Politische Bildung klappt nicht in Moll

zu Hans-Peter Bartels, Fünfzig Jahre Politikverdrossenheit, Berliner Republik 1/2008

In seinem Beitrag „Fünfzig Jahre Politikverdrossenheit“ behandelt Hans-Peter Bartels kritisch und selbstkritisch das Feld praktischer Politik und Politikvermittlung. Seiner Analyse ist größtenteils sicherlich zu folgen. Das gilt auch für den Gedankengang, dass sich Politik und Politikvermittlung respektive Politische Bildung immer wieder neu erfinden und um Glaubwürdigkeit ringen müssen. Dennoch fällt in Bartels’ Beitrag eine resignative Tonart auf. Der Text ist mehr Moll als Dur, sein Glas halbleer statt halbvoll.

In der postfordistischen, entgrenzten und durch die Omnipräsenz der Medien bestimmten Gesellschaft hat es der kritisch gestimmte, sozialdemokratische Geist nicht leicht. Die Welt ordnet sich neu, die repräsentative Demokratie und ihre politischen Parteien rennen diesen oft fremdgesteuerten Prozessen hinterher und versuchen zu retten, was zu retten ist. Populismus linker und rechter Provenienz feiert fröhliche Urständ. Die Medien spitzen die Gesamtlage sorgsam zu, meist ohne dabei ihre eigene Ambivalenz und Getriebenheit zu thematisieren.

Dennoch reagieren die Wählerin und der Wähler – und das ist mein erster Einwand gegen Hans-Peter Bartels – allen Unkenrufen zum Trotz besonnen. Bisher bleiben sie, alles in allem, am Ball der repräsentativen Demokratie. Den öffentlichen Debatten folgen sie kritisch und lassen sich nicht durch das erstbeste Wahlplakat und die zweitbeste Boulevardposse aus der Kurve tragen. Oder wie sonst darf man die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen interpretieren?

Das wiedervereinte Deutschland verzweifelt an den demoskopischen Erhebungen, denen zufolge das demokratische Glas halbleer und zudem zerbrechlich ist. Aber an seinen demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen hält es selbstbewusst fest. Und dass, obwohl wir es aktuell mit einer Entsolidarisierung und Entgrenzung der Gesellschaft zu tun haben. Wenn Extremisten versuchen, die demokratische Öffentlichkeit auszuhebeln und die Superreichen durch Steuerhinterziehungen die soziale Marktwirtschaft delegitimieren, schlägt die Stunde der repräsentativen Demokratie. Hier kann sie zeigen, was sie auszeichnet und vermitteln, um welche Gesellschaft es in unserem Land gehen soll. In der demokratischen Zivilgesellschaft bleibt nichts auf Dauer „unter der Decke“.

Die Nachfrage ist ungebrochen

Es ist um die Politik gar nicht so schlecht bestellt, wie sie selbst glaubt. Aber das halbleere Glas – und das ist mein zweiter Einwand – führt bedauerlicherweise dazu, dass der fehlende Glaube auf verwandte Bereiche wie die Politische Bildung übertragen wird. Hans-Peter Bartels kritische Einlassungen sind nicht neu. Neu ist aber, dass im politischen Raum ein veraltetes Bild von Politischer Bildung besteht. Der Glaube an die Wirksamkeit Politischer Bildung schwindet und droht in Skepsis, ja Ablehnung umzuschlagen.

In Niedersachsen ist die erste Landeszentrale für politische Bildung vom Erdboden verschwunden. Andere Landeszentralen sind in ihrem Wirkungskreis in den vergangenen Jahren stark eingeschränkt worden. Den Trägern der Erwachsenenbildung sind angesichts des zunehmend wettbewerbsorientierten Bildungsmarktes die Mittel für Politische Bildung abhanden gekommen. Es geht den meisten Einrichtungen gar nicht in erster Linie darum, mehr Mittel zu erhalten, wie Hans-Peter Bartels unterstellt. Sie wären schon froh, wenn sie sich nicht aufgrund von Entscheidungen der politisch Verantwortlichen immer weiter einschränken müssten. Noch steht die beeindruckende und unvergleichliche Infrastruktur der Politischen Bildung in Deutschland zwar, aber sie bekommt zunehmend Risse.

Dabei ist die Nachfrage nach Politischer Bildung ungebrochen. Woher kommen denn die durchschnittlich 7,5 Millionen monatlichen Seitenabrufe des Internetangebots www.bpb.de der Bundeszentrale für politische Bildung? Wer bestellt und bezahlt die jährlich von ihr angebotenen gut 900.000 Buchpublikationen, die rund fünf Millionen Hefte der „Informationen zur politischen Bildung“, die eine Million jährlich abonnierten Hefte des Jugendmagazins fluter und die zahllosen Lehrermaterialien? Wer besucht denn die rund 250 Veranstaltungen der Bundeszentrale pro Jahr und die von ihr geförderten etwa 3.500 Seminare der Träger der Erwachsenenbildung? Die deutsche Politikverdrossenheit arbeitet offenbar an sich! Politische Bildung ist stark, wo sie in bewegten Zeiten aktuelle Themen aufgreift, die Urteilsfähigkeit schärft und Menschen zu politischem Handeln aktiviert und motiviert.

Die Abkürzung SPD kann keiner decodieren

Es wäre aber unfair, die geäußerte Kritik mit Erfolgsmeldungen zu erschlagen. Denn bekanntlich funktioniert Politische Bildung dort am besten, wo die Bereitschaft für sie bereits gut ausgeprägt ist. Politische Bildung hat ein – noch nicht einmal ausgeschöpftes – Stammpublikum. Dennoch ist die Situation in vielen gesellschaftlichen Milieus eine andere. Stefan Raab hat kürzlich in seiner Sendung TV Total Vertreter eines eher politikabstinenten Milieus nach der Bedeutung von zwei Abkürzungen befragt: Die Abkürzung SPD konnte keine einzige der befragten Personen decodieren, dass sich hingegen hinter GZSZ die Fernsehserie „Gute Zeiten Schlechte Zeiten“ verbirgt, wussten alle sofort.

Für diese „niedrigschwelligen“ Zielgruppen – in sozialpädagogischen Kategorien gesprochen – muss sich die Politische Bildung neu erfinden. Es geht um Formen der Politischen Bildung, die an dem jeweiligen Medienverhalten sowie am sozialen Nahraum anknüpfen, um elementare politische Zusammenhänge zu vermitteln. Dafür bedarf es methodischer und didaktischer Strategien, die in der alltäglichen Politischen Bildung in der Schule nur in begrenztem Maße angewendet wird. Die Aktivierung und Partizipation im schulischen Umfeld und in der Nachbarschaft wird selbst zum Gegenstand Politischer Bildung.

Wo Bartels Recht hat, hat er Recht

Bei allen Einwänden hat Hans-Peter Bartels daher Recht, wenn er verstärkte Reflexion über Politikvermittlung und Politikrezeption einfordert. Das von ihm vorgeschlagene „Institut für die Didaktik der Demokratie“ könnte hier Akzente setzen: nicht, indem es eine bestimmte wissenschaftliche Schulmeinung favorisiert oder in der unproduktiven Auseinandersetzung zwischen Demokratiepädagogen und Politikdidaktikern Partei ergreift, sondern indem es Politik und Politische Bildung mit hochwertigem, wissenschaftlichem, empirisch fundiertem Material versorgt. Ein solches Institut wird sich nicht im luftleeren Raum etablieren können, erst recht nicht gegen das bestehende reichhaltige System der Politischen Bildung in Deutschland, das in anderen Ländern seinesgleichen sucht.

Es gilt, die bestehenden Institutionen auf dem Gebiet der Politischen Bildung wieder zu stärken und nicht zu schwächen, wie dies in den vergangenen Jahren leider immer wieder geschehen ist, sei es durch Personalabbau oder die Streichung von Mitteln und Lehrstühlen. Es gilt, die Kräfte zu bündeln und die bestehenden Strukturen zu stärken, die zugleich Ausdruck einer pluralistischen und föderalistischen Gesellschaft sind. Ein Didaktik-Institut könnte dabei zu einem effizienten Transmissionsriemen werden, der die Qualität und Transparenz der Politischen Bildung und letztlich auch der Politik selbst fördert.

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