Sozialpolitisches Überraschungsei

Der demografische Wandel stellt die zukünftige Sozialpolitik vor drei zentrale Fragen, für die es in Deutschland bislang kaum ein Bewusstsein gibt

Kaum ein Wort wird in Politikerreden häufiger verwendet als der Begriff „Wandel“. Die Politik selbst jedoch scheint sich erstaunlich langsam zu wandeln. So wird auf die sozialpolitischen Herausforderungen der Zukunft noch immer mit den Ideen der Vergangenheit reagiert. Besonders deutlich wird das beim demografischen Wandel. Dieser entpuppt sich als Überraschungsei, denn er beschert den Sozialpolitikern gleich drei Herausforderungen auf einmal: Alterung, neue Familienformen und veränderte Lebensverläufe. Die Menschen werden älter, sie geben ihrem Zusammenleben neue Formen, und ihre Biografien folgen nicht mehr dem klassischen Muster von Ausbildung, Arbeit und Ruhestand.

Obwohl alle drei Trends wohlbekannt sind, reduziert die sozialpolitische Diskussion in Deutschland den demografischen Wandel immer noch auf das Stichwort „Überalterung“. Nach dem Motto „steigende Lebenserwartung“ plus „wenig Geburten“ gleich „zu viele alte Menschen“ gleich „zu hohe Kosten für den Staat“. Daher bleiben die Antworten der Sozialpolitik holzschnittartig, auch weil die aus den demografischen Veränderungen des Landes abgeleiteten Fragen nur an der Oberfläche kratzen. Mehr ältere Menschen? Renteneintrittsalter rauf! Die klassische Familie im Umbruch? Das Elterngeld wird für mehr Kinder sorgen! Diese Annahme hat sich noch dazu als falsch erwiesen. Im Jahr 2009 ist die Geburtenrate trotz der milliardenschweren Maßnahme weiter gesunken, von 1,38 auf 1,36 Kinder pro Frau.

Um adäquat und nachhaltig auf die zukünftigen Konsequenzen des demografischen Wandels zu reagieren, sollte sich ein vorausschauender Sozialpolitiker nicht ausschließlich mit vordergründigen Symptomen beschäftigen. Vielmehr geht es darum, die wesentliche Aufgabe des Sozialstaats – die Gewährleistung gesellschaftlicher Stabilität mittels sozialer Sicherung – unter den Bedingungen von Alterung, neuen Familienformen und veränderten Lebensverläufen neu zu definieren. Denn wir stehen erst am Beginn des demografischen Wandels. Zukünftige Sozialpolitik kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie erneuert wird und stärker auf die sich wandelnden Lebensverhältnisse der Menschen eingeht. Dazu müssen Lösungen für drei zentrale Fragen gefunden werden.

Erstens: Was bedeutet Generationengerechtigkeit in einer alternden Gesellschaft? Seit dem Zweiten Weltkrieg steigt die Lebenserwartung in Deutschland wie in allen entwickelten Ländern mit bewerkenswerter Regelmäßigkeit um etwa drei Monate pro Jahr; Frauen können derzeit eine durchschnittliche Lebensspanne von mehr als 82 Jahren erwarten. Nichts deutet darauf hin, dass dieser Trend schwächer wird, so dass ein heute geborenes Mädchen gute Chancen hat, 100 Jahre alt zu werden.

In Kombination mit den seit Jahrzehnten niedrigen Geburtenzahlen führt dies zu einer Alterung der Bevölkerung, die im internationalen Vergleich relativ schnell voranschreitet: Bis zum Jahr 2050 wird sich der Anteil der über 65-Jährigen an der deutschen Bevölkerung auf ein Drittel verdoppeln, während gleichzeitig die Gruppe der 15- bis 64-Jährigen um ein Fünftel schrumpfen wird. Der Aufbau der Alterspyramide steht damit vor einer fundamentalen Veränderung, die das Verhältnis von Alt und Jung zahlenmäßig auf den Kopf stellt.

Gleichrangige Interessen der Generationen?


Nun ist klar, dass bei einer Lebensspanne von 80, 90 oder 100 Jahren das Renteneintrittsalter angepasst werden muss, denn bis zu 40 Jahre im Ruhestand zu verbringen, ist weder für das Individuum noch für die Gesellschaft sinnvoll. Staatliche Ressourcen würden verschwendet, die Potenziale der Älteren zunehmend ungenutzt bleiben. Leider scheint sich generationengerechte Politik momentan in der Rente mit 67 zu erschöpfen. Warum diese notwendige Reform, die allerdings erst in 20 Jahren voll zum Tragen kommt, generationengerecht sein soll, bleibt unklar. Ein grundlegender Diskurs über die sozialstaatlichen Rechte und Pflichten verschiedener Generationen in Deutschland steht aus. Wenn die Kanzlerin feststellt, „dass die spezifischen Interessen der einzelnen Generationen gleichrangig nebeneinander stehen“, dann ist dies Ausdruck einer gewollten Ratlosigkeit, die nicht ungefährlich ist. Angesichts der demografischen Verschiebungen können die Interessen von Alt und Jung nicht gleichrangig bleiben. Die zentrale Frage ist deshalb, wie die berechtigten Ansprüche der verschiedenen Altersgruppen sozialpolitisch so ausgestaltet werden, dass jede Generation auch in Zukunft eine würdige und gerechte Chance auf gesellschaftliche Teilhabe hat.

Hierüber muss ein gesellschaftlicher Konsens erzielt werden, weil sich die sozialpolitischen Erwartungen verschiedener demografischer Gruppen unterscheiden. Beispielsweise halten ältere und kinderlose Personen staatliche Transfers an die jüngere Generation (etwa das Kindergeld) für weniger wichtig als junge Eltern. Ein Konflikt zwischen den Generationen über staatliche Ressourcen liegt damit in Zukunft durchaus im Bereich des Möglichen, auch wenn Politiker wie Interessengruppen sich bislang gegen diese These wehren. Ihr Argument: Das Verhältnis zwischen Alt und Jung sei innerhalb der Familie besser denn je. Tatsächlich fließen zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln beträchtliche finanzielle Transfers. Allerdings steigt der Anteil der kinderlosen Menschen in Deutschland stetig. Zudem kann sich ein modernes staatliches Gemeinwohl nicht nur auf Prozesse innerhalb der Familie stützen, sondern muss das abstraktere Verhältnis zwischen Mitgliedern verschiedener Generationen in den Blick nehmen, die nicht miteinander verwandt sind. „Geben ist immer dann ein Problem, wenn der Empfänger anonym bleibt“, formulierte es ein ehemaliger Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales.

Zweitens: Welche Art von familiärer Stabilität soll sozialstaatlich gefördert werden? Die Ursachen für die niedrigen Geburtenraten liegen hauptsächlich in dem erwähnten Anstieg der Kinderlosigkeit. Immer mehr Frauen und Männer bleiben zeitlebens ohne Nachwuchs. So hat das Statistische Bundesamt kürzlich errechnet, dass die Kinderzahl je Mutter stabil geblieben ist, während der Anteil kinderloser Frauen kontinuierlich ansteigt und in der Altersgruppe 40 bis 44 Jahre aktuell bei 21 Prozent liegt.

Dies wird die zukünftigen Familienstrukturen in Deutschland deutlich verändern. Hinzu kommt, dass sich Rhythmik und Häufigkeit weiterer demografisch relevanter Ereignisse und Phasen – Heirat, Scheidung, das Zusammenleben mit und ohne Trauschein – ebenfalls wandeln. Es kommt zu einer Pluralisierung familiärer Lebensformen über alle Altersgruppen hinweg. Hochrechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung gehen beispielsweise davon aus, dass der Anteil unverheirateter Männer in der Altersgruppe 65 bis 69 Jahre bis 2030 von heute 17 auf 36 Prozent ansteigen wird. Seit Jahren wachsen die Scheidungszahlen unter den 25 Jahre und länger Verheirateten am schnellsten. Für einen Neuanfang auch im höheren Alter scheint es also immer mehr Akzeptanz und Willen zu geben. Doch unverheiratet ist dabei nicht mit alleinstehend gleichzusetzen. Der Anteil nichtehelicher Lebensgemeinschaften wird sich bei den 65- bis 69-Jährigen in den kommenden zwei Jahrzehnten auf 8 Prozent mehr als verdoppeln.

Somit hat es die Sozialpolitik mittelfristig mit einer ziemlich unübersichtlichen Situation zu tun. Dennoch orientieren sich viele Sozialpolitiker weiter am Idealmodell der traditionellen Familie. Schließlich ist es deutlich einfacher, diese auf Langfristigkeit ausgelegte Form des Zusammenlebens staatlich zu kontrollieren und zu organisieren. Die traditionelle Familie wird auch deshalb vom Staat privilegiert, weil sie in einem verlässlichen zeitlichen und institutionellen Rahmen zentrale gesellschaftliche Aufgaben übernimmt und so Stabilität sichert. Wenn zwei Menschen füreinander Verantwortung übernehmen, einander also in schwierigen finanziellen, gesundheitlichen oder sozialen Situationen helfen, entlastet dies die öffentliche Hand und stärkt gleichzeitig das Gemeinwesen. Doch die Ansicht, dass dieses Verantwortungsgefüge nur in der klassischen Familienform funktioniert, ist angesichts der demografischen Veränderungen überholt. Bereits heute entscheidet sich nur noch etwas mehr als die Hälfte der Deutschen für diese Art des Zusammenlebens. Es ist davon auszugehen, dass es in Zukunft noch weniger sein werden.

Die entscheidende Frage für den Sozialstaat wäre nun, welche Formen von „Familie“ er neben der traditionellen rechtlich und finanziell fördert. Entlastet eine intensive Patenschaft für das Kind eines alleinerziehenden Elternteils nicht den Staat? Ist eine stabile Partnerschaft zwischen zwei verwitweten oder geschiedenen Senioren, die beide ihren eigenen Haushalt behalten, sich aber gegenseitig wie in einer Ehe unterstützen, nicht ebenso wichtig für eine Gesellschaft wie eine klassische Verbindung zwischen Mann und Frau mit Trauschein? Die dringend notwendige, grundlegende Diskussion darüber, was moderne Formen familiärer Stabilität eigentlich sind und ob der Staat sie fördern kann, bleibt aus, auch weil es dafür noch kein ausreichendes Bewusstsein gibt. In der offiziellen Statistik finden so genannte haushaltsübergreifende Beziehungen beispielsweise gar nicht statt.

Drittens: Wie kann der Sozialstaat den Einzelnen unter den Bedingungen zunehmender Unsicherheit bei den Entscheidungen über seinen Lebensverlauf unterstützen? So vielfältig wie die Formen des Zusammenlebens gestaltet sich mittlerweile auch der Lebensverlauf der Menschen. Die konventionelle Abfolge Ausbildung, Erwerbstätigkeit in Vollzeit, Ruhestand trifft immer seltener zu. Dies liegt zum einen an den Zwängen einer im globalen Wettbewerb stehenden Wirtschaft, andererseits an der zunehmenden Entscheidungsfreudigkeit vieler Menschen, die ein abwechslungsreiches Arbeitsleben mit integrierten längeren Phasen der Weiterbildung oder Umschulung als bereichernd empfinden. Unter dem Schlagwort „Lebenslanges Lernen“ wird diese Entwicklung auch von der Politik als positiv bewertet. Leider sind die Strukturen unseres Sozialstaats aber immer noch auf das konventionelle Modell ausgerichtet. Erwerbsverläufe mit Brüchen werden deshalb zwangsläufig zu deutlichen Abschlägen bei der späteren Rente führen. Hinzu kommt, dass die Sozialpartner eine wechselnde Abfolge von Arbeit, Familiengründung und -leben, Auszeiten oder Weiterbildung noch nicht voll akzeptieren. Die Verwirklichung eines solchen Lebensweges ist für den Einzelnen deshalb oft schwierig und mit erheblichen Risiken verbunden.

Das eigentliche Problem liegt darin, dass das bestehende System phasenorientiert funktioniert, während die neuen Entwicklungen eine übergangsorientierte Sozialpolitik erfordern. Bei immer kürzeren und sich abwechselnden Phasen von Arbeit, Familiengründung, Arbeitslosigkeit und Bildung werden jene Punkte wichtiger, an denen der Einzelne Entscheidungen über den Wechsel in die nächste Phase zu treffen hat. In Zeiten zunehmender Unsicherheit sollte ein vorausschauender Sozialstaat deshalb Lösungen entwickeln, die Menschen bei diesen Übergängen zu unterstützen.

Auf europäischer Ebene wird dieser Paradigmenwechsel bereits diskutiert. Unter dem Titel „Making Transitions Pay“ legten Kommission und Rat jüngst ein (sehr kurzes) Diskussionspapier vor. Darin werden erste sozial- und arbeitsmarktpolitische Überlegungen angestellt, wie die Risiken bei den Übergängen zwischen den einzelnen Lebensverlaufsphasen minimiert werden können. Dass diese Risiken eine hohe Relevanz nicht nur für das Arbeitsleben, sondern auch für die demografische Entwicklung haben, belegen neuere Studien: Jene Männer, die sich gegen Kinder entscheiden, tun dies hauptsächlich aus der Sorge heraus, ihre Familie nicht ernähren zu können. Bislang beschränken sich die Vorschläge der EU-Politiker allerdings nur auf grundlegende Prinzipien wie Transparenz am Arbeitsmarkt und dem vielbeschworenen Lebenslangen Lernen, ohne dabei ins Detail zu gehen. Deutschen Politikern bietet sich in Zukunft also noch viel Gestaltungsspielraum. «

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