Respekt durch Leistung

Simon Vaut trinkt hausgemachte Ingwerlimonade mit Sawsan Chebli, Vize-Sprecherin von Außenminister Frank-Walter Steinmeier, im Café Wintergarten im Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße 23, 10719 Berlin (täglich geöffnet von 9:00 bis 24:00 Uhr)

Das Café Wintergarten im Literaturhaus war während des Studiums „mein zweites Wohnzimmer“, sagt Sawsan Chebli. Es liegt an der U-Bahn-Strecke zwischen dem Otto-Suhr-Institut (OSI) für Politikwissenschaft der FU Berlin und dem Stadtteil Moabit, wo sie mit ihren Eltern und 12 Geschwistern in einer Dreizimmerwohnung aufgewachsen ist. Sicher ein guter Ort zum Lernen, denn obwohl es nur einen Steinwurf vom hektischen Kudamm entfernt liegt, ist dies ein entspannter Ort, umgeben von einem idyllischen Garten.

Bei ihrer Einschulung sprach sie kaum Deutsch, erzählt Sawsan Chebli. Sie lernte aber früh, dass die Sprache ein mächtiges Instrument ist, das sie beherrschen wollte. Die Identifikation mit Deutschland bekam einen Schub, als sie nach Jahren der Kettenduldung mit 14 einen deutschen Pass bekam. Bis dahin war sie als Kind palästinischer Flüchtlinge staatenlos gewesen. Ihr Vater ist Analphabet, ihre Mutter schreibt und liest nur Arabisch. Beide Eltern legten großen Wert auf die Ausbildung ihrer Kinder. Der Nachname Chebli bedeutet im Arabischen „Löwenkind“, und so biss sie sich durch: Einser-Abitur, Einser-Studienabschluss, Berufseinstieg im Deutschen Bundestag mit außenpolitischem Schwerpunkt, eine Zwischenstation beim Berliner Senat – bis Frank-Walter Steinmeier sie im Januar als Sprecherin ins Auswärtige Amt holte. Ihn hatte sie bereits 2009 kennengelernt, als sie sich in einer Unterstützerinitiative für seine Kanzlerkandidatur engagierte. Als sie sein Angebot bekam, Sprecherin zu werden, zögerte sie keine Sekunde. „Ich wusste, dass ich damit eine riesengroße Verantwortung tragen werde, aber so eine Chance bekommt man im Leben nicht zweimal.“

Wir lassen uns nicht von der reichhaltigen Kuchenauswahl des Cafés verführen und bestellen nur Wasser und Cappuccino. „Meine Studienwahl Politikwissenschaft war meinen Eltern zunächst etwas suspekt“, sagt Sawsan Chebli. Ihnen wäre Handfesteres lieber gewesen. Tatsächlich schrieb sie sich zunächst parallel auch für Medizin ein. Doch schließlich überwog der Wunsch, Politik mitzugestalten. Sie wollte kein Spielball der Politik sein wie ihre Eltern, die fliehen mussten. Am OSI belegte Sawsan Chebli den Schwerpunkt Internationale Beziehungen und war Mitbegründerin der „Jungen DGAP“, um in dem außenpolitischen Think Tank ihrer Generation eine stärkere Stimme zu geben. Ihr Studium finanzierte sie sich unter anderem als studentische Hilfskraft in der „Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients“ des OSI. Das war ein Nischenbereich – bis zum 11. September 2001. Plötzlich erreichte das Institut eine Flut von Presseanfragen.

Auch persönlich war das Datum für Sawsan Chebli eine Zäsur. Bis dahin hatte sich in Deutschland fast niemand für den Islam interessiert, seitdem hat sie das Gefühl, sich für ihre Religion ständig rechtfertigen zu müssen. Sawsan Chebli möchte zeigen, dass der Islam eine friedliche Religion ist und nicht das, was eine laute Minderheit daraus macht. Sie ist die Hauptinitiatorin des Arbeitskreises Muslime in der SPD, der zu mehr Normalität und Differenziertheit beitragen soll. „Ich bin praktizierende Muslima, auch wenn man es mir nicht ansieht“, sagt Sawsan Chebli, die täglich betet und im Ramadan fastet, aber kein Kopftuch trägt. Ihre Religion ist wichtig für sie und gibt ihr Halt, aber sie vereinbart sie pragmatisch mit ihrem Berufsleben: Die fünf Gebete lassen sich auch abends zusammenfassen. „Religion soll uns das Leben erleichtern und nicht erschweren.“

Dass viele praktizierende Muslime nicht dem Klischee entsprechen, ungebildet oder rückwärtsgewandt zu sein, zeigt auch das von Sawsan Chebli mit initiierte Projekt JUMA („Jung Muslimisch Aktiv“). Die Identifizierung über die Religion sei vor allem in der dritten Generation zu beobachten, die Identifikation mit Deutschland falle den jungen Leuten heute dagegen schwerer, sagt Sawsan Chebli. Sie selbst bezeichnet sich mal als Deutsche, mal als Deutsch-Palästinenserin. „Oft witzeln meine Freunde ohne ausländische Wurzeln darüber, wie unglaublich deutsch ich ticke.“ Bei manchen Integrationsdebatten habe sie sich dennoch gefragt, ob dieses Land jemals Menschen wie sie als „Deutsche ohne Zusatz“ anerkennen und respektieren werde. Das große Medienecho nach ihrer Benennung als Sprecherin im Auswärtigen Amt zeige, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Auf den Titelseiten deutscher und arabischer Tageszeitungen, ja selbst in Frauenzeitschriften wurde darüber berichtet – und zwar immer mit dem Zusatz „erste Muslima“ oder „erste Deutsch-Palästinenserin“. Sie selbst war bei den vielen Interviewanfragen sehr zurückhaltend, aber für die Berliner Republik macht die langjährige Abonnentin eine Ausnahme. Sie hofft, dass ihr Migrationshintergrund eines Tages normal sein und nicht mehr so hervorgehoben wird, wie dies auch bei der Ernennung von Aydan Özoguz zur Staatsministerin oder von Yasmin Fahimi zur Generalsekretärin der SPD der Fall war. Aber immerhin hätten junge Einwanderer nun auch in der Politik einige Vorbilder. „Ich wünsche mir, dass in Deutschland jeder danach beurteilt wird, was er kann und nicht aufgrund seiner Herkunft.“

Die Leiterin des Cafés, Stefanie Scheit, kommt an unseren Tisch, um uns zu begrüßen. Sie spendiert uns Ingwer-limonade, die Spezialität des Hauses. Das Café Wintergarten liegt in einer Gründerzeitvilla. Früher gingen hier Wissenschaftler und Künstler wie der Komponist Max Bruch ein und aus. Später wurde das Haus zu unterschiedlichen Zwecken genutzt: als Studentenwohnheim, Lazarett, Volksküche, Bordell und Diskothek. Als es abgerissen werden sollte, setzte sich eine Bürgerinitiative vehement für dessen Erhalt ein, und schließlich überließ die Stadt Berlin das Haus Ende der achtziger Jahre dem Trägerverein des Literaturhauses, der dort nun Lesungen und Ausstellungen veranstaltet.

Der interreligiöse Poetry-Slam, unter anderem mit slammenden Imamen, Rabbinern und Priestern, den Sawsan Chebli in ihrer Zeit als Grundsatzreferentin für interkulturelle Angelegenheiten beim Berliner Innensenator mit ins Leben gerufen hat, hätte hier auch gut hineingepasst. Diese Aufgabe beim Senat bezeichnet Sawsan Chebli im Rückblick als spannenden Ausflug von ihrem Interessengebiet Außenpolitik, der aber ein Exkurs bleibe. Ein Migrationshintergrund mache schließlich nicht zum Integrationsexperten, sagt sie.

Unser Gespräch wird mehrfach von Anrufen unterbrochen. Sawsan Chebli hat an diesem Sonntagnachmittag Bereitschaftsdienst. Komplett arbeitsfreie Zeiten gebe es für sie auch als zweite Sprecherin nur noch selten. Ihre Aufgabe ist es, deutsche Außenpolitik in der Öffentlichkeit zu vertreten und zu erklären. Zudem kleidet sie die Positionen, Gedanken und Ideen von Frank-Walter Steinmeier in Worte, etwa in der Bundespressekonferenz. Dazu muss sie seine Sprachgewohnheiten kennen, gemeinsam mit dem Presseteam und den Fachleuten im Auswärtigen Amt in kürzester Zeit Pressetexte verfassen und aus einer enormen Bandbreite von Fachthemen verdichten. „Das AA ist ein hochprofessioneller Laden, in dem mit unglaublicher Geschwindigkeit und Top-Fachwissen an allen außenpolitischen Themen gearbeitet wird.“ Sich hierauf vollkommen verlassen zu können, gebe ihr gerade in der Anfangszeit Sicherheit. Das Auswärtige Amt war ihr zwar aufgrund ihrer guten Vernetzung auch vorher schon nicht fremd, aber um den Apparat wirklich zu verstehen, müsse man dort länger arbeiten. Einstweilen macht Sawsan Chebli die positive Erfahrung, dass jedenfalls im Auswärtigen Amt das Prinzip „Respekt durch Leistung“ gilt.

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