Progressive Reformen 2.0

Als Regierungspartei hat die SPD wichtige Arbeitsmarkt- und Sozialreformen verwirklicht. Doch diese bedürfen heute der energischen Ergänzung, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken und Übergänge in stabile, gut bezahlte Beschäftigung zu verbessern

Im Oktober wird die SPD genau zehn Jahre ohne Unterbrechung an der Bundesregierung beteiligt gewesen sein. Diese Zeitspanne lässt sich in drei Phasen unterteilen: die erste rot-grüne Koalition (1998 bis 2002), die zweite Regierung aus SPD und Grünen (2002 bis 2005) und die Große Koalition (seit 2005). Maßgeblich für die Einteilung der einzelnen Etappen sind nicht nur die Wahltermine, sondern auch und vor allem die grundlegenden Orientierungen der Reformpolitik im Bereich Arbeitsmarkt und Sozialstaat. Auch hier zeigen sich über die Zeit erstaunliche Brüche.

Ende 1998 hatte die SPD zunächst gemäß der Maxime der „sozialen Gerechtigkeit“ einige der sozial- und arbeitsrechtlichen Einschnitte der Vorgängerregierung zurückgenommen, etwa im Bereich Lohnfortzahlung und Kündigungsschutz. In der Folge versuchte sie, die Verbreitung atypischer Beschäftigungsformen wie geringfügige und befristete Beschäftigung oder „Scheinselbständigkeit“ mittels stärkerer Regulierung und Einbeziehung in die Sozialversicherung zu bremsen. Gleichzeitig aber sollte die Ökosteuer die Beitragsentwicklung in der Sozialversicherung dämpfen. In der konjunkturellen Blütephase Ende der neunziger Jahre wurde eine Politik der „ruhigen Hand“ erprobt, flankiert durch langfristig wirksame Reformen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung, welche die Abkehr von der Statussicherung und die Hinwendung zum staatlich geförderten Aufbau privater Zusatzrenten bedeuteten.

Mit der Verschlechterung der Konjunktur und dem bevorstehenden Wahlkampf legte dann im August 2002 der Bericht der Hartz-Kommission den Boden für eine fundamentale, bereits jetzt historisch zu nennende Zäsur in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Das Bündel der Hartz-Reformen, ergänzt durch die „Agenda 2010“ vom März 2003, bedeutet eine paradigmatische Wende hin zu einer stark aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Zu dieser gehörten der Rückbau passiver Leistungssysteme und einkommensbezogener Transferleistungen (Verkürzung des Arbeitslosengeldes I und Abschaffung der Arbeitslosenhilfe), die Verschärfung von Zumutbarkeitsbedingungen und eine massive Umstrukturierung der Instrumente und Träger in der Arbeitsmarktpolitik.

Eine nachholende Modernisierung

Um die Entstehung zusätzlicher Arbeitsplätze zu begünstigen, die ja für den Erfolg der Aktivierung benötigt wurden, setzte sich die regierende SPD in bewussten Widerspruch zu ihrer bisherigen Linie und nahm eine teilweise Deregulierung des Arbeitsmarktes vor: die Lockerung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben, die Öffnung des Handwerks, die Erweiterung der geringfügigen Beschäftigung und die erneute Liberalisierung der Zeitarbeit bei gleichzeitiger Etablierung von Tarifverträgen. Damit verwirklichte die SPD Reformen, die im Vergleich zum bisherigen Verlauf der Reformpolitik, aber auch im Vergleich zur Vorgängerregierung bemerkenswert sind.

Es handelte sich um eine im internationalen Vergleich nachholende und weit reichende Modernisierung, die eine überfällige Anpassung an die Dynamik der Dienstleistungsökonomie erlaubte. Die SPD erkannte hier unbequeme Realitäten an: die Grenzen klassischer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die Notwendigkeit einer Öffnung gegenüber dem Markt sowie der Hinwendung zu einem Grundsicherungsstaat mit Aktivierungsanspruch.

Mutige Schritte, verschreckte Wähler

Dieser mutige Schritt hat sich für die Sozialdemokratie als sehr riskant erwiesen. Er hat Wählerschaft und Mitglieder nachhaltig verschreckt, weil hier ein Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik sowie ein expliziter Bruch mit den ersten Regierungsjahren ohne Vorbereitung und Begründung vollzogen wurden. Dabei hat die regierende SPD keine langfristige und glaubwürdige konzeptionelle Linie entwickelt, vermittelt und durchgehalten. Sie hat weder die nötige Standhaftigkeit bewiesen noch den erforderlichen Pragmatismus an den Tag gelegt.

Die Niederlage bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl im Mai 2005 war ein Vorbote des Verlustes der führenden Regierungsrolle auf Bundesebene im Herbst 2005. Die SPD stieß zunächst noch weitere Reformschritte an, etwa die Rente mit 67, ist aber mittlerweile unter dem Eindruck ihrer schlechten Umfragewerte und der wachsenden Popularität der Linkspartei auf einen stärker regulativen und sozialpolitischen Pfad eingeschwenkt, der die faktische Abkehr von der Agenda 2010 bedeutet. Die Forderung nach einem gesetzlichen oder tarifvertraglichen Mindestlohn als verbindlicher Untergrenze, soweit in der Höhe moderat, kann noch als sinnvolle Flankierung des aktivierenden Sozialstaates vertreten werden. Die erneute Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere, die Forderung einer Fortführung der Altersteilzeit oder die Ausweitung subventionierter Beschäftigung als „Marktersatz“ bedeuten jedoch die Rücknahme des Aktivierungsanspruchs. Die SPD fällt damit zunehmend wieder hinter die Positionen und strategischen Errungenschaften der Ära Schröder zurück und versucht, Unzufriedenheit durch einen „sozialeren“ Kurs zu entschärfen.

Zu spät für die Sozialdemokratie stellte sich erst nach der Bundestagswahl um den Jahreswechsel 2005/2006 eine deutlich günstigere konjunkturelle Entwicklung mit positiven Wirkungen ein. Die registrierte Arbeitslosigkeit ging zurück, und im Jahr 2007 wurde erstmals in der bundesrepublikanischen Geschichte die Marke von 40 Millionen Erwerbstätigen überschritten. Auch konnte der langjährige Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit gebrochen werden. Während in der ersten Hälfte des Jahrzehnts geringfügige Beschäftigung auf Kosten der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze zunahm, kann mittlerweile von einer Renaissance der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gesprochen werden. Der konjunkturelle Aufschwung ist deutlich beschäftigungswirksamer geworden als in früheren Boomphasen. Dies lässt sich als mittelfristiger Effekt der Hartz-Reformen und der parallelen Veränderungen im Bereich der Tarifpolitik deuten.

Die strukturellen Reformen von Rot-Grün haben also zu einem flexibleren Arbeitsmarkt und zur Entstehung zusätzlicher Arbeitsplätze beigetragen. Gleichzeitig nimmt aber die Ungleichheit innerhalb des Arbeitsmarktes zu, die Lohnspreizung wächst, die Unzufriedenheit mit der Lohnentwicklung ist größer geworden, stärker als früher werden Abstiegsängste artikuliert, tatsächliche oder vermeintliche Verwerfungen zudem medienwirksam skandalisiert. Überspitzt gesagt: Es gibt mehr Jobs, aber eben nicht mehr nur gute Arbeit.

Arbeitsmarktintegration als Priorität

Dies kann nicht allein den rot-grünen Reformen angelastet werden. Eine Politik des „work first“, die versucht, Transferbezieher in den Arbeitsmarkt zu integrieren, vergrößert das Arbeitsangebot, was zu einer Ausweitung von weniger attraktiven Jobs und auch niedriger Entlohnung führt. Diese Phänomene sind durchaus normale Folgeerscheinung einer Politik, die Integration in den Arbeitsmarkt zur Priorität erklärt, besonders in einer Phase des technologischen Wandels und der Globalisierung. In der Öffentlichkeit wird die Schuld für die gegenwärtig sehr intensiv diskutierten Missstände aber gern den – mittlerweile auch von vielen Sozialdemokraten selbst – als „neoliberal“ denunzierten Reformen zugeschoben. Mehr Ungleichheit innerhalb des Arbeitsmarktes als Folge von Globalisierung und dynamischer Entwicklung im Dienstleistungsbereich lässt sich in vielen Ländern beobachten. Dabei handelt es sich jedoch um keine schicksalhafte Entwicklung, sie kann durchaus politisch gestaltet und gedämpft werden.

Die Agenda 2010 genügt nicht mehr

Der deutsche Arbeitsmarkt ist insgesamt beweglicher, das Wirtschaftswachstum beschäftigungsintensiver geworden. Dies sind durchaus wichtige Errungenschaften. Die Hartz-Reformen und die Agenda 2010 waren zum damaligen Zeitpunkt richtig und notwendig, haben sich aber inzwischen als noch nicht ausreichend erwiesen, da sie neue soziale Fragen aufgeworfen und gesellschaftliche Spannungen verschärft haben, die der Bewältigung harren. Die SPD könnte sich zumindest die Modernisierung des Sozialstaates und das bessere Funktionieren des Arbeitsmarktes zugute halten. Dafür hat sie sich aber gewissermaßen aufgeopfert. Gerade die richtigen und überfälligen Reformen erwiesen sich als unpopulär. Sie führten zur Abspaltung der WASG sowie zur Bildung der Linkspartei – und damit zur gegenwärtig schwierigen Situation der SPD. Es verwundert deshalb nicht, dass sich die SPD von ihren eigenen Reformen distanziert, obwohl sie eigentlich allen Anlass hätte, ihre Erneuerungspolitik selbstbewusst zu verteidigen. Denn aufgrund ihrer historischen Verdienste und ihrer Grundorientierungen ist die SPD am besten prädestiniert für eine progressive Fortführung der Reformen.

Sowohl aus Sicht des Arbeitsmarktes, aber auch politisch besteht die Notwendigkeit einer sinnvollen Fortentwicklung. Es ist an der Zeit, die Reformen hin zur Aktivierung von Arbeitsuchenden und zur Öffnung des Arbeitsmarktes nun durch eine neue Reformagenda zu ergänzen, die die soziale Kohäsion stärken und die Chancen auf Übergänge in stabile und gut entlohnte Beschäftigung verbessern. Schritte in diese Richtung erfordern Mut, denn sie entsprechen nicht dem gegenwärtigen Zeitgeist, der zu einem Überbietungswettlauf traditioneller Umverteilungskonzepte und sozialpolitischer Abfederungsprogramme beigetragen hat. Geht die SPD in diese Richtung mit, so untergräbt sie ihre Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit erneut. Der „sozialpolitische Reflex“ – mehr Regulierung und großzügigere Sozialleistungen – ist zwar kurzfristig populär, wirkt aber auf längere Sicht als süßes Gift: Er hilft für die Zukunft nicht weiter, sondern bringt neue Lasten und Risiken in Gestalt verfestigter Exklusion mit sich.

Die SPD hätte also allen Grund, einerseits ihren Reformkurs zu verfechten und diesen andererseits und gleichzeitig in Richtung eines vorsorgenden Sozialstaates weiter zu entwickeln, der mehr ist als eine rhetorische Hülse. Sie könnte sich sehr wohl zu ihren Reformen bekennen und signalisieren, dass diese noch unvollständig waren. In den Vordergrund tritt damit das Ziel, Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Sozialpolitik auf die Befähigung der Erwerbspersonen auszurichten, damit diese an der neuen Arbeitswelt erfolgreich und existenzsichernd teilhaben können.

Die SPD als progressive Reformpartei

Die SPD könnte damit als progressive Reformpartei eine Position in der Mitte zwischen Marktliberalismus und traditionell linker Umverteilungspolitik einnehmen, obwohl und gerade weil der Zeitgeist mehr Verteilungs- und Sozialpolitik klassischen Stils bevorzugt. Wurden mit den Hartz-Reformen und der Agenda 2010 zu Recht Marktöffnung und Aktivierung in den Mittelpunkt gerückt, so müssen nun bestehende Verunsicherungen und Ängste durch eine soziale Politik aufgefangen werden, die mittels realer Chancen auf bessere Entlohnung und stabile Beschäftigung sowie mehr Aufwärtsmobilität für soziale Kohäsion und insgesamt höhere Produktivität sorgt.

Um es klar zu sagen: Es gibt auf dem Gebiet der Arbeitslosenunterstützung keine vernünftige Alternative zu einer Aktivierungspolitik. Eine sanftere Therapie über „sozialere“ Elemente – also weniger strikte Zumutbarkeit oder großzügigere Sozialleistungen – ist nicht sinnvoll und erhöht das Risiko gesellschaftlicher Ausgrenzung, weil so Aufstiegs- und Bildungsanreize untergraben werden. An einer konsequenten und frühzeitigen Aktivierung muss also festgehalten werden, aber sie ist um eine Politik der nachhaltigen und existenzsichernden Integration in den Arbeitsmarkt zu ergänzen. Langfristiger Verbleib in Niedriglohn, Ketten prekärer Beschäftigung oder das „Aufstocken“ von Hartz IV durch Erwerbsarbeit sollten so weit wie möglich überwunden werden. Dies setzt einerseits klare Anreize zu Vollzeitarbeit anstelle von Minijobs oder geschickt kalkulierten Hinzuverdiensten voraus, andererseits die Ergänzung von „work first“ durch die Vermittlung und Stärkung von Qualifikation und Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitnehmern während eines Einstiegsjobs, damit sie dann in stabile und besser bezahlte Arbeit wechseln können.

Mindestbildung und Aktivierung

Gleichzeitig bedeutet vorsorgende Sozialpolitik aber auch die Mobilisierung aller Qualifikationspotenziale schon vor dem Eintritt in den Arbeitsmarkt und während der Erwerbstätigkeit, um Risiken der Arbeitslosigkeit und der Exklusion von vornherein so gering wie möglich zu halten. Neben die materielle Grundsicherung von Hartz IV sollte ein „Bildungsexistenzminimum“ treten, das ausreichen muss, um am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Als Recht und Pflicht für jeden setzt Mindestbildung die gezielte Unterstützung von Schülern und Berufsanfängern aus schwierigem familiären oder sozialen Umfeld voraus – und notfalls auch stärkere staatliche Interventionen.

Zu gezielten Angeboten gehört aber auch die Pflicht, diese anzunehmen. Es darf nicht gestattet sein, einfach in Transfersysteme auszuweichen. Je ausgewogener die Qualifikationsprofile der Erwerbspersonen und je mehr Menschen mindestens über Grundqualifikationen verfügen, desto weniger Druck entsteht in Richtung stärkerer Lohnspreizung und „unangenehmer“ Aktivierung. Damit lassen sich Niedriglohnkarrieren wesentlich verkürzen oder vermeiden. Zudem macht Mindestbildung Mindestlöhne weniger problematisch.

Im weiteren Verlauf des Erwerbslebens muss lebenslanges Lernen aller Arbeitnehmer ganz selbstverständlich dafür sorgen, dass jeder auf einem dynamischen Arbeitsmarkt bestehen kann. Dies verlangt neue Formen des Engagements von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Staat in der Weiterbildung, besonders effektive Formen einer Kofinanzierung von lebenslangem Lernen. Außerdem muss ein Markt für Weiterbildung geschaffen werden mit der Möglichkeit, Zertifikate über einzelne, auch übertragbare Qualifikationsmodule zu erwerben. Mithin bedeutet Bildung die erste Chance im Lebensverlauf und Aktivierung die zweite.

Eine solche vorsorgende Sozialpolitik wäre eine genuin sozialdemokratische Agenda. Sie könnte gesellschaftliche Spaltung und soziale Exklusion verhindern sowie in wirtschaftlicher Sicht eine insgesamt höhere Produktivität ermöglichen. Jedoch: Eine solche Politik konkurriert um Ressourcen mit Maßnahmen wie subventionierten Arbeitsplätzen oder Transferleistungen, die tagespolitisch und wahltaktisch vor allem bei vollen Kassen oft Vorrang genießen.

Umschichten in Richtung Prävention

Für die Zukunft ist aber wichtig, keine Ausweitung kompensierender Politik zu beschließen, sondern in Richtung Prävention umzuschichten. Aktivierung kann Handlungsspielraum für Bildung schaffen, weil durch sie die Ausgaben für Transferleistungen sinken – umgekehrt wird Bildung mittelfristig wiederum den Druck auf die Sozialsysteme vermindern. Aktivierung und Bildung gehören also zusammen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt, Zukunftsinvestitionen nicht zugunsten kurzfristiger Umverteilungspolitik auf die lange Bank geschoben werden.

Diese Richtungsentscheidung zwischen Kompensation und Prävention ist nicht einfach. Aber sie ist unvermeidlich und für die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft entscheidend. Eine stärkere Betonung der Prävention gegenüber der Kompensation wäre die notwendige und konsequente zweite Phase progressiver Reformen. Sie allein vermag angesichts von Globalisierung und konjunkturellen Unsicherheiten in Zukunft für gesellschaftlichen Zusammenhalt und wirtschaftlichen Wohlstand zu sorgen.

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