Reformen und Hass

Henrik Berggren beschreibt das Leben des schwedischen Ausnahmepolitikers Olof Palme als packendes Lehrstück

Von den drei sozialdemokratischen Ausnahmegestalten des vergangenen Jahrhunderts ist die jüngste bei uns am wenigsten bekannt: Olof Palme, der am 30. Januar 84 Jahre alt geworden wäre. Der schwedische Partner in dieser europäischen Achse der Weltverbesserer steht in der öffentlichen Erinnerung des deutschsprachigen Raums ein wenig im Schatten der beiden anderen Denkmalsgestalten, Willy Brandt und Bruno Kreisky.

International hat der skandinavische Patriziersohn aus Stockholm freilich kaum weniger umgerührt als seine beiden älteren Genossen und Freunde vom Kontinent. Ob als verbalradikaler Kritiker des amerikanischen Vietnam-Kriegs, grimmiger Feind des südafrikanischen Apartheid-Regimes oder beharrlicher Gegner des weltweiten Waffenhandels, immer wieder machte er weit über Schweden hinaus Schlagzeilen. Für Unruhe und Ärger sorgte er aber auch daheim als politischer Modernisierer der schwedischen Gesellschaft, aggressiver Provokateur der bürgerlichen Parteien, gegebenenfalls als streitbarer Kontrahent der mächtigen Gewerkschaften (man sprach in den achtziger Jahren vom „Rosenkrieg“) und mit fortdauernder Amtszeit immer häufiger als unnachsichtiger Kritiker der linkssozialistischen Intellektuellen (vor allem in der Auseinandersetzung um verdeckte Aktivitäten des schwedischen Geheimdienstes im Inland, in deren Verlauf zwei linke Journalisten zu Gefängnisstrafen verurteilt worden waren – unverkennbar das Vorbild für Stieg Larssons Millennium-Trilogie). Konflikten ist der selbstbewusste Palme selten ausgewichen, neue Feindschaften zu begründen, hat er sich nicht gescheut, auch nicht, alte Freundschaften aufs Spiel zu setzen. Seine Kritiker und Feinde verfolgten ihn vor allem während seiner zweiten Amtszeit (ab 1984) zunehmend mit politischem Hass und persönlicher Diffamierung. Am 28. Februar 1986 wurde Olof Palme auf dem Heimweg von einem Kinobesuch in Stockholm auf offener Straße erschossen. Der Mörder flüchtete. Bis heute ist die Tat nicht aufgeklärt.

Und wie geht es weiter?

Mit der Ermordung des Ministerpräsidenten endet auch die soeben auf Deutsch erschienene Biografie von „Schwedens internationalstem Politiker“, verfasst von dem Stockholmer Historiker und Journalisten Henrik Berggren. Ein Ende so abrupt wie Palmes Leben heute vor 25 Jahren, bitter und schockierend. Aber es handelt sich bei dem Ereignis natürlich um eine bekannte historische Tatsache, insofern ist man nicht im strengen Sinn überrascht, als die Erzählung mit der Nacht des 28. Februar 1986 abbricht. Und doch, irgendwie erschrickt man: Soll das schon alles gewesen sein?

Man hat das Gefühl, nun, nach 679 Seiten, unendlich viel über Schweden, dieses oft zitierte und vielfach beschworene „Modell“ des fortschrittlichen Wohlfahrtsstaats, gelernt zu haben: über die „Volksheim“-Gesellschaft, die Veränderungen der sozialen Strukturen im Laufe eines ganzen Jahrhunderts, über die Klassengesellschaft, über das Innenleben der mächtigen Sozialdemokratie und über die wachsenden Modernisierungskonflikte, die den Weg des Landes vom Armenhaus des Nordens zum vorbildlichen Industrie- und Sozialstaat begleiteten. Vor allem kennt man nun die zentralen handelnden Figuren der vergangenen Jahrzehnte und deren historische Rolle. Und man weiß eine Unmenge über den ehrgeizigen Sohn aus einer großbürgerlichen Familie, der schon früh sein Interesse an der Politik entdeckte und trotz seiner privilegierten Herkunft den Weg in die Arbeiterpartei fand. So möchte man wissen, wie es weiter gehen soll.

Denn heute, 25 Jahre danach, ist diese Frage aktueller denn je: Schwedens Sozialdemokratie hat zum zweiten Mal hintereinander die Wahl verloren, sie ist auf einem neuen historischen Tief angekommen, sie hat ungelöste Führungs- und krasse Orientierungsprobleme, die bürgerliche Vier-Parteien-Koalition ist bestätigt worden, wenngleich ohne Mehrheit, und im Parlament ist zum ersten Mal eine rechtsextremistische Fremdenhass-Partei vertreten. Schweden, reduziert auf europäisches Normalmaß? Eine gesellschaftliche Vision ist im Land nicht erkennbar. Ein Politiker mit dem legendären Charisma des Ermordeten fehlt hüben und drüben. Die Lücke wurde nie geschlossen. Bedrohlicher Stillstand ist spürbar. Eine große Debatte über die Zukunft des Landes findet nicht statt.

Henrik Berggren beschreibt indirekt, wie es dazu kam. Entlang des Lebens von Olof Palme erzählt er uns einen politischen Entwicklungsroman, in dessen Zentrum eine der modernsten und progressivsten Demokratien der Welt steht. Vor uns liegen wunderbare Tage, so der Titel der Palme-Biografie, ist insofern ein lehrreiches Stück Literatur, in dem eine einzelne Figur als ehrgeiziger Akteur im Zentrum steht, aber vom Autor einfühlsam beschrieben wird in seiner Einbindung in die kulturellen und geschichtlichen Vorgänge und Bedingungen der politischen Zeitläufte. Man muss kein spezielles Faible für Schweden haben, um das spannend zu finden. Interesse an Politik und Geschichte genügen. Wer obendrein Geschmack an realen Dramen hat und ein Gefühl für das Rollenspiel der handelnden Personen, wird von Berggren bestens bedient.

Die Hasskampagne hinterließ Spuren

Das Ende, wie gesagt, kommt abrupt. Aber die Art, wie der Autor die gesellschaftliche Stimmung in dem sich verändernden Land beschreibt, lässt einen das Grauen am Ende des Tunnels ahnen – wie im Kino, wenn die Filmmusik nahendes Unheil spürbar macht. Politische Kritik, persönliche Angriffe und feindselige Tiraden gegen Palme werden in den achtziger Jahren fast alltäglich, und der Betroffene zeigt, wie manche damals schon feststellten, Wirkung. Die Hasskampagne hinterlässt Spuren, Olof Palme wird bitterer. Die öffentliche Atmosphäre im einst so idyllisch langweilig-konsensualen Schweden war feindselig geworden. Manche  äußerten sich besorgt. Aber Mord? Daran wollte man doch nicht denken. Inzwischen hat Schweden mit Palme und der sozialdemokratischen Außenministerin Anna Lindh innerhalb von 20 Jahren zwei charismatische Führungsfiguren durch Mord verloren. Auch die Lücke, die mit Anna Lindhs Tod entstanden war, konnte nicht geschlossen werden.

Der Gedanke, das Worte töten können, liegt nicht fern nach all den Erfahrungen, die man mit politischer Gewalt in modernen Demokratien gemacht hat, von den beiden in den sechziger Jahren ermordeten Kennedy-Brüdern John und Robert über den 1980 in San Salvador erschossenen Erzbischof Oscar Romero bis zur verletzten amerikanischen Abgeordneten Gabrielle Giffords und den Opfern des Gemetzels in Tucson am 8. Januar dieses Jahres: Immer gingen Hetzkampagnen, Verleumdungen und versteckte oder offene Todesdrohungen den Taten voran. Die Sorgen vieler Amerikaner um Barack Obama kommen nicht von ungefähr, die Kampagne der rechten Medien und der Wortführer der Tea Party gehen über das schwedische Hate-Szenario gegen Palme weit hinaus.

Die literarische Rekonstruktion, wie ein Hassklima entsteht und welche Folgen das haben kann, ist zwar nur ein Nebenthema dieser Biografie aus dem vergleichsweise friedlichen Norden Europas, aber dennoch beklemmend aktuell. Auch deshalb lohnt sich die Lektüre dieser packenden großformatigen Erzählung über Schwedens tragischen Helden und über das Land, das er erfolgreich verändert hat. «

Henrik Berggren, Olof Palme – Vor uns liegen wunderbare Tage: Die Biographie, München: btb Verlag 2011, 720 Seiten, 26,99 Euro

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