judt hat Recht, dass es wichtig ist, soziale Strukturen zu erhalten und zu stärken. Dazu gehört aber auch, soziale Probleme und Probleme der Integration – die eng zusammenhängen – nicht zu leugnen. Stadtplanung, Quartiersmanagement, öffentliche Sicherheit und ständige Investitionen in die Infrastruktur müssen zusammengedacht werden.

Drittens: Der Sozialstaat ist für die EU konstitutiv. Sozialdemokraten müssen ihn verteidigen. Aber nicht an den falschen Stellen. Was spricht gegen das jüngst in Papieren der EU-Kommission aufgetauchte Prinzip, dass zwei Drittel des Erwachsenenlebens mit Arbeit und ein Drittel in Rente verbracht werden sollen (so etwa ist die Lage heute)? Längere Lebensarbeitszeiten sind die bessere Alternative zu deutlich höheren Arbeitskosten oder zu geringen Renten.

Die EU-Bürger sind vom Neoliberalismus enttäuscht, aber sie sind nicht sozialistischer als vor zehn Jahren. In einer Zeit, in der mehr Politik nötig ist, erwarten sie insgesamt weniger von der Politik. Sie erwarten, ich komme bewusst noch einmal auf die Formeln vom Ende der neunziger Jahre zurück, „good governance“, gutes Regieren.

Europas sozialdemokratische Parteien sind immer noch sehr mit sich selbst beschäftigt. Dabei nehmen die Parallelen der politischen Entwicklung in den EU-Staaten zu. Für die Sozialdemokratie wird es Zeit, gemeinsam zu verabreden, wie und mit welchen Bündnissen die soziale Demokratie in der EU verteidigt werden kann. «

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