Revolution ohne Kampf

EDITORIAL

Haben wir Reformisten uns das nicht immer gewünscht: Revolution ohne Kampf? Die technische Revolution der Gegenwart jedenfalls scheint widerspruchslos fortzuschreiten. Wo ist die Bewegung ihrer Gegner? Wo ist die fundamentale Technikkritik? Sind auf dem letzten Stück unseres Weges ins total vernetzte, genetisch einwandfrei gezeugte Paradies schon alle Antagonismen überwunden?

Der technische Fortschritt wurde durchaus einmal anders gesehen. "Nicht erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und über den Menschen), methodische, wissenschaftliche, berechnete und berechnende Herrschaft." schrieb Herbert Marcuse 1965. Jürgen Habermas erklärte in Technik und Wissenschaft als Ideologie (1968), das technokratische Bewußtsein sei einerseits "weniger ideologisch" als alle vorangegangenen Ideologien. "Andererseits ist die heute dominante, eher gläserne Hintergrundideologie, welche die Wissenschaft zum Fetisch macht, unwiderstehlicher und weitreichender als Ideologien alten Typs, weil sie mit der Verschleierung praktischer Fragen nicht nur das partielle Herrschaftsinteresse einer bestimmten Klasse rechtfertigt und das partielle Bedürfnis der Emanzipation auf seiten einer anderen Klasse unterdrückt, sondern das emanzipatorische Gattungsinteresse als solches trifft."

Johano Strasser und Klaus Traube zitieren 1981 in ihrem Industrialismuskritik-Klassiker Die Zukunft des Fortschritts den Naturwissenschaftler Jost Herbig (Die Gen-Ingenieure): "Es kann keine isolierte Kritik an der Wissenschaft und an der Technik geben. Die Kritik muß die gesellschaftlichen Strukturen mit einbeziehen, innerhalb derer Wissenschaft und Technik realisiert werden." Und Arno Bammé kommentierte mit seiner soziologischen Forschungsgruppe 1983 (in Maschinen-Menschen Mensch-Maschinen) die noch weit entfernte schöne neue Gentechnik-Welt so: "Das Lebendige wird dem Toten unterworfen, es muß alle seine Eigenschaften als Lebendiges aufgeben, es wird benutzt wie totes Material, als "Biomasse′. Denn das Lebendige funktioniert als Maschine nur, wenn es sein Leben verliert und die Eigenschaften des Toten annimmt."

Das war einmal. Heute werden Fortschrittsdebatten nüchterner geführt. Fast alle, die gegenwärtig am Reden über Innovation, Zukunft und neue Technologien teilnehmen, haben die Dialektik der Kritik schon aufgefressen und verdaut. Was rauskommt, ist wohlabgewogene "Pro-und-Contra"-, "Chancen-und-Risiken"-Rhetorik. Vielleicht muß das, nach allem was wir inzwischen wissen, so sein. Vielleicht wissen wir zu wenig.

Schwerpunktthema dieses Heftes ist die Gentechnik und die mit der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" neu zu belebende Diskussion über die Grenzen des Fortschritts. Denn: "Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und verlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: Die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden." Robert Jungk, 1952.

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