Soziale Demokratie 2030

Die nächste Generation der deutschen Sozialdemokratie muss dringend ein eigenes Bild davon entwickeln, wie diese Republik im Jahr 2030 aussehen soll. Sonst werden SPD und soziale Demokratie in den nächsten Jahrzehnten in schwere See geraten

Spätestens seit dem 2. Februar 2003 liegt die Zukunft der nachwachsenden Generation der SPD nicht mehr darin, sich als Hilfstrupp vorbehaltlos in den Dienst der Generation Schröder zu stellen. Etwas ist da zerbrochen. Die ratlosen Frontleute der Gegenwart werden ihren Nachfahren nicht mehr viel weiter helfen, den Jüngeren wird es künftig nicht mehr viel nützen, so zu reden, aufzutreten, zu agieren wie die Generation Schröder. Ein ganzer politischer Stil ist an seine Grenzen gestoßen. Man hat es kommen sehen, doch nun ist es gewiss: Den organischen Übergang, das schlichte Weiter-so wird es in der SPD nicht geben können. Die nachwachsenden Politiker der Partei haben heute tatsächlich andere Interessen als die angeschlagene Führungscrew - ja, sie müssen andere Interessen haben. Sie wollen, erstens (und legitimerweise), übrigbleiben. Ihnen muss es, zweitens, darum gehen, dass diese Republik, die derzeit, let′s face the facts, in den schwersten ökonomischen und außenpolitischen Krisen ihrer Geschichte steckt, nicht den Bach herunter geht.

Sie haben nicht bloß noch drei Jahre, sie haben drei aktive Jahrzehnte vor sich. Sie müssen die schwer ins Straucheln geratene deutsche Sozialdemokratie unter widrigen Bedingungen in den Stand versetzen, die kommenden Jahrzehnte (und noch etliche mehr) intakt zu überdauern. Der regierenden Generation Rotgrün scheint das kein vordringliches Anliegen mehr zu sein: Sie hat bald fertig, das verändert Bewusstsein und Perspektive. Doch genau deshalb müssen die grosso modo 30- bis 45-Jährigen der SPD buchstäblich jetzt anfangen, ihr eigenes Projekt zu buchstabieren. Für die Zeit danach, wenn die Episode (oder Periode) der rotgrünen Generation vorbei ist, deren Abenddämmerung wir derzeit erleben.


Selbstverständlich wird die Sache schwierig. Und natürlich dürfen die einstweilen staatstragenden Jüngeren in der SPD nichts tun, was ihnen als Sabotage an der eigenen Regierung ausgelegt werden könnte. Müssen sie aber auch gar nicht. Denn was sie eigentlich brauchen, das ist eine systematische Strategie des Themen- und Reichweitenwechsels. Um sich zu behaupten, muss die nächste Generation auf einen neuen und anderen, eigenen und grundsätzlicheren Diskurs ausweichen. Auf einen Diskurs der Ideen, den ihnen die Münteferings und Schröders sogar anstandslos durchgehen lassen werden, weil sie gerade auf diesem Frequenzbereich eher nicht so viele Signale empfangen.

Den sie dulden werden, weil sie ihn - kurioserweise - nicht für wichtig halten und nie für wichtig gehalten haben. Die Jüngeren müssen jetzt anfangen, was den regierenden Rotgrünen so unendlich schwer fällt. Sie müssen über Ziele und Perspektiven reden, über die gute Gesellschaft und das richtige Leben. Nicht clementös kurzatmig darüber, was angeblich ganz dringend - sofort, übermorgen, in den nächsten drei Wochen oder Monaten - getan werden muss, nicht über irgendeine Einzelheit irgendeiner Gesetzesnovelle. Was die Gegenwart angeht, lässt die Generation Schröder den eigenen Nachwuchs sowieso nicht so richtig mitspielen, wenn es ernst wird.

Sprechen wir über wirklich Wichtiges

Umso besser. Denn sprechen können die Jüngeren dann desto freier, kreativer und phantasievoller über Wichtigeres. Darüber, wie dieses Land in, sagen wir, 30 Jahren aussehen sollte. Und darüber, was geschehen muss, damit es so kommt. Was, beispielsweise, muss mit und in dieser Republik passieren, damit 1965 Geborene, wenn sie 2030 in den Ruhestand treten, eine anständige Rente bekommen und mit ihren Enkeln im öffentlichen Bus ins städtische Schwimmbad fahren können, ohne Angst davor, in der vergammelten Fußgängerunterführung von entfremdeten und marginalisierten arbeitslosen Migrantenjugendlichen der siebten oder achten Generation ausgeplündert zu werden? Welche Politik ist nötig, damit die jetzt nach vorn tretende Generation ihren Kindern in zwanzig oder dreißig Jahren ein intaktes Land übergeben kann?

Die Fundamente bröseln

Bis dahin muss vieles geschehen. Und vieles muss miteinander in Einklang gebracht werden, weil sich vieles wechselseitig bedingt. Wirtschaft. Arbeit. Bildung. Familie. Das alles ist wichtig, wenn die Jungen hinbekommen wollen, was sie um fast jeden Preis benötigen: einen positiven eigenen Diskurs. Als unberechenbare "Bewegung 2. Februar" hat die SPD jüngst vor allem Angst und Schrecken verbreitet. Ungeschickterweise verunsichert sie genau jene am meisten, denen sie in unübersichtlichen Zeiten einen Weg in die Zukunft weisen müsste. Während dem Land das makroökonomische Fundament wegbröselt, verzettelt man sich in kontextlose Scharmützel über Details.

Und noch immer vertritt mancher sozialdemokratische Politiker in Talkshows Ansichten, an denen auch das karitativ gesinnte Bürgertum des 19. Jahrhunderts seine Freude gehabt hätte. Es darf aber für eine Sozialdemokratie, die ihre Zukunft noch erleben will, gerade nicht darum gehen, die sowieso schon Schwachen oder Verängstigten weiter einzuschüchtern. Ein Land wie die Bundesrepublik würde dadurch nur in einen ökonomischen, sozialen und psychischen Verelendungszyklus gestürzt. Ein wirtschaftliches und soziales race to the bottom kann eine sozialdemokratische Partei nur verlieren. Immer und überall. Es muss für die SPD vielmehr gerade darum gehen, unter - in der Tat - fundamental neuen Bedingungen die Kategorien der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität, der Freiheit, der Pflichten und der Rechte neu zu definieren, statt gegeneinander auszuspielen. Und es kommt dabei für Sozialdemokraten um fast jeden Preis darauf an, dass sie Mut machen und nicht Angst, mitnehmen und nicht zurücklassen, einschließen und nicht ausgrenzen.

Kündigung. Und neuer Schutz

Das verbietet jeden unreflektierten Traditionalismus. Gerade wo jüngere Sozialdemokraten die emanzipatorischen Anliegen ihrer Partei retten und mit neuem Leben erfüllen wollen, müssen sie sich von den Steinzeitdoktrinen der ÖTV-Sozialstaatler in der SPD glashart absetzen. Eine Sozialdemokratie, die ihre Aufgabe in der strukturkonservativen Verteidigung der Insassen des bestehenden sozialstaatlichen Arrangements sähe, hätte in normativer Hinsicht ihren historischen Faden verloren. Sie würde mit tödlicher Sicherheit auch ihre wahlpolitische Zukunft verspielen. Denn die Insassen der Wagenburg "Modell Deutschland" werden immer weniger.

Benennt man tatsächlich einmal das Jahr 2030 als politischen Horizont, dann ergeben schon jetzt einfachste demografische und volkswirtschaftliche Kalkulationen, dass in diesem Land in naher Zukunft (und im Grunde schon heute) buchstäblich alle Menschen gebraucht werden. Wir können auf niemanden verzichten. Überall müssen deshalb die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass so viele Menschen wie nur irgend möglich unter den Bedingungen von fortschreitender Wissensökonomie und Altersgesellschaft als optimal qualifizierte Erwerbstätige mithalten können. Daher ist heute mitnichten weniger Sozialstaat nötig als früher, sondern zunächst womöglich sogar eher mehr - auf jeden Fall aber ein völlig anderer und weitaus intelligenterer. Dieser Sozialstaat wird um des sozialen und psychischen Wohlergehens unseres Gemeinwesens willen nicht mehr stur (schwindende) Bestände verteidigen dürfen, sondern muss ermutigen und ermächtigen. Nochmals: Es werden wirklich alle gebraucht. Also sind genau jene Konzepte wertvoll, die am besten helfen, alle in den Stand zu versetzen, teilzunehmen und mitzumachen.


So gesehen kann (und wird) es gewiss auch nötig sein, über den Kündigungsschutz zu reden. Aber buchstäblich alles kommt darauf an, wie und warum man das tut: in welchem Kontext, mit welcher Absicht, mit welcher übergeordneten Zielperspektive. Keine Frage, der Kündigungsschutz, wie er heute organisiert ist, wirkt de facto als Trennkriterium zwischen Insidern und Outsidern auf dem Arbeitsmarkt und damit in der Gesellschaft. Er verhindert neue Arbeitsplätze. Er wirkt als Bremse für neue ökonomische Dynamik, die dem Gemeinwesen insgesamt zugute kommen würde. Das ist sozial ungerecht und volkswirtschaftlich hirnverbrannt. Zugleich aber lösen die meist gedanken- wie ansatzlosen Ankündigungen von "Flexibilisierung" und "Deregulierung" auf dem Gebiet des Arbeitsrechts in der derzeitigen Lage bei ungeheuer vielen Menschen panische Angst aus. Und es sind die "prekären Insider" an den Werkbänken und Supermarktkassen, die sich von der SPD verraten und im Stich gelassen fühlen - genau jene Menschen also, ohne die Sozialdemokraten am Wahltag niemals reüssieren können.

Nicht der Bankangestellte ist der Feind

Überhaupt nur unter der Bedingung, dass Sozialdemokraten eine zusammenhängende Vorstellung davon entwickeln, wie ein modernes und solidarisches sozialstaatliches Arrangement unter veränderten, schwierigeren Bedingungen organisiert sein könnte, werden sie die verzweifelte (und subjektiv so verständliche) Beharrung der real existierenden Nutznießer des welken sozialstaatlichen Status quo überwinden. Der 44-jährige Familienvater im Reihenhaus, Bankangestellter, verschuldet, von Entlassung bedroht und tief verängstigt, ist nicht der natürliche Feind der SPD. Nur wenn Sozialdemokraten Schritte zur Aktivierung, Flexibilisierung und Deregulierung durch das Versprechen neuer, gewandelter Sicherheit komplementär ergänzen, können sie mit Akzeptanz rechnen. Nur dann ist ihre Politik sozial, gerecht und solidarisch.


Um im Beispiel zu bleiben: Den Kündigungsschutz zu lockern ist notwendig - aber es ist sinnvoll und machbar nur in dem Maße, wie zugleich (etwa nach dänischem Vorbild) hohe, die Existenz sichernde Ersatzleistungen, intensive Vermittlungs- und zielgerichtete Fortbildungsangebote systematisch dafür sorgen, dass Betroffene mit weichen Übergängen und zügiger Rückkehr ins Erwerbsleben rechnen können. Alle an die Bürger gerichteten Forderungen nach mehr Flexibilität werden auch in Zukunft dort ins Leere laufen, wo sie nicht ergänzt werden durch neue Formen sozialer Absicherung, wo also der neuen Zumutung kein neues Versprechen gegenübersteht. Nicht von ungefähr verwenden dänische Sozialdemokraten den Satz "Keine Rechte ohne Pflichten" nur zusammen mit dem Satz "Keine Pflichten ohne Rechte". Beides muss für Sozialdemokraten untrennbar zusammengehören. Wo ihnen nicht beide Sätze gleich wichtig sind, da sind sie entweder nicht auf der Höhe der Zeit - oder sie haben aufgehört, soziale Demokraten zu sein.

Wider die greisenhafte Nostalgie

Der Kündigungsschutz ist nur ein marginales Beispiel, ein Instrument, über dessen Sinn und Rang sinnvoll allein im Kontext einer viel grundsätzlicheren Debatte mit dem Blick auf übergeordnete Ziele entschieden werden kann. Nur wenn die Jüngeren in der SPD diesen Diskurs eigenständig und selbstbewusst führen, ernsthaft und gründlich, im Kontrast zum eher orientierungslos anmutenden Hin und Her der derzeit Regierenden, werden sie unterscheidbar werden. Und nur wenn sie unterscheidbar werden, können sie erfolgreich sein. Nur wenn sie dem hegemonialen Mediendiskurs, der überall nach "Abbau" und "De-Regulierung" schreit, ihren eigenen positiven Diskurs von intelligentem "Aufbau" und kluger "Re-Regulierung" entgegensetzen, werden sie auch die Sozialdemokratie erhalten. Eine SPD, die aufhörte, an die Möglichkeit zeitgemäßer sozialer Demokratie zu glauben, würde unter den gegenwärtigen und zukünftigen Bedingungen unweigerlich zermahlen. Und das dann sogar zu Recht - wer würde eine solche Partei schon noch brauchen?


Und auch noch dies. Eine Sozialdemokratie, mit der sich keine Hoffnungen derer mehr verbinden, die draußen vor der Tür stehen oder ihren Abstieg befürchten, wird ohnehin todsicher untergehen. Das heißt dann aber auch, dass Sozialdemokraten überhaupt nur dann glaubwürdig Opfer von den "kleinen Leuten" fordern können, wenn sie dafür sorgen, dass zum Funktionieren des Gemeinwesens tatsächlich alle nach ihren Möglichkeiten beitragen. Anderenfalls fehlt jede ethische Legitimation für Zumutungen, gar für die allzu gedankenlos postulierten "Grausamkeiten" - die Menschen spüren das sehr genau. Sozialdemokraten werden deshalb, wo nötig, in Zukunft wieder bereit sein müssen, sich im Namen von "denen da unten" mit "denen da oben" anzulegen. Sie werden das aber nur können, wenn sie nicht selbst als "die da oben" wahrgenommen werden. Wenn sie genau wissen, was sie wollen. Und wenn klar ist, dass es keine greisenhaften Nostalgiepolitiker aus der mentalen Wagenburg des alten Sozialstaats sind, die sich da zu Wort melden. Dringend nötig ist deshalb, so paradox es klingen mag, ein zeitgemäßer sozialdemokratischer Wirtschaftspopulismus in modernisierender wie aktivierender Absicht.

Der Sozialstaat als Bedingung

Das bedeutet keineswegs die Abwendung der Sozialdemokratie von den modernen Mittelschichten, die ja heute aufgrund ihrer gesamten kulturellen Disposition weit lieber Sozialdemokraten wählen würden als die CDU - wenn sie nur den Eindruck hätten, auch ökonomisch sei das Gemeinwesen bei der SPD in guten Händen. Sehr wohl aber bedeuten diese Überlegungen, dass die Sozialdemokratie der kommenden Jahrzehnte genau darauf achten muss, zwischen verstaubter Nostalgiepolitik einerseits und neoliberalem Medienmainstream andererseits ihren eigenen Kurs zu finden - einen Kurs, der so klug sein muss, dass er seinerseits zum neuen Mainstream werden kann.


Wichtig im Hinblick auf den Zuspruch der modernen Mittelschichten ist die Einsicht, dass dieses Ge-meinwesen sowohl in gesellschaftlicher wie in wirtschaftlicher Hinsicht überhaupt nur als moderner, sich modernisierender Sozialstaat funktionieren kann. Der gern formulierte Satz, die SPD wolle "den Sozialstaat reformieren, um ihn zu bewahren", ist gut gemeint. Er führt aber in Wirklichkeit geradewegs in die Irre. Denn nicht der Sozialstaat selbst oder dessen Bewahrung kann sinnvollerweise das Ziel sozialdemokratischer Politik sein. Wer heute den Sozialstaat als Selbstzweck anpreist, hat mindestens kommunikationsstrategisch wenig verstanden. Die verdruckste Rhetorik der Bewahrung bewirkt heute das Gegenteil des Beabsichtigten. Entscheidend ist vielmehr die ganz der Zukunft zugewandte Einsicht, dass eine postindustrielle, plurale und multiethnische Gesellschaft wie die deutsche unter den irreversiblen Bedingungen von Wissensökonomie, Globalisierung und Überalterung in Zukunft überhaupt nur als aktiver und aktivierender Sozialstaat eine Chance der Selbstbehauptung besitzen wird.


Mehr denn je wird es in Zukunft um der wirtschaftlichen Wohlfahrt dieser Gesellschaft willen darum gehen, möglichst sämtliche "Humanressourcen" zu mobilisieren und damit zugleich dafür zu sorgen, dass autonome, eigenverantwortliche Menschen die Verhältnisse im Griff haben - und nicht umgekehrt. Wo aber die Erwerbsbiografien immer stotteriger verlaufen und wo Bildung zum entscheidenden Kriterium der employability wird, da wird die Existenz des Sozialstaates wichtiger denn je für den Einzelnen wie für den Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt. Der funktionierende Sozialstaat ist mitnichten eine Prämie für errungenen wirtschaftlichen Erfolg unseres Gemeinwesens - er ist, richtig verstanden, die zentrale Voraussetzung dafür, dass dieser Erfolg überhaupt möglich ist und bleibt. Dies zunächst (wo nötig: wieder) zu verinnerlichen, sodann mit Verve und, wenn es sein muss, auch mit Pathos weiterzuerzählen, ist eine der vielen Aufgaben, vor denen die Jüngeren in der SPD heute stehen. Die nächste Generation der deutschen Sozialdemokratie wird sich als Emanzipationsbewegung begreifen müssen. Bleibt sie stumm und brav und ratlos, werden SPD und soziale Demokratie in Deutschland im Jahr 2030 historische Phänomene sein.

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