So weit

Zwei Jahre Netzwerk - eine Zwischenbilanz

Stand Heute

Manche mögen uns nicht. Aber ist das schon eine Existenzberechtigung? Und warum ist da überhaupt etwas und nicht viel besser nichts?

1998 hätte man kaum noch einen Adressanten zum Annölen gefunden; unsere Vorzeige-SPD damals: eine geschlossene Gesellschaft hochverdienter, grimmig miteinander befreundeter Altjusos auf dem Sprung zum Regierungswechsel in Bonn. Kein Danach denkbar.

Heute: Die hermetische Partei öffnet sich. Wo Funktionen, Mandate, Ämter frei werden, rücken
für alle sichtbar nicht mehr die alten Buddies nach, sondern Nach-68er. Sie werden sozialdemokratische Landesvorsitzende (wie Ute Vogt in Baden-Württemberg, Olaf Scholz in Hamburg oder Heiko Maas im Saarland), Stabschefs (wie Hans-Martin Bury im Kanzleramt oder Matthias Machnig im Willy-Brandt-Haus), Ministerpräsident (wie Sigmar Gabriel in Niedersachsen) oder Bundesminister (wie Kurt Bodewig).

Irgendwann musste es so kommen, jetzt ist es so weit, der Generationenwechsel nach dem fünfzehnjährigen Generationenbruch hat begonnen. Jüngere haben es auf allen Ebenen heute sehr viel leichter, sozialdemokratische Führungspositionen zu besetzen als all die Jahre vorher.

Gleichzeitig ändert sich die Philosophie, die Linie, die Programmatik der Partei; sie paßt sich Schritt für Schritt an die politischen Erfahrungen der Post-"Enkel" an: "Generationengerechtigkeit" wird zu einer Hauptlegitimation für wichtige innenpolitische Reformprojekte (Schuldenabbau, Rente, Ökologie); untauglich gewordene innerparteiliche Rechts-Links-Fraktionierungen stehen neuerdings sehr grundsätzlich in Frage; und der internationale Vergleich, die Suche nach best pratice, wird zu einer normalen Methode der Politik- und Programmentwicklung.

All dies hat nicht erst unser Netzwerk bewirkt. Aber es macht den Veränderungsprozeß erkennbarer, reflektierter, zu einer mehr als zufälligen oder bloß äußeren Notwendigkeiten folgenden ephemeren Erscheinung. Das Netzwerk ist binnen kürzester Frist zu einem Vehikel der Parteierneuerung geworden, der Erneuerung des Programms, des Personals und vielleicht sogar - Stichwort Parteireform - der Parteistrukturen selbst.

Zweck und Form

Die Idee zu einem losen Zusammenschluß jüngerer sozialdemokratischer Bundestagsabgeordneter lag im Herbst 1998 auf der Hand. Am Ende der 13. Wahlperiode waren acht SPD-Abgeordnete unter 40 Jahre alt, am Beginn der 14. waren es 36, beinahe ebenso viele wie jeweils die kleineren Fraktionen - PDS (36), FDP (43), Grüne (47) - Mitglieder haben.

Die Organisationsbestrebungen gingen in zwei Richtungen. Erstens war da die formal noch existierende "Junge Gruppe" aus der vorangegangenen Wahlperiode, eine offizielle "Gliederung" der Bundestagsfraktion, die unter dem - vielleicht ein bißchen sehr zackig-jungdynamischen - Titel Youngsters wiederbelebt und mit einer neuen wohlproportionierten Frau/Mann-Ost/West-Doppelspitze ausgestattet wurde.


Politisch ist in dieser U40-Gruppe der Fraktion alles vertreten, was es auch im richtigen Leben gibt: Refos, Undogs und Stamos, Neutralos, Ossis und Wessis, Parlamentarische Linke und Seeheimer - was die Handlungsfähigkeit der Truppe durchaus etwas einschränkt.

Zweitens aber trafen zunächst in Bonn, zahlreicher später noch in Berlin viele undogmatische Juso-Aktive der 80er und 90er Jahre über ihre Arbeit wieder zusammen: als Abgeordnete und Referenten in Bundesministerien, Landesvertretungen, Partei- und Fraktionsbüros, als Medienschaffende und Wissenschaftler, in Wirtschaft, Gewerkschaften und Politikberatung. Es sind vor allem die Jusos der Generationenbruchzeit 1982 bis 1997, die Post-"Enkel", die lange noch die Schlachten ihrer Vorgängergeneration geschlagen, lange die zum Teil nur etwas älteren 70er-Jahre-Helden in den innerparteilichen Kämpfen als ihre Leute verteidigt und unterstützt haben. Die primäre Parteierfahrung dieser Jahrgänge heißt: "Alles besetzt!" Die Nachwuchsstrategie ihrer Altvorderen lautete: "Dialog mit der Jugend". Ansonsten konnte man ja enorm jugendsympathisch in Kommunen und Ländern mit den politisch minderjährigen Grünen koalieren ...

Im Januar 1999 waren es drei Abgeordnete aus Peine, Grevenbroich und Kiel, die das Terrain sondierten: Wer will mitmachen, welche Struktur ist zweckmäßig, wie soll das Unternehmen heißen? Netzwerk war der erste Arbeitstitel, der schließlich blieb, weil niemandem etwas Besseres einfiel.

Der Form nach handelt es sich dabei nur um einen e-mail-Verteiler, ohne Satzung, Geschäftsordnung oder Vorstand - ein denkbar offener Zusammenhang. Daneben bilden die inzwischen 13 Bundestagsabgeordneten im Netzwerk als egalitäre Minimalstruktur einen Koordinationskreis, der regelmäßig zusammenkommt. Der Plan des Parlaments gibt den Rhythmus vor, in dem die Aktivitäten des Netzwerks stattfinden können. Waren es in Bonn zunächst etwa 20 bis 40 Netzwerker, die sich sitzungswöchentlich donnerstags abends trafen, so sind es in Berlin 50 bis 100: viele ehemals Juso-Aktive, die jetzt an der einen oder anderen Stelle am politischen Prozeß des sozialdemokratischen Regierungslagers mitwirken, Journalisten, Nachwuchswissenschaftler, Studenten, aktuelle Jusos, Sympathisanten, Abgeordnete - nicht nur aus dem Koordinationskreis und nicht ausschließlich aus der SPD.

Wirken und Werden

Die Diskussionen schaffen etwas, was es unter den Nach-68er Sozialdemokraten bislang kaum gab: ein Mindestmaß an Verbindlichkeit, an gemeinsamen Argumentationsmustern. Zu Vortrag und Diskussion eingeladen waren bisher unter anderem die Parlamentskollegen Wolfgang Thierse, Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Hermann Scheer und Petra Bläss; die Journalisten Ulrich Deppendorf (ARD), Yvette Gerner (ZDF), Tobias Dürr (Die Zeit) und Peter Ehrlich (Financial Times D); die Wissenschaftler Werner Jann, Susanne Miller, Peter Grafe und Klaus Segbers; die Regierungsmitglieder Hans Eichel, Rudolf Scharping und Christine Bergmann.

Unsere Ankunft in Berlin wurde nach dem Hauptstadtumzug im Sommer 1999 mit zwei Veranstaltungen angezeigt: durch eine Diskussion der Youngsters im Willy-Brandt-Haus mit Heinz Bude und Franz Walter, Titel: "Generation Berlin". Und wenig später durch einen Netzwerk-Kongreß am selben Ort, Titel: "Aufbruch Berlin - Zur Zukunft sozialdemokratischer Politik in Deutschland"; dazu waren auch jüngere Mandatsträger und Juso-Vorstände aus den Ländern eingeladen - mit 200 Teilnehmern ein guter Auftakt.

Anfang Oktober 1999 erschien zum ersten Mal die Berliner Republik, die für eine neue linke Generation - undogmatisch, pragmatisch, progressiv - ein Platz der Selbstverständigung sein soll. Verlegt wird die 100 Seiten starke politische Vierteljahreszeitschrift (ab 2001 zweimonatlich) vom sozialdemokratischen Vorwärts-Verlag. Herausgeber sind die MdBs Hans-Peter Bartels (Kiel), Kurt Bodewig (Grevenbroich), Sebastian Edathy (Balge), Kerstin Griese (Düsseldorf), Hubertus Heil (Peine), Christian Lange (Backnang), Birgit Roth (Speyer), Carola Reimann (Braunschweig), Michael Roth (Heringen), Carsten Schneider (Erfurt), Karsten Schönfeld (Eisenberg), Rolf Stöckel (Bönen) und Ute Vogt (Pforzheim).

Auf dem ordentlichen SPD-Parteitag im Dezember 1999 in Berlin gab es eine Abendveranstaltung des Netzwerks zur Rente ("Generationengerechtigkeit oder Generationenegoismus") und im Juni 2000 dann gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung die erste Jahrestagung, ein Wochenende in Freudenstadt/Schwarzwald unter dem Titel "Flexibilität und Sicherheit" (mit Beiträgen von Preis, Rudolph, Gaschke, Walde, Machnig, Merkel, Gleicke, Vogt, Scholz, Krönig). Umgeben vom morbiden Charme dieser in Abwicklung befindlichen Bildungsstätte verschwanden hier, angesichts neuer politischer Erfahrungen und Perspektiven, alt-jungsozialistische Freund-Feind-Kennungen, dass es eine Freude war. Eine Freude auch Lesung und Gespräch mit Thomas Brussig.
Das Netzwerk konstituiert einen sozialen Raum, in dem vielfältige Aktivitäten möglich sind, auch zunehmend kulturelle (Film, Kabarett ...), gelegentlich sogar sportliche. International werden vor allem Kontakte zu jüngeren Labour-Abgeordneten gepflegt.

Gezielte Äußerungen der Netzwerk-Abgeordneten waren etwa im Februar 1999 ein unwirscher offener Brief an die Fraktion ("Mut zum Regieren!"), im Sommer 1999 Erklärungen zum Grundsatzprogramm, später zur Parteireform. Aus dem Netzwerk gab es Initiativen zum Holocaustmahnmal, zur Steuerpolitik und zum "gläsernen Abgeordneten". Das Netzwerk ist aber keine Beschlußmaschine, kein hochnotzuständiges Gremium, das zu allem ein Votum abzugeben hätte.

In der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, wo bisher die kühle Logik des tertium non datur herrschte - Parlamentarische Linke oder "rechte" Seeheimer - gibt es mit der kleinen Gruppe der Netzwerk-Abgeordneten nun allerdings ein organisiertes Drittes.

Feuilleton und Jusos

Mit dem Auftauchen in Berlin, der "Aufbruch"- und der "Generation Berlin"-Veranstaltung und dazwischen dem Erscheinen der Berliner Republik Ende September, Anfang Oktober 1999, war das Projekt einer Sozialdemokratie der nächsten Generation so öffentlich, wie es nur sein konnte. Und alle Reflexe des Feuilletons schnappten zu.

In der Zeit hatte ich bald Gelegenheit, Richard Herzinger und anderen zu widersprechen: Wir sind brav, nett, korrekt, pünktlich, streberhaft, staatstragend, milde, spießig. Das gibt doch schon ein rundes Bild, so langweilig wie ein Volkswagen: unsere praktische Generation Golf eben. (...) Bisher war alles intellektuelle Leben nach 68 nur Negation: nichts Eigenes, nichts Richtiges, nichts. Alles Jüngere war nur in den Kategorien von Mode und Lifestyle zu fassen. (...) Wer das Remake von 68 sucht, sei es als Kopie, sei es als Negativ, Kopf stehend oder seitenverkehrt, der wird nur 68er finden und manche Epigonen in Medien und Wissenschaft, Gewerkschaften und eingefrorenem Jusotum. (...) Herzinger hat recht, wenn er über den unzulänglichen politischen "Nachwuchs" zwischen 20 und 45 schreibt: "Die Marktwirtschaft wird in vollem Umfang bejaht und die liberaldemokratische Verfassung als Geschäftsgrundlage akzeptiert." So ist es. Wir haben, wie unsere Vorgängergeneration, keine bessere Totalalternative in der Tasche - und wissen es sogar schon.

Angegriffen wurden der Begriff "Berliner Republik", die Abgrenzung von 68, das "Generationen"-Etikett, der Mangel an Verbalradikalismus, die Ablehnung innerparteilicher Rechts-Links-Schablonen, das Auftreten, das Aussehen (konkret: "unglaublich dreist"). Damals.

Am besten gefallen hat mir persönlich eine Überschrift in der Woche: "Die Zentristen".

Mittlerweile ist das Netzwerk aus dem politischen Feuilleton auf die aktuellen Hintergrundseiten verlegt. Die Berliner Republik wird meist freundlich besprochen und gelegentlich vorabgedruckt.

Interessant ist auch das Verhältnis des organisierten Parteinachwuchses zum Netzwerk. Manches ging aneinander vorbei; so fand der Juso-Bundeskongreß zeitgleich mit unserer Jahrestagung statt (und das historische Juso-Bundestreffen am Rande des letzten Bundesparteitages - Strasser, Schreiner & Co. - parallel zur Netzwerk-Diskussion).

Dem Juso-Bundesvorsitzenden Benjamin Mikfeld paßte wohl ursprünglich die ganze Richtung nicht. Nix "Generation Berlin" - Jusos seien eher "Generation Dortmund oder Wanne-Eickel"! Später fand er gar das ganze Ausschlachten des Generationen-Konflikts "wohlfeiles Geschwätz".

Und nun legen Teile des Juso-Bundesvorstandes eine Analyse und Vorschläge vor, die in der Berliner Republik stehen könnten (ein Beitrag ist in diesem Heft dokumentiert). Vonwegen Generationengeschwätz: "Über einen langen Zeitraum war jüngeren Generationen in der SPD der Zugang zu Funktionen und Mandaten versperrt, weil die starke Generation der so genannten ‚Enkel‘ (v.a. die 1940er Jahrgänge) dominiert hat." heißt es in einem Vorbereitungspapier zur kürzlich in Berlin abgehaltenen Juso-Konferenz "Sozialdemokratie der nächsten Generation".

In dem Papier wird tapfer vom theoretischen Omnipotenzgehabe der vergangenen Juos-Jahrzehnte Abschied genommen, keine Fix-und-Fertig-Patentantworten aus dem Universum des Postfordismus mehr, sondern eine offene Frage: "Was ist eigentlich das politische Projekt einer neuen Generation in der SPD?"

Auch der im Juso-Krebseimer lange so beliebte Karrierismus-Vorwurf erledigt sich von selbst, wenn jetzt jusooffiziell "ein erheblicher Bedarf an politischen Nachwuchskräften" in der SPD ausgerufen und die Losung "Mehr Junge in den Bundestag" vorgeblasen wird. Willkommen, Benny!

Und was wird als Organisationsform für den "Generationenaufbau" angekündigt? Wie üblich eine "Kampagne"? Nein: Netzwerke! In Matthias Machnigs "Netzwerk-Partei" wird Platz sein für viele networks.

Orientierungen

Einiges ist mir in den Debatten der letzen beiden Jahre deutlicher geworden, drei Beispiele.

Erstens: Ziele können links sein, Instrumente aber nur dann, wenn sie linke Ziele erreichen. Keine Verabsolutierung von Mitteln!

Zweitens: Interessenkonflikte verlaufen immer seltener entlang von sozialen Gruppengrenzen, immer häufiger zwischen den verschiedenen sozialen Rollen des Individuums (als Arbeitnehmer, Beitragszahler, Steuerbürger, Anleger, Verbraucher, Eltern, Patient usw.). Deshalb sollte politische Zustimmung weniger über scheinbar zielgruppengenaue Interessenbedienung auf Mark und Pfennig eingeworben werden und mehr über die Gemeinwohlverantwortung aller.

Drittens: Globalisierung, Modernisierung und Flexibilisierung von allem und jedem drohen mehr gemeinschaftliche Bindungen zu zerreißen und zu verunmöglichen, als der menschlichen Freiheit guttut. Die SPD braucht eine Politik des Schutzes der sozialen Umwelt.

Der Text nimmt Bezug auf zwei Artikel des selben Autors:
"Nach den Enkeln" der Generationenbruch, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 8/1995
"Generation Berlin", in: Die Zeit, 30. September 1999

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