Bloß nie mehr Schlachtfelder!

Die Europäische Union wird für ihre vermeintlich übermäßig komplizierten Verfahren heftig kritisiert. In Wirklichkeit sichern die gemeinsamen Regeln und Institutionen erfolgreich den Frieden in Europa

Frieden, Freiheit, Demokratie! Diese drei Begriffe werden immer beschworen, wenn es um Europa geht. Ein weiteres Element war bis zur Finanzkrise das Wachstumsversprechen: Es soll den Bürgern der Europäischen Union immer besser gehen. Frieden und Freiheit sind innerhalb der EU gesichert, daran wurde in kaum einer der Debatten vor der Europawahl gezweifelt. Dennoch wird in der EU insgesamt und in der Eurozone im Besonderen über eine europäische Krise geredet.

Dieses Krisengefühl ist am stärksten bei den Gegnern einer weiteren Integration beziehungsweise den Euro-Skeptikern auf der einen Seite und den besonders engagierten Befürwortern einer weiteren Integration auf der anderen Seite ausgeprägt. Die einen sehen den Euro zum Scheitern verdammt, die anderen das wichtigste Projekt auf dem Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg bedroht. Vor der Wahl waren die Kritiker und Skeptiker oft lauter als die Befürworter der Integration, und das Krisengefühl spiegelt sich auch im Wahlausgang wider.

Die Erinnerung an Europas Kriege verblasst

Dieser Artikel will dem Krisengefühl zwei Thesen entgegenstellen. Erstens: Die EU ist mit all ihren komplizierten Regeln und Verfahren für die Mehrheit der Einwohner, Unternehmen und Institutionen alltäglich und wird im Grundsatz nicht infrage gestellt. Zweitens: Gerade die so oft gescholtenen Institutionen garantieren diese Normalität. Institutionen, Verfahren und Regeln, denen sich selbständige Nationen unterwerfen, sichern den Frieden. Einen Frieden, den in Europa unabhängige Staaten allein, verbunden und geteilt durch machtpolitische Bündnisse wie vor dem Ersten Weltkrieg, nicht sichern konnten.

Beginnen wir mit einer historischen Einordnung, für die das Jahr 2014 zwei Stichworte liefert: 100 Jahre Erster Weltkrieg und Euromaidan. Die Erinnerung an den 100. Jahrestag der Krise, die zum Ersten und damit auch zum Zweiten Weltkrieg führte, zeigt uns noch einmal deutlich, wie weit wir es in und mit der EU gebracht haben.

Die Krim-Krise und die ihr vorausgegangene Revolution in der Ukraine mahnen an, dass jenseits der Grenzen der EU Frieden, Freiheit und Demokratie immer noch gefährdete Güter sind, ja dass die EU als Vorbild nicht ausgedient hat.

Die traditionelle „große Erzählung“ über den Sinn der EU handelt davon, wie engagierte Frauen und Männer nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges die Feindschaft überwinden und sich auf den Weg in die „Vereinigten Staaten von Europa“ begeben, wie es Winston Churchill bereits 1946 forderte. Der erste EU-Vorläufer, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, hatte vor allem wirtschaftliche Gründe. Doch die Erinnerung an den Krieg bis zum Beschluss über die Einführung des Euro in der Spätphase der Amtszeit von Helmut Kohl hatte die Akteure entscheidend geprägt. Erst in der so genannten Eurokrise hat zum ersten Mal eine Generation von Politikern über die Zukunft Europas entschieden, die keine persönliche Kriegserfahrung mehr hat. Viele heute verantwortliche Politiker mögen noch durch Erzählungen der Eltern und Großeltern einen Bezug zum Krieg haben. Aber bei den Jungwählern ist die historische Erfahrung naturgemäß verblasst. Ohnehin spielt für sie geschichtliche Erinnerung im Alltag eine geringere Rolle als für frühere Generationen. Eric Hobsbawm hat schon 1994 in seinem Werk Das Zeitalter der Extreme angemerkt: „Die meisten jungen Menschen wachsen in einer Art permanenter Gegenwart auf, der jede organische Verbindung zur Vergangenheit fehlt.“

Vom Zweiten Weltkrieg und Adolf Hitler, von der deutschen Teilung und der Mauer haben auch unter 20-Jährige zumindest gehört. Sehr weit weg aber ist für viele der Erste Weltkrieg. Dabei ist der Kriegsausbruch gerade einmal drei bis vier Generationen her. Vielleicht gerade lange genug, damit einerseits im Gedächtnis der Völker der Wahnsinn noch in Erinnerung und anderseits eine nüchterne Analyse möglich ist. In der wissenschaftlichen Rückschau verschmelzen die beiden Weltkriege und die dramatische Zwischenkriegszeit zunehmend zu einem der ganz großen Rückschläge der Menschheitsgeschichte. Wirtschaftlich war das Zeitalter des Imperialismus vor 1914 eines des wirtschaftlichen, technischen und sozialen Fortschritts in Europa. Schon damals waren die Grenzen für diejenigen offen, die sich Reisen leisten konnten. Dieser Wachstumspfad wurde jäh unterbrochen. Ohne den zweifachen Krieg hätte man auf dem Gebiet der späteren EU wohl schon in den fünfziger Jahren den Lebensstandard der siebziger Jahre erreichen können.

Der Krieg war ein Verbrechen mit Millionen Opfern. Aber selbst wenn man alle moralischen Erwägungen beiseitelassen würde, bliebe das Verhalten der Verantwortlichen dumm, weil jedes Land viel mehr verlieren als gewinnen konnte. Das vielzitierte Buch Die Schlafwandler von Christopher Clark beschreibt eindrücklich, wie in den Tagen zwischen dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dem Kriegsbeginn mit dem deutschen Einmarsch in Polen und Belgien alle Chancen vertan wurden, einen Krieg zu verhindern. Dabei hatten die Staaten untereinander nicht nur enge Wirtschaftsbeziehungen, die nicht allein herrschenden, aber doch mächtigen Monarchen hatten auch noch vielfältige Verwandtschaftsbeziehungen. Und viele der Staaten waren Vielvölkerstaaten. Aber weder die jahrelange Kriegsvorbereitung vor allem in Deutschland noch die gefährliche Kriegsbereitschaft in anderen Staaten wurden gebremst.

Die Ukrainer wünschen sich, was wir bereits haben

Was also fehlte damals? Genau das, was wir heute in der EU haben! Erstens: entwickelte Demokratien. Es gab zwar Parlamente und Parteien, aber kein allgemeines Wahlrecht und keine klare Gewaltenteilung mit juristischer Kontrolle der Politik. Zweitens: Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedsstaaten und ein über die Staatsgrenzen hinausgehendes Regelwerk mit gemeinsamen Institutionen.

Als Ende 2013 die Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew begannen, spielten die Forderungen nach Recht und Demokratie eine entscheidende Rolle. Wäre es nur um vordergründige Wirtschaftsinteressen gegangen, hätte es die Proteste gegen das Scheiternlassen des Assoziierungsabkommens mit der EU nicht geben müssen. Russland hatte mehr geboten. Aber die Maidan-Bewegung hatte das Gefühl, dass die Hinwendung nach Russland zum dauerhaften Verlust von demokratischer Freiheit führen würde. Dafür aber stand die EU. Deshalb wurden Europafahnen geschwenkt und der Platz in Euromaidan umbenannt. Selbst hartgesottene Fans der EU rieben sich die Augen, als sie sahen, wie das daheim gerade gar nicht so beliebte Europa östlich der EU-Grenze zum positiven Symbol wurde.

Die Ukrainer wollten mehrheitlich eben selbst entscheiden, wie das politische System ihres Landes aussehen soll. Dass die Machtbalance in Europa, ja der Welt deshalb ins Wanken geraten ist, war nicht ihre Absicht. Dass nun plötzlich die machtpolitischen Prinzipien des Jahres 1914 wieder einen prominenten Platz in der öffentlichen Diskussion einnehmen, verwischt, dass es um eine Systemfrage geht. Die heißt allerdings nicht mehr Kapitalismus gegen Sozialismus, denn kapitalistisch ist Russland längst.

Das eine System, das der EU (und der anderen G7-Staaten) ist eines, in der Demokratie durch ein System der Machtaufteilung rechtlich abgesichert ist. In der EU kommt dazu, dass die Mitgliedsstaaten einen Teil ihrer Souveränität an die Gemeinschaft abgeben.

Auch diese einmalige Errungenschaft der EU wird in der Krim-Krise deutlich. Die EU-Staaten sind nicht nur demokratische Rechtsstaaten, sie unterwerfen sich einem gemeinsamen Rechtssystem. Russlands Präsident Wladimir Putin denkt noch national, die EU arbeitet postnational. Sie ist eine Weiterentwicklung des nach dem Dreißigjährigen Krieg etablierten „westfälischen Systems“ der souveränen Nationalstaaten und könnte Vorbild für andere Regionen der Welt sein. Die Demokratie und die Institutionen in Europa sind auf Dauer angelegt und sollen auch noch tragen, wenn die letzten Zeugen des Menschheitsverbrechens 1914 bis 1945 gestorben sind. Man kann sich wunderbar über die Institutionen und über die umständlichen Entscheidungsprozesse in der EU ärgern. Aber Institutionen und Gesetze sichern den Rechtsstaat, im Falle der EU ein ganzes Staatensystem.

Um Bananen geht es so gut wie nie

Demokratie heißt Verhandlung, nicht Anordnung von oben. In der EU werden ständig unterschiedliche ökonomische und politische Interessen, ja auch unterschiedliche Traditionen austariert. Wenn die gemeinsamen Interessen groß genug sind, gibt es gemeinsame Regeln. Das sind viele, und fast nie betreffen sie Bananen. Der gemeinsame Markt, die gemeinsame Währung, gemeinsame Prinzipien für die Mehrwertsteuer, der gerade vereinbarte Austausch von Steuerdaten, in der Eurozone zunehmend auch die Koordination der Wirtschaftspolitik.

Für die Einhaltung der Regeln sind – wie auch in jedem Staat – Institutionen zuständig. Wie es keinen Staat ohne Institutionen gibt, kann es auch keine Staatengemeinschaft ohne Institutionen geben. Diese garantieren die Einhaltung der Regeln, wenden das Recht an, sammeln wie Eurostat oder auch Interpol Informationen. Kurzum: Sie machen das, was zentral besser geht.

Die neue Bankenaufsicht bei der Europäischen Zentralbank ist das jüngste Beispiel für eine solche Gemeinschaftsinstitution. Sie gilt für die Eurozone und ist offen für andere Staaten. Das System in der EU ist flexibel, nicht jeder Staat muss bei jedem Thema Souveränität abgeben. Am Ende wird das vergemeinschaftet, von dessen Vergemeinschaftung sich die Beteiligten zusätzlichen Nutzen versprechen. Auch die Bankenunion folgt so dem Subsidiaritätsprinzip – alles soll auf der Ebene gemacht werden, wo es am besten gemacht werden kann. Nimmt man das als Maßstab, wird die Übertragung von Kompetenzen auf die EU- oder Euro-Ebene weitergehen.

Zur Demokratie gehört, dass Institutionen kritisiert werden, dass sie sich der Diskussion mit den Parlamenten stellen und dass ihr Handeln gerichtlich überprüft werden kann. Kritik an einzelnen Entscheidungen der EU-Institutionen ist genauso wenig „europafeindlich“ wie Kritik an der deutschen oder französischen Regierung deutschland- oder frankreichfeindlich ist. Viele Kritiker der EU und ihrer Institutionen halten das aber nicht auseinander: Sie kritisieren nicht einzelne Entscheidungen oder diejenigen, die entschieden haben, sondern pauschal die „Brüsseler Bürokratie“ oder gleich alle Institutionen.

Für die Jüngeren ist die EU schlicht eine Tatsache

Die EU ist kein „Projekt“ mehr, ein Projekt kann man beenden, sie ist historisch gewachsene Realität. Die Bürger sind mehrheitlich offenbar viel gelassener, als die im Internet reichlich zu findenden Verschwörungstheorien und Hasstiraden gegen Europa vermuten lassen. Gerade für die Jüngeren ist die EU weniger emotional besetzt, dafür aber einfach eine Tatsache wie der jeweilige Nationalstaat. Ohne Jürgen Habermas gelesen zu haben, fühlen sie sich als Bürger ihres Landes und als Unionsbürger zugleich. Wer mit dem Euro aufgewachsen ist, kommt meist nicht auf die Idee, ihn wieder abzuschaffen. Den größeren Zuspruch der Jüngeren belegen auch Umfragen. Die sagen übrigens auch, dass sowohl in Griechenland wie in Deutschland – trotz aller gegenteiligen Schlagzeilen der vergangenen Jahre – eine klare Mehrheit die Gemeinschaftswährung behalten will.

In den Krisenjahren, denen jetzt hoffentlich, wie es Mario Draghi formulierte, „Jahre der Erholung“ folgen, haben sich die Strukturen und die Institutionen der EU und der Eurozone letztlich bewährt. Sie haben für Stabilität gesorgt. Wo das System nicht gut genug funktioniert hat, wurde es verändert. Europa wird durch den guten Willen seiner Bürger und das Engagement seiner Regierungen zusammengehalten, aber eben auch durch Verfahren und Regeln.

Als die Staats- und Regierungschefs der EU am 26. Juni 2014 zusammenkamen, zwei Tage vor dem 100. Jahrestag des Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand, trafen sie sich im belgischen Ypern, einem der grausamsten Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, gelegen an einer Front, in der jeder Meter Geländegewinn hunderte Menschenleben kostete. Es war der erste Gipfel seit vielen Jahren, der nicht in Brüssel stattfand, und er machte bewusst, dass Zerstören leichter ist als Aufbauen. Der zweite Gipfeltag fand dann wieder im nüchternen Ratsgebäude in Brüssel statt, wo schon so viele scheinbar endlose Verhandlungen geführt und komplizierte Kompromisse gefunden worden waren. Auch hier wurde um Einfluss gerungen, aber im Saal und nach Regeln und eben nicht auf dem Schlachtfeld.

Der Autor vertritt seine private Meinung und spricht nicht für seine Institution.

zurück zur Ausgabe