Sozialdemokraten, verlasst das Gebäude!

Eine Konferenz in Stockholm und ein neuer Sammelband geben Auskunft über die aktuelle Verfassung der europäischen Sozialdemokratie

Die SPD ist keine Ausnahme: Wohin man auch blickt in Europa, der Sozialdemokratie geht es miserabel. Die niederländische PvdA liegt in den Umfragen mittlerweile auf Platz sieben aller Parteien. In Österreich spielte die SPÖ bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen nur noch eine Nebenrolle. In Dänemark verloren die Sozialdemokraten bei den Parlamentswahlen 2015 die Macht an die Konservativen. Und auch die sozialdemokratischen Parteien in Finnland, Polen, Großbritannien und Spanien fuhren historisch niedrige Ergebnisse ein. Mit Ausnahme von Matteo Renzis Partido Democratico in Italien (siehe S. 17) haben Europas Sozialdemokraten derzeit kaum Erfolgsgeschichten vorzuweisen, die Orientierung bieten könnten. Der Economist sah sich gezwungen, in einem Dossier zu diesem Thema die Labour Party von Malta zur Hoffnungsträgerin der europäischen Sozialdemokratie zu erklären. Auf der Mini-Insel hatte Premierminister Joseph Muscat 2013 mit einer progressiven Reformagenda einen Erdrutschsieg erzielt.

Klare und erschreckende Befunde

Wie kommen die Parteien der linken Mitte wieder auf die Beine? Das ist die Gretchenfrage, die auch die Teilnehmer der Progressive Governance Conference im Mai dieses Jahres in Stockholm umtrieb. Gleich zu Beginn hatten die Veranstalter – der britische Think Tank Policy Network und die schwedischen Sozialdemokraten – die Meinungsforscherin Deborah Mattinson gebeten, am Beispiel von Labour in Großbritannien die drei größten Schwachstellen sozialdemokratischer Parteien herauszuarbeiten, und zwar aus der „Perspektive der Wähler“. Ihre Befunde waren ebenso klar wie erschreckend:

Erstens vertrauen die Bürger auf den zentralen Gebieten Wirtschaftspolitik, Einwanderung und nationaler Sicherheit den Konservativen deutlich mehr als Labour. Solange sich dies nicht ändere, so Mattinson, werde die Labour Party keine Wahlen mehr gewinnen.

Zweitens habe Labour keinen Bezug mehr zu seiner traditionellen Wählerschaft und teile auch deren Werte nicht mehr. Ihren Haustürwahlkampf etwa erlebten Sozialdemokraten deshalb heute so ähnlich wie Politiker einen Ryanair-Flug: „Mal zwei Stunden unter einfachen Leuten – kein Problem. Aber man ist dann doch froh, wenn es wieder vorbei ist.“ Auch deshalb sei die Krise der „Marke“ Labour so tief.

„Labour ist heute eine Partei von progressiven Sozialliberalen, die abstrakte universale Prinzipien wie Gleichheit, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit gut finden“, zitierte Mattinson den Labour-Abgeordneten John Cruddas. „Die Partei verliert den Kontakt zur Mehrheit der Wähler, die entweder nach rein pragmatischen Gesichtspunkten wählen oder sozial-konservative Werte haben wie Familie, Arbeit, Sicherheit und Fairness.“ Die Folge sei, dass Labour Wähler in alle politischen Himmelsrichtungen zugleich verliere – an UKIP, die Tories und die Grünen.

Wer sich nach diesem eindringlichen Vortrag eine strategische Grundsatzdiskussionen erhofft hatte, wurde jedoch enttäuscht. Stattdessen redeten die Podiumsteilnehmer weitgehend um den heißen Brei herum, was sich schon daran zeigte, dass der hoch umstrittene Labour-Chef Jeremy Corbyn nicht einmal erwähnt wurde. So blieb das aktuelle Kernthema aller Sozialdemokraten in Stockholm unterbelichtet. Das Händeringen und Wundenlecken fand überwiegend auf den Fluren statt – dort dafür umso intensiver.

Keine Sprache und kein Kampfgeist

Diese Konstellation mag zum Teil der Konferenzregie geschuldet gewesen sein, die an ihrem langfristig geplanten bildungspolitischen Schwerpunkt („Wissen ist Macht“) festhalten musste. Sie dürfte aber auch darauf zurückzuführen sein, dass die ehemaligen Verfechter des Third Way im Umfeld des Policy Network noch immer den Denkmustern und dem hyperpragmatischen Veränderungsdiskurs der Dritte-Weg-Ära verhaftet sind. So scheint es, dass man in diesen Kreisen noch keine Sprache und keinen Kampfgeist entwickelt hat, um der populistischen Bedrohung der liberalen Demokratien wirksam zu begegnen. Anders als bei früheren Progressive Governance Konferenzen fehlte es deshalb in Stockholm seitens der Ausrichter am Willen und an der Bereitschaft, über einzelne Politikfelder hinaus die großen sozialdemokratischen Fragen der Zeit systematisch zu diskutieren.

Das war Ende der neunziger und Anfang der 2000er Jahre ganz anders. Fast wehmütig wurde der ehemalige britische Industriekommissar Peter Mandelson, als er über diese Blütezeit des sozialdemokratischen Revisionismus sprach. Damals seien Europas Sozialdemokraten noch mit „enormer Selbstgewissheit“ aufgetreten, besonders im Hinblick auf den wirtschaftspolitischen Kurs und die strategische Ausrichtung ihrer Parteien. Im Übrigen sei der damalige Erfolg nicht auf eine einzige Idee, Maßnahme oder Person zurückzuführen gewesen, führte Mandelson weiter aus. Vielmehr habe er auf dem disziplinierten Zusammenspiel von politischer Sprache, den richtigen Reformthemen und positiven Emotionen beruht. Bei Labour habe ein Rädchen ins andere gegriffen und zusätzlich ein guter Teamgeist geherrscht. Those were the days …

Doch die Zeiten haben sich geändert. Die europäischen Gesellschaften sind heute weniger optimistisch und fortschrittsfreudig als früher. Exemplarisch trug Max Roser von „Our World in Data“ vor, dass nur 4 Prozent der Deutschen die Frage, ob die Welt künftig besser werde, mit „Ja“ beantworteten (aber 41 Prozent der Chinesen). Nur halb im Scherz erklärte ein ehemaliger Finanzminister in einem Kneipengespräch am Rande der Konferenz, nach seinem Eindruck hätten die Menschen die ständigen Veränderungen so satt, dass man eigentlich mit dem Versprechen in den Wahlkampf gehen müsste, vier Jahre lang überhaupt keine Reformen zu betreiben – nach dem Vorbild von Agenda Merkel. Damit ist das Dilemma der Sozialdemokratie punktgenau beschrieben: Kann sie in Zeiten großer Verunsicherung überhaupt mit einer progressiven Agenda erfolgreich sein? Vielleicht nicht. Aber käme es – andererseits – nicht einer Selbstaufgabe gleich, wenn sie auf aktive Reformpolitik verzichten würde? Wahrscheinlich schon.

Glaubt man deshalb den Autoren des Sammelbandes Aiming High: Progressive Politics in a High-Risk, High-Opportunity Era, der auf der Progressive Governance Conference vorgestellt wurde, dann geht es jetzt genau darum: Progressive müssten sich an die Spitze des Fortschritts stellen und den Wandel aktiv gestalten. „Wenn Veränderungen nicht stattfinden, steht am Ende die Existenz von Institutionen auf dem Spiel“, schreibt Herausgeber Florian Ranft, der als Researcher beim Policy Network arbeitet.

Die Signale müssen eindeutig sein

Der wohl pointierteste Beitrag des Buches stammt von dem deutschen Wahlkampfberater und Blogger Frank Stauss, der auch im nächsten Bundestagswahlkampf der SPD eine wichtige Rolle spielen könnte. Stauss ruft die europäischen Sozialdemokraten dazu auf, endlich den Kampf „Hoffnung vs. Angst“ aufzunehmen: „Wenn Leute Angst haben, suchen sie nach Führung. Um ihnen diese Führung zu geben, müssen unsere Signale eindeutig sein.“ Ja, die Menschen seien angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche tief verunsichert. Aber: Progressive könnten niemals gewinnen, indem sie konservative Lösungen übernehmen. Vielmehr müssten sie sich Klarheit über die eigenen Überzeugungen verschaffen und versuchen, mit der Kraft dieser Überzeugungen die öffentliche Debatte zu prägen und Deutungshoheit zu erlangen.

Eine neue Bewegung für den Wandel

Progressive Politik dürfe sich dabei nicht im Mikromanagement verlieren. Ihre Aufgabe sei es, die Vision einer positiven Zukunft zu formulieren – nicht für bestimmte Zielgruppen, sondern für alle. Die Bürger hätten längst mitbekommen, dass die Globalisierung und die digitale Revolution jeden denkbaren Aspekt ihres Lebens verändern werden. Deshalb müssten sie alle eingeladen werden, Teil einer ­„Bewegung für den Wandel“ zu sein. „Wer immer an einer positiven Zukunft mitarbeiten will, ist unser Gast, unser Partner, unser potenzieller Wegbegleiter und Koalitionspartner.“

Stauss’ Beitrag sticht hervor, weil er fortschrittliche Politik auf einer Meta-Ebene verhandelt und gezielt in ihren parteistrategischen Dimensionen analysiert. Die meisten übrigen Autorinnen und Autoren des Bandes hingegen legen ihren Fokus auf einzelne politische Maßnahmen – und machen es sich damit zu einfach. Ein gutes Beispiel ist der Text von Paul Hofheinz vom Think Tank Lisbon Council. Hofheinz plädiert wortreich für die offensive Gestaltung des digitalen Wandels, der ohnehin unvermeidlich sei. Die digitale Ökonomie sieht er dabei als chancenreiche „Plattform für ein Revival der linken Mitte“ an. Grundsätzlich hätten es Progressive besonders schwer, weil sie sich aufgrund ihrer starken Werteorientierung verpflichtet fühlten, „das Richtige“ zu tun.

Die entscheidende Frage für Progressive sei demnach, was das Richtige genau ist: „Was können wir tun, um Wachstum, Arbeitsplätze und mehr Gleichheit zu schaffen?“ Wahlen gewinnen Hofheinz zufolge am Ende diejenigen Parteien, deren Programme glaubwürdig neue Jobs und nachhaltiges Wirtschaftswachstum versprechen. Dass es für diese These durchaus auch Gegenbeispiele gibt, haben die Bundestagswahlen 2009 und 2013 gezeigt.

Kommt das Zeitalter der Roboter?

Die digitale Revolution hat Hofheinz zufolge schon jetzt „mehr Chancen für mehr Menschen geschaffen als jede technische Neuerung seit der Erfindung des Buchdrucks vor 500 Jahren“. Sie werde zu fundamental besseren Produkten und Dienstleistungen führen und als großer Aufstiegsmotor dienen, weil die Ressourcen der Produktion neu verteilt würden. „Wir werden vielleicht nicht in der Lage sein, unseren Kindern Jobs zu geben, wenn sie die Schule oder die Universität verlassen, aber wir haben ihnen eine Zukunft gegeben.“

Pessimistischer in Bezug auf die digitale Agenda ist Lodewijk Asscher, der niederländische Minister für Arbeit und Soziales. Aus seiner Sicht ist das „Zeitalter der Roboter“ durchaus eine Bedrohung. Da immer mehr einfache Tätigkeiten von Robotern übernommen werden, könne eine „technologische Arbeitslosigkeit“ entstehen, von der besonders Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen betroffen würden. Asscher: „Die Mittelschicht wird bedroht von migrantischen Arbeitern, die für weniger Geld arbeiten, von hoch qualifizierten Arbeitnehmern, die unterhalb ihres Ausbildungsniveaus arbeiten, und von einer Technologie, die bestimmte Jobs überflüssig macht.“ Die wahrscheinliche Folge sei eine rasant wachsende Ungleichheit. Um sie zu verhindern, schlägt Asscher ein umfassendes Maßnahmenpaket vor: Bildungsinvestitionen, Innovationsförderung und Arbeitsmarktreformen, die auf höhere Produktivität statt billigere Löhne zielen.

Mit der Bekämpfung der Ungleichheit durch Bildung und vorsorgende Sozialpolitik beschäftigen sich weitere Beiträge des Buches, unter anderem auch ein Text von Hannelore Kraft über „vorbeugende Politik“ in Nordrhein-Westfalen. Der Politikwissenschaftler Peter Hall ergänzt die Gleichheitsdebatte um ein Konzept, das auch unter deutschen Sozialdemokraten verstärkt Anhänger zu finden scheint: „Predistribution“. Gemeint sind damit politische Maßnahmen, die zu höheren Markteinkommen der Arbeitnehmer führen (zum Beispiel indem die Gewerkschaften bei Tarifverhandlungen gestärkt werden). So könnten Unternehmen ermutigt werden, ihre Produktionsweise zu verändern und bessere Jobs anzubieten – wodurch sie am Ende wettbewerbsfähiger würden. Zugleich werde soziale Ungleichheit reduziert, ohne dass für den Staat Kosten entstünden, hofft Hall. Da allerdings „Predistribution“ auch die im öffentlichen Dienst gezahlten Gehälter steigen lassen müsste, erscheint diese Argumentation zumindest überprüfungsbedürftig.

Der Bürger als erwachsener Mensch

So anregend die einzelnen Beiträge des Bandes daher auch sein mögen: Mit wenigen Ausnahmen passen sie ins Bild eines progressiven Lagers, das sich im Unterholz technokratischer Maßnahmen verheddert, die Vorzüge des Wandels überhöht und die Vermittlung der eigenen Politik in die Bevölkerung hinein vernachlässigt. Die Bürger als erwachsene Menschen zu behandeln, wie es Frank Stauss in seinem Beitrag zu Recht einfordert, darf nicht nur bedeuten, eine öffentliche Debatte über die moderne, gleiche und digitale Gesellschaft zu führen. „Ernst nehmen“ heißt auch, Themen aufzugreifen, die in linksliberalen Kreisen oft Naserümpfen verursachen, in der Bevölkerung aber nun einmal die Rangliste der wichtigsten Fragen anführen: Sicherheit, Flüchtlinge, Einwanderung, Religion.

Parteistrategen mögen hier „Risikothemen“ wittern. Doch es kommt darauf an, wie man den Stier bei den Hörnern packt. Wir müssen dies in einer aufgeklärten Art und Weise tun. Mit einer klaren Haltung, aber ohne Tabus, weil sich das Umschiffen von Risikothemen als noch viel riskanter erweisen kann. „Du bist tot, wenn die Menschen spüren, dass du über das Thema Einwanderung nicht sprechen willst“, brachte es Peter Mandelson in Stockholm auf den Punkt.

Mit welchen Mitteln Parteiorganisationen den Kontakt zu den Bürgern verbessern können, ist auch das Thema, mit der sich in Aiming High ein äußerst lesenswerter Text des französischen Politikberaters Guillaume Liegey beschäftigt. Er vergleicht Parteien mit Startup-Unternehmen. Um erfolgreich zu sein, müssten Startups grundlegende Fragen beantworten können: „Welche Probleme löse ich? Welchen Menschen diene ich, und wie löse ich deren Probleme? Habe ich bessere Lösungen als meine Wettbewerber?“ Liegeys These: Nur wenn auch Parteien gute Antworten auf diese Fragen wissen, können sie zu „unverzichtbaren Organisationen in der Gesellschaft“ werden. Sein Ziel: Progressive Parteien sollen ein „Greenpeace für soziale Gerechtigkeit“ werden.

Dies könne sie erreichen, wenn die Partei der Zukunft als professionelle Anspielstation für andere zivilgesellschaftliche Organisationen dient, ihnen Expertise zur Verfügung stellt und deren Anliegen punktuell auf nationaler Ebene voranbringt. „Dann wird die Partei der Zukunft nicht nur als unverzichtbar angesehen werden, sie wird auch ein starkes Signal an diejenigen senden, die glauben, dass die Politik den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat.“

Ryanair freut sich auf neue Kunden

Zugleich fordert Liegey nachdrücklich dazu auf, „das Gebäude zu verlassen“. Um zu verstehen, was die Bürger wirklich denken, um die Wahlbeteiligung zu steigern und die politische Agenda nachhaltig beeinflussen zu können, müssten Parteiaktivisten an die Haustüren klopfen, und zwar regelmäßig und systematisch – und nicht nur im Wahlkampf. „In einem Unternehmen müssen auch alle irgendwann mit den Kunden in Kontakt treten, nicht nur die Verkäufer“, schreibt der Autor.

Die Vorschläge von Guillaume Liegey sind detailliert ausgearbeitet und basieren auf Wahlkampferfahrungen in Frankreich, wo man canvassing anders als in Deutschland für ein entscheidendes strategisches Instrument hält. Liegeys Arbeit sollte deshalb in der deutschen Sozialdemokratie mehr Beachtung finden. Ryanair freut sich schon auf neue Kunden.

Florian Ranft (Hrsg.), Aiming High: Progressive Politics in a High-Risk, High-Opportunity Era, London/New York: Rowman & Littlefield 2016, 173 Seiten, 34 Euro

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