Solidarische Bürgergesellschaft - neues Leitbild

Die Bürgergesellschaft als gesellschaftlicher Idealtypus hat in den vergangenen Jahren eine steile Karriere durchlaufen. Mit der Abkehr von einem Politikverständnis, bei dem Eliten und Staatshandeln die zentrale Rolle spielen, und mit der Wiederbelebung öffentlicher Teilhabe verheißt die Bürgergesellschaft eine Linderung der Krisen, die Zug um Zug die Wirtschaft und die Arbeitswelt, das soziale Gefüge von Familien und Nachbarschaften und nicht zuletzt die Steuerungsmöglichkeiten der Politik befallen haben

Nun hat das Konzept an prominenter Stelle Eingang in den Entwurf des Grundsatzprogramms der SPD gefunden. Unter der Überschrift „Solidarische Bürgergesellschaft und demokratischer Staat“ bildet die Bürgergesellschaft im Bremer Entwurf einen der beiden Pole im zentralen Spannungsverhältnis von Staat und Gesellschaft. Demnach besteht die Bürgergesellschaft aus einem vielfältigen Spektrum an vorrangig kommunal organisierten „Vereinen, Stiftungen und Initiativen, die vor allem durch freiwilliges Engagement getragen werden“. Ihre stützenden Säulen seien die Parteien, Gewerkschaften, Kirchen sowie Sozial- und Umweltverbände. Die Bürgergesellschaft biete eine „Heimat in Zeiten stürmischen Wandels“ sowie Schutz und Zusammenhalt „gegen die Vereinzelung des Menschen und die Fliehkräfte des modernen Lebens“, heißt es in dem Programmentwurf.

Wird hier ein neues gesellschaftliches Leitbild der SPD sichtbar? Erhält die „solidarische Bürgergesellschaft“, wie der Soziologe Heinz Bude schon vor einigen Jahren mutmaßte, gar den Rang eines überfälligen „Nachfolgekonstrukts“ der alten Arbeitnehmergesellschaft?

Die Vorstellung aktiver und selbstbewusster Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist im sozialdemokratischen Politikverständnis tief verankert. Viele Jahrzehnte lang war die SPD in ein lebendiges und vielschichtiges soziales und kulturelles Milieu eingebunden und bezog daraus ihr Selbstbewusstsein und ihre Stärke. An diese Tradition knüpft das Leitbild der Bürgergesellschaft an. Gerhard Schröders noch immer lesenswerter Aufsatz „Die zivile Bürgergesellschaft“ aus dem April 2000, die Enquetekommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ des 14. Deutschen Bundestags, aber auch Ministerpräsident Kurt Beck mit seiner beispielhaften, systematischen Förderung des Ehrenamts in Rheinland-Pfalz seit 1999 haben das Konzept in der sozialdemokratischen Theorie und Praxis prominent gemacht.

 

Wichtige Probleme bleiben ungelöst

 

Jedoch haftet dem Begriff der „solidarischen Bürgergesellschaft“ im Bremer Entwurf etwas Formelhaftes an, und wichtige Probleme bei der Verbindung des Konzepts mit sozialdemokratischer Programmatik bleiben ungelöst.

Zum einen ist die „solidarische Bürgergesellschaft“ im Programmentwurf eine eigentümlich reduzierte Veranstaltung. Die Formulierungen erwecken den Eindruck, die hier und jetzt sichtbaren Aktivitäten von Verbänden, Vereinen, Initiativen würden bereits den Tatbestand der solidarischen Bürgergesellschaft erfüllen und sich überdies auf eine hilfreiche Umtriebigkeit beschränken, die jedoch wenig mit den ordnungsgemäßen politischen Abläufen zu tun hat. Diese Sichtweise verkennt die Dynamik normativer Konzepte: Der Aufbau der Bürgergesellschaft ist eine fortdauernde, expansive und durchdringende Aufgabe mit Folgen für nahezu alle Politikbereiche und für die Art und Weise, wie Politik organisiert und entschieden wird. Es wäre also zu diskutieren, wie sich andere zentrale Themen im Programmentwurf – Familie, Sozialstaat und Arbeitswelt, auch staatliches Handeln generell – unter der Zielvorgabe einer solidarischen Bürgergesellschaft darstellen.

Zum anderen bleibt im Entwurf die Frage nach den Trägern des bürgerschaftlichen Engagements vollkommen ungeklärt. Wie andere soziale und politische Teilhabeformen ist auch das freiwillige Engagement nicht annähernd in allen sozialen Gruppen und Schichten anzutreffen. Empirische Analysen zur Bürgergesellschaft kommen zu Ergebnissen, die uns von den Pisa-Studien allzu vertraut sind: Bildung, Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit, Zeitreichtum und Sozialprestige wirken als sozialstrukturelle Filter. Bürgerschaftliches Engagement ist heute vor allem im mittleren und oberen Drittel der deutschen Bevölkerung anzutreffen. Die Schichten und Gruppen hingegen, die eine „Heimat in Zeiten stürmischen Wandels“ am meisten benötigen, verfügen oft gerade nicht über das Sozialkapital und die Ressourcen, die sie zu artikulations- und durchsetzungsfähigen Aktivbürgern machen könnten.

Die Bürgergesellschaft ist also kein Selbstläufer, sondern muss von systematischer Hilfe beim Erwerb von „participatory skills“ begleitet werden. Auch wenn das Aufladen der „Mühseligen und Beladenen“ im Rotkreuzwagen nicht mehr zu den Vorrangigkeiten sozialdemokratischer Politik zählen soll, wie es Franz Müntefering so unübertrefflich formuliert hat, darf ein auf Aktivität und Selbstorganisation ausgelegtes Gesellschaftsmodell der SPD auf keinen Fall mit einer faktischen Preisgabe sozialemanzipatorischer Ziele einhergehen. Es gilt also herauszufinden, wie eine Bürgergesellschaft für alle möglich werden kann.

Außerdem gibt der Bremer Entwurf keinerlei Antwort auf die Frage, was die Bürgergesellschaft für die SPD selbst bedeutet. Dabei geht die Hinwendung zum Leitmodell der Bürgergesellschaft ganz wesentlich auf die Mitglieder-, Organisations- und Teilhabekrisen zurück, in denen sich die „klassischen“ Vergemeinschaftungen wie die Parteien, Gewerkschaften und Kirchen befinden. Gerade ein Grundsatzprogramm zur Gestaltung der Zukunft sollte nicht verdrängen, dass die jüngeren Generationen, für die das Programm vor allem gedacht ist, den Parteien allgemein und der SPD im Besonderen höchst distanziert gegenüberstehen. Die SPD hat mehr als zweiundzwanzig Mal so viele über 70-jährige Mitglieder wie junge bis 21 Jahre!

Mit dem Konzept der Bürgergesellschaft gerät ein neuer politischer Stil ins Blickfeld, der für viele Jüngere attraktiv ist, den sie aber gerade bei den Parteien schmerzlich vermissen. Die SPD sollte nicht so tun, als ginge die kulturelle Entfremdung von den jüngeren Generationen sie nichts an: Wer die Bürgergesellschaft zum gesellschaftlichen Leitbild erklärt, darf nicht selbst in den ausgezehrten Strukturen von vorgestern verharren.

Insgesamt ist das Leitbild der Bürgergesellschaft ein richtiger, ein bedeutsamer programmatischer Schritt. Der systematischen Integration dieses neuen, dynamischen Motivs in die programmatische Tradition der SPD ist der Bremer Entwurf jedoch ausgewichen. So droht die solidarische Bürgergesellschaft am Ende doch als modische Leerformel zu erstarren.

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