Sozial ist, was Zukunft für alle schafft

Höchste Zeit für eine echte geistig-moralische Wende in der Sozialpolitik: Der Staat kann nur so viel bewältigen, wie die Menschen zu seinem Funktionieren beitragen. Deshalb muss sich die Große Koalition als Regierung der erneuerten Solidarität begreifen

"Sozial ist, was Arbeit schafft“: Das war vor dem 18. September landauf, landab auf den Wahlplakaten der CDU zu lesen. Arbeit um jeden Preis. Das heißt: Erosion der sozialen Sicherung. Aber die Wähler wollten dann doch keinen Almosenstaat und keine Atomisierung der Arbeitnehmerschaft. Angesichts des Wahlergebnisses rieben sich Demoskopen und Medienmächtige gemeinsam mit den Siegesgewissen von Union und FDP ungläubig die Augen. Was lehrt uns das Ergebnis?

Veränderung und Erneuerung müssen sein, ja! Aber nicht der freie Fall von Löhnen und Sozialleistungen und ein zunehmendes Auseinanderdriften von Modernisierungsgewinnern und Perspektivlosen. „Innovation und Gerechtigkeit“ – es scheint, als hätte das Wahlvolk diese langjährige Doppelbotschaft der SPD verstanden, die wir selbst nur schwer in die eigene Partei vermitteln konnten, weil zu viele sich konsequent für das eine oder das andere entscheiden wollten. Nun wurde diese Doppelbotschaft deutlich, weil CDU und FDP den Eindruck vermittelten, sie wollten sich von der sozialen Marktwirtschaft verabschieden.

Wenn wir diese Botschaft des Volkes annehmen wollen, reicht es nicht aus, bei der Agenda 2010 stehen zu bleiben. Ein Rollback in den nachsorgenden, nicht mehr finanzierbaren Wohlfahrtsstaat der alten Bundesrepublik wäre allerdings genauso fatal. Eine Große Koalition bietet die Chance, die Lage schonungslos zu analysieren, politische Lebenslügen abzuräumen, an Zuversicht, Vernunft und Gemeinsinn zu appellieren und: intelligente Lösungen und neue Wege durchzusetzen, die uns wirtschaftlich stärker und gleichzeitig den Sozialstaat zukunftsfähiger machen.

In den Unionsparteien hat man langsam begriffen, dass statt einer „neuen deutschen Thatcher“ eine sich auf die Grundsätze der katholischen Soziallehre besinnende Angela Merkel Bundeskanzlerin wird. Die SPD mit ihrem neuem Selbstbewusstsein wiederum tut gut daran, nicht nur die Bremser- und Betriebsratsrolle einzunehmen, sondern als Partei des sozialen Fortschritts das eigene Profil und die Programmatik weiter zu entwickeln, um als Regierungspartei gestärkt aus dieser Koalition herauszukommen. Sozialdemokraten müssen führen und zusammenführen, an Deutungsmacht weiter gewinnen, hart arbeiten und in den eigenen Reihen inhaltlich debattieren. Wir müssen einen Programmstreit ausfechten für einen neuen europäischen Sozialstaat, auch um der PDS die abgewanderten Sozialdemokraten wieder abzujagen und zu verhindern, dass die Zumutungen der Großen Koalition nur uns in die Schuhe geschoben werden.

Die falschen Annahmen der Experten

Angesichts der Realitäten, die die Koalitionsverhandlungen deutlich zu Tage gefördert haben, darf es keine Reformpause geben. Zu diesen Realitäten gehören die Aufgaben, ab 2007 jährlich 35 Milliarden Euro im Bundeshaushalt einzusparen, die Massenarbeitslosigkeit noch wirksamer zu bekämpfen, drohende Rentenkürzungen abzuwenden und die Kostenexplosionen im Gesundheits- und Pflegewesen beherrschbar zu machen. Wir müssen die Chance beim Schopfe packen, einzelne Maßnahmen und ihre Wirkungen besser aufeinander abzustimmen, Stufen, Prozesse und Revision in einer begründeten Zeitfolge zu planen und öffentlich zu vermitteln. Nicht alles muss dabei sofort umgesetzt werden; nachhaltige, Vertrauen schaffende Politik darf nicht mehr auf den nächsten Wahltag schielen.

Wer etwa glaubt, Hartz IV müsse rückgängig gemacht werden, der irrt. Die enormen Mehrkosten in diesem Jahr sind nicht auf Missbrauch zurückzuführen, sondern auf falsche Annahmen der Experten über die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften und über kurzfristige Einsparpotenziale. Für viele, die vorher nicht auf die Idee gekommen wären, Sozialhilfe zu beantragen, ist das ALG II eine echte legale Verbesserung. Bemerkenswerte Einsparungen wird es nur geben, wenn die Philosophie von Hartz IV vor Ort tatsächlich umgesetzt wird.

Im Gegenzug funktioniert die Integration der erwerbsfähigen Langzeitarbeitslosen noch immer nicht – schon gar nicht die Integration der Unqualifizierten und Behinderten. Es fehlt schon gar nicht an effektivem Fallmanagement mit qualifiziertem Personal, an Konsequenz bei den Zumutbarkeitsregeln und an bedarfsgerechten Eingliederungsvereinbarungen, die auch durchgesetzt werden. Dazu kommen gravierende Organisationsmängel in den Jobcentern. Das alles ist auch der konterkarierenden Politik der Nürnberger Zentrale der Bundesagentur für Arbeit zu verdanken, die sich auf schnell vermittelbare, pflegeleichte Arbeitslose spezialisieren und die schwierigen Fälle am liebsten wieder an die Kommunen abgeben will. Die Kommunen haben so viele Sozialhilfeempfänger wie möglich für erwerbsfähig erklärt, um deren Unterhaltskosten in den Bundeshaushalt zu schieben. Wer will es ihnen verdenken?

Das alte Malefizspiel geht weiter

Der aktuelle Streit um den Bundeszuschuss für die Unterkunftskosten, die von den Kommunen zu bezahlen sind, wird so lange dauern, wie vernünftige Finanzausgleichssysteme zwischen weniger und mehr betroffenen Kommunen auf Länderebene fehlen. Die CDU-Länder hätte am liebsten die schnelle Kommunalisierung nach dem Motto: „Die Kommunen geben das Geld aus, der Bund bezahlt.“ Dagegen fordern wir konkrete Zielvereinbarungen der Regierung mit der Bundesagentur, den Ländern und Kommunen. Wir wollen die Kontrolle über gleichwertige Standards beim Bund behalten, gleichzeitig die Durchführung in den Regionen dezentralisieren. Das alte „Malefizspiel“ scheint auch in den neuen Systemen immer noch weiter zu gehen. Allein dieses Beispiel macht deutlich, dass wir nicht nur ein neues „Bündnis für Arbeit, Qualifikation und Integration“ brauchen, sondern auch den Willen aller staatlichen Ebenen, der Tarifpartner und Verbände. Im Interesse der Betroffenen sind sie daran zu beteiligen, Verantwortung, Lasten und Kosten für diese Gemeinschaftsaufgabe endlich gemeinsam zu tragen.

Die Große Koalition kann die Basis für den Erfolg eines Bündnisses für eine neue soziale Marktwirtschaft werden, durch ein beherztes Anpacken der Föderalismusreform, durch eine mutige Konsolidierungspolitik, durch einen „Bildungs-, Familien- und Integrationspakt“ gemeinsam mit dem Bundesrat. Dass die Regierung Schröder in den letzten sieben Jahren wichtige und richtige Vorarbeiten geleistet hat, können jetzt alle zugeben, auch die Union. Nun fehlt nur noch die Anerkennung der Notwendigkeit, sich an den erfolgreichen Reformprozessen unserer europäischen Nachbarn zu orientieren. Viele Staaten in Europa haben Mindestlöhne und Entsendegesetze ohne Brancheneinschränkung eingeführt, um das Sozial- und Lohndumping einzudämmen. Fast alle haben niedrigere Arbeitskosten und mehr steuerfinanzierte Solidarität installiert. Auch bei der Integration von Behinderten und Einwanderern sind die anderen besser. Ebenso bei der Frauenerwerbs- und Geburtenquote. Wir haben dafür mehr Gesetze, mehr zuständige Bürokratien, Spezialdienste und stationäre Einrichtungen. Wir müssen erkennen, dass da ein Zusammenhang besteht!

Es ist wahr: Wir haben uns viel zu wenig um die wirklich Bedürftigen und Ausgegrenzten gekümmert und erleben nun, wie unsere Gesellschaft hinsichtlich Teilhabe an Arbeit und Qualifikation immer mehr auseinander fällt. Das Bewusstsein, dass nicht alles dem Staat aufgebürdet werden kann, ist unterentwickelt, während die Menschen gleichzeitig selbst immer weniger zum Staat beitragen wollen. Hier liegt die Chance der Großen Koalition als einer Regierung neuer Möglichkeiten der Solidarität. Dies wäre eine echte geistig-moralische Wende, von der seit Kohls Versprechen nichts mehr zu hören war. Wir Sozialdemokraten müssen sie jetzt einfordern und organisieren.

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