Protektionismus und Wirklichkeit

Der Fall Nokia hat gezeigt: Ein großer Teil der politischen Führungselite verschließt noch immer die Augen vor den Tatsachen der globalisierten Welt. Sozialdemokraten sollten vor allem Menschen schützen und nicht überalterte Strukturen

Als der finnische Konzern Nokia am 15. Januar verkündete, seine Bochumer Produktionsstätte zu schließen, herrschte im Ruhrgebiet große Empörung. Diese rührte besonders daher, dass das Unternehmen Presseberichten zufolge seit dem Jahr 1995 vom Bund und vom Land Nordrhein-Westfalen Subventionen in Höhe von 88 Millionen Euro erhalten hatte. Die damit verbundene Verpflichtung an den Standort war jedoch im September 2006 abgelaufen. In einer Pressemitteilung gab Nokia an, der Standort Bochum werde aufgrund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit geschlossen; auch mit zusätzlichen Investitionen könne das Werk nicht global wettbewerbsfähig werden. Nokia müsse diesen harten Schnitt machen, um seine langfristige Konkurrenzfähigkeit zu sichern.

Die Empörung der Betroffenen und ihrer Familien in Bochum ist menschlich verständlich. Von der geplanten Schließung werden 2.000 bis 4.000 Arbeitsplätze betroffen sein, je nachdem, ob man auch eine gewisse Zahl von Arbeitsstellen bei Leiharbeits- und Zulieferfirmen in die Berechnung einbezieht. Für eine Stadt mit nicht ganz 400.000 Einwohnern und etwa 125.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bedeutet dies einen herben Schlag. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet ist es zweifellos auch ein echter Rückschlag für die gesamte Region.

„Hemmungslose Gewinnmaximierung“?

Doch so viel Verständnis man für die direkt Betroffenen haben kann, so befremdlich wirken die Reaktionen vieler Politiker. Dass der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) mit der „Subventionsheuschrecke“ eine neue Spezies erschaffte und öffentlichkeitswirksam ans Werktor eilte, mag man bei sehr viel Wohlwollen noch zu seinen Aufgaben als „Landesvater“ zählen. Schließlich kann es im Verhandlungsspiel mit Nokia wichtig sein, eine gute Ausgangsbasis für die zu erstellenden Sozialpläne zu haben. Zweifellos ging es dabei auch um Stimmen bei den kommenden Wahlen. Schon in den vergangenen Monaten war in Düsseldorf und Berlin im Zusammenhang mit ausländischen Investoren eine recht protektionistische Rhetorik gepflegt worden.

Dass aber sogar der SPD-Vorsitzende Kurt Beck dem Konzern Nokia „hemmungslose Gewinnmaximierung“ vorwarf, zum Boykott der Marke aufrief und ankündigte, die SPD werde sich „auf allen Ebenen für den Erhalt des Werks einsetzen“, zeigt nun endgültig, wie sehr ein großer Teil der politischen Führungselite unserer Republik die Augen vor der Wirklichkeit einer globalisierten Welt verschließt. Denn Nokias Entscheidung ist schlicht der unternehmerische Entschluss eines global agierenden Konzerns. Zuvor hatten das Ruhrgebiet, Nordrhein-Westfalen und die Bundesrepublik davon profitiert, dass dieser Konzern in seinem Gewinnstreben seine Produktionsaktivitäten überhaupt erst nach Deutschland ausgedehnt hatte. Wer selbst die Segnungen eines integrierten Wirtschaftsraums genießt, der muss auch fair bleiben, wenn er im Standortwettbewerb eine Niederlage erleidet. Der Aufruf zum Boykott mag die Emotionen der Menschen berühren – er ist zugleich ein deutliches Signal für andere Unternehmen, es sich zweimal zu überlegen, ob sie in Deutschland investieren wollen.

Was kann Nokia zu seiner Entscheidung bewogen haben? Nach Aussage des Konzerns produziert das Bochumer Werk 6 Prozent der Mobilfunktelefone, ist aber für 25 Prozent der Personalkosten verantwortlich. Selbstverständlich verlangen betriebswirtschaftliche Überlegungen nicht automatisch, „weiche“ Parameter auszublenden. Im Gegenteil: Der finnische Konzern legt in seiner Selbstdarstellung viel Wert auf das Bild eines verantwortungsvoll handelnden Unternehmens; die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit spielt also in der betriebswirtschaftlichen Kalkulation eine erhebliche Rolle. Anscheinend überwogen bei der nun getroffenen Entscheidung jedoch die Kostenargumente gegenüber den durch mögliche Imageverluste zu erwartenden (vorübergehenden) Umsatzeinbußen. Nicht zuletzt ist die Trennung von „alten“ Produktionsstandorten wohl auch Teil einer fortwährenden Erneuerungsstrategie. Es fällt schwer, dieses Kalkül im Einzelnen zu bewerten, weil niemand außerhalb des Konzerns die Rentabilität einzelner Standorte kennt. Fest steht, dass Nokia sich verspricht, durch die Verlagerung der Produktionsstätte den Gewinn zu erhöhen.

Die „schwarze Null“ ist nicht genug

Im Übrigen wird mit dem Nokia-Werk die letzte Produktionsstätte von Mobiltelefonen in Deutschland aufgegeben. Obwohl Nokia somit einem Branchentrend folgt, erregte die Stilllegung besonderes Aufsehen. Denn im Gegensatz zu den schwächelnden Konkurrenten handelt Nokia vor dem Hintergrund einer starken Marktposition, und allem Anschein nach hat das Unternehmen in Bochum Gewinne eingefahren. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Nokia an anderen Standorten offenbar rentabler produzieren kann. Aus der Sicht der deutschen Volkswirtschaft, die seit Jahren niedrige Wachstumsraten verzeichnet, ist die sprichwörtliche „schwarze Null“ anscheinend hinreichend, um unternehmerisches Handeln fortzusetzen. Aus der Sicht international mobiler Unternehmen und Anleger ist es jedoch nur schwer einzusehen, warum sich die Ambitionen der Wirtschaft darin erschöpfen sollen.

Mit modernen Vorstellungen der Wirtschaftsethik, wonach moralisches Handeln und gesellschaftliche Verantwortung Grundvoraussetzungen unternehmerischer Tätigkeit sind, ist Nokias sehr unvermitteltes und kompromissloses Vorgehen nicht ohne Weiteres vereinbar. Damit wird auch die Empörung bei vielen (mittelständischen) Unternehmern verständlich, die sich um den Ruf der gesamten Marktwirtschaft sorgen. So belegen auch aktuelle Umfragen, dass die Vorbehalte gegenüber der Marktwirtschaft in Teilen der deutschen Bevölkerung relativ groß sind. Aber letztlich stehen eben bei allen Unternehmen Wirtschaftlichkeitsüberlegungen im Vordergrund. Und genau daraus resultiert die gewaltige Verbesserung des materiellen Lebensstandards in den vergangenen sechs Jahrzehnten – nicht nur in Deutschland.

Was Globalisierung wirklich bedeutet

Wer die Orientierung von Unternehmen an Gewinnerwartungen geißelt, der sollte sich zunächst einmal vor Augen führen, was Globalisierung bedeutet. Dieser Sammelbegriff beschreibt die Öffnung von Märkten über Grenzen hinweg und die drastische Senkung von Informations-, Transport- und Transaktionskosten, die den Austausch von Waren und Dienstleistungen begleiten. Damit gehen grenzüberschreitende Wanderungen von Produktionsfaktoren, Gütern, aber auch zu versteuernden Einkommen und Gewinnen einher, so dass ein Systemwettbewerb entsteht. Diese Veränderungen setzen neue Rahmenbedingungen für die Entscheidungen und Aktivitäten von Individuen, Haushalten und Familien einerseits und von Unternehmen andererseits – und damit auch für die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Globalisierung ist jetzt und in Zukunft neben dem demografischen Wandel der wichtigste Faktor für die Fortentwicklung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen. In Europa wird sie seit Jahrzehnten von der Idee der europäischen Integration begleitet, deren wirtschaftliche Seite die Freizügigkeit des Handels mit Waren und Dienstleistungen sowie der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit umfasst, und die politisch auf das friedliche Miteinander der europäischen Staatengemeinschaft abzielt.

Langfristig profitieren alle – kurzfristig nicht

Der internationale Warenhandel und besonders die Erschließung neuer Handelswege und Märkte sind in der jüngeren Menschheitsgeschichte entscheidende Faktoren beim stetigen Ausbau des materiellen Lebensstandards gewesen. Aus wirtschaftstheoretischer Sicht ist es dabei die mit dem Handel einhergehende Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung, die zumindest langfristig den Lebensstandard aller Beteiligten anhebt. Gerade die Länder Europas haben durch die Gründung und beständige Erweiterung der Europäischen Union die Segnungen der Arbeitsteilung genießen können. Der jüngste eindrucksvolle Beleg für die positiven wirtschaftlichen Konsequenzen der Öffnung gegenüber dem internationalen Handel ist der wirtschaftliche Aufstieg Chinas und Indiens. Auch Deutschland als Exportnation profitiert stark von dieser Öffnung der Märkte.

Gleichzeitig verschärft sich damit jedoch auch der regionale Standortwettbewerb. Dies gilt besonders für Bereiche wie die Unterhaltungselektronik und die mobile Kommunikation, in denen die Konsumenten sehr stark auf Preise achten. Genau deshalb verlagern Unternehmen wie Nokia ihre Produktionsstandorte dorthin, wo sie möglichst kostengünstig produzieren können. So fördern der regionale Standortwettbewerb und die Integration von Wirtschaftsräumen zwar langfristig die Prosperität und bringen den meisten Menschen Vorteile. Sie führen aber auch zu schmerzhaften Anpassungsprozessen, bei denen es Verlierer gibt – im Fall der Nokia-Werksschließung die Bochumer Beschäftigten. Aber haben nicht auch die Menschen in Rumänien ein „Recht auf Wohlstand“?

Insgesamt hat der Lebensstandard in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten weiter zugenommen, bei vergleichsweise moderater Ausdifferenzierung der Einkommensverteilung aber einem umso stärkeren Wachstum des Durchschnittseinkommens. Faktisch konnten daher die unteren Einkommensgruppen erhebliche Zugewinne verbuchen, wenn auch die relative Armutsquote, das heißt der Anteil derer, die in vergleichsweise geringem Maße am Wohlstandsniveau partizipieren, seit den siebziger Jahren angestiegen ist. Darüber hinaus vollzieht sich die Anpassung der deutschen Wirtschaft an die Globalisierung vor dem Hintergrund eines im historischen Vergleich äußerst großzügig ausgestalteten Sozialstaats. Tiefer gehende Analysen zeigen zudem deutlich, dass das Phänomen der so genannten working poor hierzulande schwach ausgeprägt ist. Daher sollte Armutsbekämpfung vorrangig mithilfe einer Arbeitsmarktpolitik betrieben werden, die dem Beschäftigungsaufbau Vorzug vor Lohnzuwächsen gibt.

Wer subventioniert, erlebt Enttäuschungen

Bei Entscheidungen über Unternehmensansiedlungen und Standorterhalt spielen angesichts geringer Transport- und Transaktionskosten mittlerweile die Lohnkosten eine wesentliche Rolle, die sich direkt auf die Renditen auswirken. Vor diesem Hintergrund trägt die momentane Diskussion um Mindestlöhne nicht zur Verbesserung der Wettbewerbsposition Deutschlands bei. Hinzu kommen weitere, heimliche Kostentreiber wie im internationalen Vergleich überzogen wirkende Formen der Mitbestimmung und einige arbeitsrechtliche Regelungen. Nachteile auf diesen Feldern müssen durch exzellente Qualität wettgemacht werden. Und auch Subventionen dienen dem Ausgleich solcher Kostenunterschiede. Ganz offenbar haben sie im Fall Nokia nicht ausgereicht, um den Weltkonzern dauerhaft an den Bochumer Standort zu binden.

Wer Subventionen einsetzt, sollte allerdings von vornherein auf Enttäuschungen gefasst sein. Denn diejenigen, die man mit geldwerten Vorteilen – etwa zinslosen Krediten oder der Befreiung von der Gewerbesteuer – von außen in die Region locken kann, sind offenbar empfänglich für derartige Verlockungen. Sie sind ja gerade nicht in der Region verwurzelt, haben dort keine Geschichte, sind dort nicht mit ihren Belegschaften durch Höhen und Tiefen gegangen. Warum sollten sie nicht auch empfänglich für die Lockrufe anderer sein? Wer mit jemandem anbandelt, der „leicht zu haben“ ist, sollte gewarnt sein, auf was er sich einlässt.

Bildung wirkt besser – nur leider nicht sofort

Andererseits sind Subventionen ein Standardinstrument der regionalen Wirtschaftsförderung. Keine Region kann es sich leisten, auf dieses Instrument zu verzichten, nur um keine Enttäuschungen zu erleben. Auch und gerade Politiker, die Nokias Handeln jetzt „unmoralisch“ und „gewissenlos“ nennen, setzen Subventionen gerne ein, obwohl sie wissen, dass diese nur kurzfristig wirken. Denn in der Politik ist ja der kurze Wahlzyklus der Maßstab, während Unternehmen oft langfristig optimieren, bei allem Kurzfristdenken der Ära des Shareholder Value.

Nachhaltiger wirksam als direkte Subventionen für einzelne Unternehmen sind etwa Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Deren Wirkung zeigt sich jedoch erst auf längere Frist. Ein Beispiel dafür ist die Ruhr-Universität Bochum, die im vergangenen Jahr beinahe den Sprung zur Eliteuniversität geschafft hätte, obwohl es vor vierzig Jahren in der gesamten Region nicht eine Universität gab. Die lange Wirkungsdauer solcher Investitionen ist wohl auch der primäre Grund, warum die Politik lieber über Subventionen direkt in den Markt eingreift. Dabei missachtet sie, dass gerade bei Ansiedlungen der Markt oft der beste Koordinator ist.

Was aber kann die Politik in einem Fall wie Nokia tun? Symbolische Rettungsversuche der „großen Politik“ bringen in aller Regel wenig und dienen bestenfalls zur Profilierung der beteiligten Politiker. Wer erinnert sich nicht an den Fall Holzmann: Vermeintlich gerettet vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, musste das Unternehmen letztlich doch Insolvenz anmelden. Die Zeche für solche Aktionen zahlen die Bürger und die vielen kleinen Unternehmen, die sich mangels prominenter Fürsprecher auch bei vergleichsweise besserer Ausgangslage nicht im Markt halten können.

In Wirklichkeit ist der Einsatz des Staates gefragt, wenn es darum geht, soziale Härten abzufedern, beispielsweise in Form von Umschulung und Qualifizierung. Zudem soll er den geeigneten Rahmen für die Unternehmen setzen. Damit ist jedoch nicht gemeint, direkt in den Markt einzugreifen, wie es beispielsweise die SPD derzeit mit ihrem Vorstoß für Mindestlöhne fordert. Denn sind diese zu hoch, werden weltweit agierende Konzerne ihre Arbeitsplätze erst recht aus Deutschland abziehen. Eine der Folgen der Globalisierung ist es nun einmal, dass die Nationalstaaten sich nicht gegenüber dem Weltmarkt abschotten können. Und wer seinen Wählern vormacht, Mindestlöhne und andere Eingriffe könnten ohne negative Folgen für die Wirtschaft verwirklicht werden, wird ihnen auch die aus ökonomischer Sicht unvermeidbaren Konsequenzen erklären müssen, beispielsweise einen Anstieg der Arbeitslosigkeit gerade in der Gruppe der Geringqualifizierten.

Stattdessen täte auch die SPD gut daran, mehr an die Eigenverantwortlichkeit ihrer Wähler zu appellieren. Denn es trifft – das macht auch das Beispiel Nokia deutlich – immer zuerst die Geringqualifizierten. Sie sind am einfachsten austauschbar, in diesem Fall durch rumänische Arbeiter, die die gleiche Arbeit für einen Bruchteil des deutschen Lohns erledigen. In diesem Sinne haben die Hartz-Reformen mit ihrer Strategie des „Forderns und Förderns“ an der richtigen Stelle angesetzt. Diese wegen des vermeintlichen Wählerwillens wieder aufzuweichen, beispielsweise durch die verlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, zeugt hingegen weder von politischem Rückgrat noch von ökonomischem Sachverstand. Ein solches Vorgehen folgt eher dem Prinzip „Das Gegenteil von gut gemacht ist gut gemeint“.

Zurück zu Nokia: Wer wie deutsche Politiker jeglicher Coleur zum Boykott der Marke aufruft und die Unternehmensführung öffentlich anprangert, gibt damit auch ein deutliches Signal an potenzielle künftige Investoren. Zwar haben die Subventionen nicht dazu geführt, dass Nokia sich langfristig an den Standort gebunden hat, das Bild von der „Subventionsheuschrecke“ aber tut dem Unternehmen unrecht: Das Unternehmen hat während der 18 Jahre am Standort Bochum sehr wohl Arbeitsplätze geschaffen, es hat Steuern gezahlt und sich – nach allem was man weiß – im Großen und Ganzen an die Spielregeln gehalten.

Gleichzeitig sollte der Fall Nokia eine Mahnung für alle sein, die gehofft haben, der Strukturwandel sei eine temporäre Angelegenheit – weg von den ehemals dominanten montanindustriellen Strukturen, hin zu moderneren Technologien wie der mobilen Kommunikation. Doch im technologischen Wettlauf müssen die vordersten Plätze ständig neu erkämpft werden. Wettbewerb heißt leider auch, nicht immer gewinnen zu können. Gleichzeitig gibt er aber immer wieder denjenigen eine neue Chance, die den Wettstreit annehmen.

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