Politik und Gewalt

In der Außenpolitik hat Deutschland in den vergangenen Jahren unter sozialdemokratischer Führung einen weiten Weg zurückgelegt. Doch noch immer fehlt ein angemessener Diskurs. Ein Plädoyer für die Gründung einer großen außenpolitischen Zeitschrift

Die SPD hat in der Außen- und Sicherheitspolitik in den letzten Jahren einen interessanten, bemerkenswerten Weg genommen. Ihr besonnenes, pragmatisches Verhalten trug entscheidend dazu bei, dass sie trotz eines sich dramatisch verändernden Umfeldes nach dem 11. September 2001 und dem vorläufigen Ende der Blütenträume der New Economy in der Regierungsverantwortung blieb und die innen- und außenpolitischen Fehler der Jahre 1930 und 1982 nicht wiederholte. Prinzipienpolitik hatte damals dazu geführt, dass die letzte sozialdemokratisch geprägte Regierung der Weimarer Republik unter Reichskanzler Müller-Franken scheiterte und den Weg für die Präsidialkabinette frei machte. Der Rest ist bekannt.

1982 verlor Helmut Schmidt den Rückhalt seiner Partei, weil die SPD den Sparkurs nicht unterstützte, welcher der FDP am Ende den Vorwand bot, die Koalition zu verlassen und zur Union überzuwechseln. Das emotionalere, polarisierendere Thema, das die Sehnsucht nach Abgabe der lästig gewordenen Regierungsverantwortung fortlaufend steigerte, war jedoch die Nachrüstung gewesen.

Die Generation eines Willy Brandt und eines Helmut Schmidt wusste, was die harten Bänke der Opposition bedeuten. 36 Jahre vergingen, bis die Sozialdemokratie nach dem nationalsozialistischen "Geschichts-Bruch" eine neue Chance bekam. Und lange musste Gerhard Schröders Generation nach 1982 warten, bis sich die unverhoffte Gelegenheit ergab, doch noch an die Regierung zu kommen. Lange Zeit sah es nach deutlich mehr als sechzehn Jahren aus.

Im Sommer 2002 - in schier auswegloser Lage - zog Gerhard Schröder eine Karte, vor der ihm alle Demoskopen abgeraten hätten: Er wählte in der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes das Thema Außen- und Sicherheitspolitik, den begrenzten Konflikt mit der US-Regierung Bush jr. - nicht mit den USA. Und er gewann. Spätestens hier wurde deutlich, dass die Achtundsechziger ihren Frieden mit Helmut Schmidt gemacht haben. (Es wäre nicht schlecht, dies auch einmal öffentlich zu sagen, vielleicht anlässlich eines sicherheitspolitischen Symposiums für den Altkanzler in Berlin.) Aber nicht nur mit ihm hat die SPD den Konflikt beigelegt. In der SPD insgesamt ist ein Reifungsprozess eingetreten. Interessen- und Machtfragen in der internationalen Politik sind für die Achtundsechziger nicht länger von Übel. Gerhard Schröder und Joseph Fischer lernten dies auf bittere Weise bei den EU-Verhandlungen mit den Franzosen. Und die SPD-Bundestagsfraktion ist nicht mehr in eine kleine Gruppe von Pragmatikern mit Regierungsämtern auf der einen und friedensbewegten Idealisten auf der anderen Seite unterteilt.

Außenpolitik mit einem System von Aushilfen

Aber den ganzen Weg ist die Partei noch nicht gegangen. Das Verhalten der Bundesrepublik beim Balkan-Konflikt, in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Mazedonien sowie später in Afghanistan hat noch nicht zu einer Linie eines gereiften außenpolitischen Politikverständnisses geführt. Und genau dies zeigt - Bush jr. hin, Rumsfeld, Cheney & Co. her - die deutsche Irak-Politik an. Vordergründig hat Schröder nachträglich für seine Strategie Recht bekommen, Deutschland militärisch vom Zweistromland fernzuhalten. Aber er lebte und lebt - wie Bismarck nach 1871 - von einem System von Aushilfen. Was vor gut 100 Jahren die monarchistischen Vettern für Wilhelm II. waren, sind für Schröder nun Chirac und Putin.

Die SPD, und damit die Generation der Kinder der Soldaten des Zweiten Weltkriegs, scheut vor der letzten Konsequenz zurück: Wie die Flakhelfer-Generation eines Helmut Kohl will sie dieses Land vor Kriegshandlungen bewahren. Es ist der Dramaturgie im Fernsehzeitalter geschuldet, dass man seit den Tagen des Kosovo-Konflikts davon spricht, dass hier das letzte große Tabu der zweiten deutschen Republik fiel, dass sich Deutschland erstmals seit 1945 an einem Krieg beteiligte. Aber stimmt diese Aussage? Formal ist sie sicherlich richtig. Es gab Kampfeinsätze der Luftwaffe. Verbände der Bundeswehr rückten im Kosovo jedoch erst ein, als mit Kampfhandlungen am Boden kaum noch zu rechnen war. In echte Kampfhandlungen waren deutsche Bodentruppen seit 1949 noch nie verwickelt, aber viele junge Deutsche in der Uniform der französischen Fremdenlegion. Die Kreuze auf den Soldatenfriedhöfen Vietnams tragen sehr viele deutsche Namen.

Zu Hause in Europa oder in der ganzen Welt?

Der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan war dann eine Folge des Schockerlebnisses von New York, keineswegs entsprang er einer konsequenten Weiterentwicklung der deutschen Politik nach 1998. In einem Augenblick, in dem der weitere Verlauf der Ereignisse nicht absehbar war, gesellte sich die Bundesrepublik zu einem weltweiten Solidaritätsverbund - eine auch aus heutiger Sicht richtige Entscheidung. Ein paar Monaten später, als sich die große Staubwolke lichtete, begannen aber jene Selbstzweifel, mit denen sich Deutschland seit der Wiedervereinigung und der Rückkehr der vollen Souveränität herumplagt. Das Kerndilemma: Deutschland weiß nicht, ob es eine mittlere Macht (ohne Atomwaffen) wie Großbritannien und Frankreich, aber mit weltweiten Einsatzmöglichkeiten sein soll, oder ob es sich auf eine regionale und damit europäische Aufgabe beschränken soll. Der Anschlag auf das World Trade Center hat diese wichtige Debatte in Deutschland zunichte gemacht, die in Verbindung mit dem Mazedonien-Einsatz gerade erst begonnen hatte. Aber es ist noch nicht zu spät, sie zu führen.

Die SPD muss sich dabei mit einigen Grunderfahrungen der letzten Jahre abfinden:

Erstens, es gibt - wie zu allen Zeiten - auch weiterhin Gewaltbereitschaft und Gewalt auf der Welt, auf die - notfalls - mit Gegenwehr und Gegengewalt geantwortet werden muss. (Als sich im März 2004 im Kosovo binnen weniger Stunden eine Welle der Gewalt ausbreitete, waren die Polizeikräfte überfordert. Soldaten stellten die Ordnung wieder her. Nur vor ihnen hatten die gewaltbereiten Gruppen Respekt. Viele von uns schütteln den Kopf über das archaische Verhalten der Albaner und Serben. Aber war dies zwischen Deutschen und Polen 1945 etwa anders?)

Keine Prävention ohne Bereitschaft zur Gewalt

Daraus ergibt sich, dass eine Politik der Prävention immer unterfüttert sein muss mit glaubwürdiger Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Das klingt fürchterlich und rückwärtsgewandt. Aber politikwissenschaftliche Theorien haben sich noch selten im grauen Alltag von Völkern bewährt, die wie Privatpersonen mit Emotionen und Leidenschaften leben. (Man wird sehen, dass bei erneuten Unruhen im Kosovo die Risiken für die deutschen Soldaten steigen, weil sich die Frage des Gebrauchs von Schusswaffen sehr früh stellen wird.) Gewalterfahrene Nationen, die beispielsweise gerade eine langjährige Diktatur oder Unterdrückungsphase hinter sich haben - im Falle der Albaner und Serben Jahrhunderte von Unterdrückung - reagieren nach den Regeln allgemeiner Lebenserfahrung. Sie brauchen mitunter zunächst mehr die Peitsche als das Zuckerbrot. Sie müssen über längere Zeiträume hinweg zur Ruhe kommen. Erst dann stellen sich Bilderwechsel zu einem friedlichen Zusammenleben ein.

Zweitens, Deutschland ist in aller Regel gut beraten, außen- und sicherheitspolitisch im Konvoi zu fahren. Trotz einer sehr guten Performance seit 1949 verfügt das Land nicht wie die meisten anderen europäischen Partner über eine außenpolitische Klasse im Sinne einer Funktionselite - von der noch zu sprechen sein wird - sowie über positive Erfahrungen bei der Ausübung von Macht und der geschickten Durchsetzung von Interessen.

Haben sich die Deutschen wirklich geändert?

In den Jahrzehnten zwischen 1871 und 1933 - von den 12 Jahren danach ganz zu schweigen - hat Deutschland, von außen betrachtet, immer sehr unruhig, sehr übertourt gewirkt. Es wollte immer dabei sein, ohne zu wissen, warum. Was Deutschland bis heute verdrängt: Das Kaiserreich hatte kein attraktives, exportierbares Gesellschaftsmodell, keinen Masterplan, mit dem es andere Teile der Welt hätte beeindrucken können. Und die Weltherrschaftspläne der Nationalsozialisten zwangen dann den Rest der Welt dazu, zusammenzustehen, um diesen singulären Anschlag auf Grundtatbestände des Zusammenlebens von Menschen und von Völkern abzuwehren.

Binnen anderthalb Generationen sind derartige außenpolitische Fehlleistungen, die Katastrophe des Nationalsozialismus für Deutschland und Europa, nicht aus dem kollektiven Gedächtnis der Völker zu löschen. Warum dieser Hinweis? Weil die Diskussionen um die deutsche Vergangenheit - national wie international - emotionaler ausfallen werden, wenn in einigen Jahren die Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind. Der Besuch eines Holocaust-Museums in Jerusalem, in Washington, D.C., und an vielen anderen Orten auf der Welt wird dieses Land immer wieder aufs Neue mit der Frage konfrontieren, wie es dazu kommen konnte, und ob sich die Deutschen wirklich geändert haben. Darauf müssen auch künftige Generationen von Deutschen vorbereitet sein.

Ruhiges und besonnenes Verhalten - nicht jedes Jahr neue Ideen für eine funktionierende Weltordnung - sind daher oberste Pflicht für jedes deutsche Kabinett der kommenden Jahrzehnte. Denn die vergangenen fünfzig Jahre als Partner reichen bei weitem nicht aus, das vergessen zu machen, was an Stereotypen über die deutsche Außenpolitik im Allgemeinen und die Zeit der NS-Diktatur im Speziellen existieren. Es ist erschreckend, konstatieren zu müssen, dass beispielsweise in Großbritannien eine - um es vorsichtig zu formulieren - an Deutschland gänzlich uninteressierte Generation heranwächst. Wenn sich die Geschichtsvakuen zwischen den europäischen Völkern künftig ausweiten sollten, drohen Konflikte ganz neuer Art.

Der Sitz im Sicherheitsrat ist ferner denn je

Drittens, Großbritannien und Frankreich werden auf absehbare Zeit Nuklearmächte bleiben und in Verbindung mit ihrer Rolle als einstige Ordnungsmächte einen Status besitzen, den Deutschland nicht erreichen kann. Infolge der Entwicklungen der letzten Jahre und eines anhaltenden Gegensatzes zwischen den USA und einem Deutschland, das der Rolle des (ewig dankbaren) Juniorpartners entschlüpft ist, ist der ständige Sitz im UN-Weltsicherheitsrat für Deutschland ferner den je. Er ist nur zu haben, wenn sich Deutschland im Notfall weltweit und rasch an der Seite der Supermacht militärisch engagiert. Dieser Fall wird nicht eintreten. Viertens, Deutschland sollte nach seinen historischen Erfahrungen den Mut dazu haben, sich weitgehend auf eine Stabilisierungsrolle in Europa zu beschränken.

Der Balkan ist ein Aufgabenfeld für die nächsten fünfzig Jahre. Die meisten Partner Deutschlands haben Erfahrungen als Kolonialmächte. Und sie tragen Verantwortung für die Folgen einer Politik, die 100 bis 400 Jahre - wie im Fall von Portugal - andauerte. Deutschland ist diesem Schicksal durch eine Fügung der Weltgeschichte weit gehend entgangen. Es war nur 25 Jahre lang in Afrika. Ihm fehlt es dadurch aber auch an "Antennen" für Vorgänge im Rest der Welt, an Expertise, wie sie beispielsweise Frankreich, Spanien oder Italien im Nahen Osten haben.

Fünftens, wenn die Welt weiterhin unruhig bleibt, müssen in Kombinationen der Supermacht USA mit unterschiedlichen Partnern regionale Lösungen gesucht werden. Es kann nicht sein, dass zwei bis drei Dutzend Staaten im Rest der Welt für Ordnung sorgen. In den beiden Amerikas hat sich diese Vorgehensweise bewährt. Und wenn die Amerikaner klug sind, werden sie einem Kuba nach Castro Lösungen anbieten, vor allem elastische Übergänge für absteigende Eliten, wie sie in Ost- und Ostmitteleuropa nach 1989 griffen.

Eliten machen um Deutschland einen Bogen

Im Nahen und Mittleren Osten bis hin nach Afghanistan gilt der gleiche Grundsatz: Weltvormacht im Zusammenspiel mit regionalen Mächten wie Iran. Aber in dieser Weltgegend müssen die Amerikaner ihr Profil sogar deutlich absenken, wenn die Erregungszustände der Muslime in absehbarer Zeit abebben sollen.

In Asien, das weiterhin in Kategorien der großen militärischen Auseinandersetzung denkt, wächst China als Konkurrent und Herausforderer der Vereinigten Staaten binnen der nächsten 20 bis 30 Jahre heran.

Wenn man unter diese Weltkonstellation eine Art von Schlussstrich zieht, deutsche historische Erfahrungen mit massenhaften Einstellungen der Deutschen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen in Einklang bringt, bleiben als Aufgabengebiet für Deutschland jenseits des Balkan im Grunde genommen nur Israel und die Lösung des Nahost-Problems übrig. Alles andere bewegt sich außerhalb der deutschen Interessenlage, außerhalb deutscher außenpolitischer Erfahrungen und in Abwesenheit irgendwelcher Attraktivität eines wie auch immer gearteten deutschen Modells. Es sollte der Bundesrepublik zu denken geben, dass die Eliten im Chaos versinkender Staaten in aller Regel einen Bogen um Deutschland herum machen. Deutschland wird hier anders wahrgenommen, als die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich. Dies gilt übrigens auch für die Türkei. Die türkische Elite orientiert sich nach Washington, nach London und Paris. Afghanistan oder die Attraktivität Deutschlands für die neuen osteuropäischen Eliten sind keine wirklichen Gegenbeispiele.

Höchste Zeit für ein deutsches Foreign Affairs

Außen- und Sicherheitspolitik ist eine Materie, in die man Schritt für Schritt hineinwächst, sie hat eine Menge mit eigenen Studien, beruflicher Entwicklung, Lebenserfahrung und dem ständigen Gedankenaustausch mit Menschen aus anderen Ländern zu tun. Und sie ist die Angelegenheit einer Funktionselite. Umfragen überall auf der Welt zeigen, dass Funktionseliten, die sich ständig mit Außen- und Sicherheitspolitik befassen, in den großen Fragen einer Nation mitunter zu anderen Auffassungen kommen als die Massen. Sie denken und handeln langfristiger. Die frühe Bundesrepublik, gefördert von den Besatzungsmächten, war zwangsweise und aus eigener Entscheidung sehr international orientiert. Die Helmut-Schmidt-Generation, über ein Jahrzehnt isoliert vom Rest der zivilisierten Welt, hatte einen riesigen Nachholbedarf. Diese internationale Orientierung ist im Laufe der Jahrzehnte - durch einen wachsenden Primat der Innenpolitik und durch die Begleitumstände der Wiedervereinigung - zum Gutteil verloren gegangen.

Es ist daher an der Zeit, ähnlich wie in den fünfziger und sechziger Jahren - als in Bonn die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gegründet wurde und in Ebenhausen mit der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) die erste sicherheitspolitische Denkfabrik des Landes entstand - eine neue außen- und sicherheitspolitische Initiative in Berlin zu starten. Eine große deutsche außenpolitische Zeitschrift müsste hier nun entstehen - nach dem Vorbild der in New York erscheinenden Zeitschrift Foreign Affairs. Alle geeigneten Autoren des Landes - Fachleute, Politiker und interessierte Laien - müssten in dieser in Berlin zu gründenden Zeitschrift zu Wort kommen - und zwar quer durch sämtliche politischen Lager.

Die Chance, die in Deutschland in den Tagen der Wiedervereinigung bestand, das gute alte Europa-Archiv zu einer großen Zeitschrift auszubauen, wurde vertan. Sie scheiterte nicht an den Ministerien. Ganz im Gegenteil: Der damalige Leiter der Auslandsabteilung im Bundespresseamt, Henning Wegener, gehörte ebenso zu den Förderern einer solchen Idee wie der heutige Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Washington, Wolfgang Ischinger, der damals an strategischer Position im Kabinettsreferat und später im Planungsstab des Auswärtigen Amtes saß. Warum scheiterte sie dennoch? Sie war deswegen zum Scheitern verurteilt, weil eine kleine, einflussreiche Gruppe von Professoren und Publizisten in der DGAP, die auch wichtige andere Teile des deutschen Wissenschaftsbetriebs kontrollierte, wie etwa die Aktenedition des Außenamtes oder die Publikationspolitik des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, sich nicht von ihren Funktionen trennen konnte.

Wer jedoch, wie im Fall des Politologen Karl Kaiser, einen Wissenschaftsbetrieb dreißig Jahre lang kontrolliert, bringt ihn am Ende in einen unproduktiven, unkreativen Stillstand. Dieses Urteil gilt auch für den jahrzehntelangen Herausgeber des Europa-Archiv und des Jahrbuchs für Internationale Politik, Wolfgang Wagner, der mit seiner aus der Zeit von Außenminister Schröder und Staatssekretär Hallstein stammenden politischen Sozialisation wichtigen Publikationen des Landes seinen persönlichen Stempel für den Zeitraum von fast 40 Jahren aufdrückte.

Zusammenführung statt Atomisierung

Die zum Zunftwesen und zu kleinen Netzwerken neigenden Teil-Funktionseliten des Landes sind in den letzten Jahrzehnten einen falschen Weg gegangen. Der außenpolitische Konsens der frühen Bundesrepublik, der in der Zeit der Brandt′schen Ostpolitik zerbrach, hatte partikularistische Tendenzen zur Folge, die der deutschen Öffentlichkeit gar nicht bewusst sind. Aber dies hatte nicht nur politisch-ideologische Ursachen, sondern auch handfeste personelle Gründe. Einige, wenige kontrollierten den Betrieb der außenpolitischen Zeitschriften und scheuten nicht davor zurück, missliebige Autoren zu blockieren. Auch aus diesem Grund wurden immer mehr kleine außen- und sicherheitspolitische Fachzeitschriften rund um Parteien und Stiftungen gegründet. Die Folgen liegen auf der Hand: Statt die Mittel für eine große Zeitschrift zusammenzufassen, erfolgte eine Aufsplitterung und Atomisierung der Landschaft und, noch gravierender: Da die gemeinsame Plattform einer gruppenübergreifenden Zeitschrift fehlt, werden wichtige Beiträge, die irgendwo im Lande erscheinen, von den Zielgruppen überhaupt nicht wahrgenommen.

Legt man die internationalen Vergleichszahlen zugrunde, müsste ein deutsches Foreign Affairs eine verkaufte Auflage von mindestens 25.000 Exemplaren haben. In den USA kommt diese Zeitschrift, die in den zwanziger Jahren entstand, auf etwa 100.000 Exemplare. Die noch am nächsten an das US-Vorbild herankommende deutsche Zeitschrift für Internationale Politik hat eine Auflage von 5.000 Exemplaren. Die meisten Hefte gehen an die Mitglieder der DGAP, die sie abonnieren müssen. Es gibt nur etwa 1.000 persönliche Abonnements - ein Armutszeugnis für ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland mit seinen vielen Nachbarn in Ost und West und für die Exportnation.

Eine große außenpolitische Zeitschrift ist daher der erste wichtige Schritt, um in Deutschland ruhige, langfristig orientierte Debatten zu führen, um jüngere Politiker, die ihre ersten Karriereschritte in der Provinz begonnen haben, an außenpolitische Themen heranzuführen und sie mit Sichtweisen und Argumentationen anderer Staaten und ihrer Funktionseliten vertraut zu machen. Die SPD, ausgestattet mit einer großen internationalen Tradition, sollte sich an die Spitze einer Bewegung stellen, die am Ende alle außenpolitisch interessierten Menschen zusammenführt - die entscheidende Voraussetzung für die Weiterentwicklung Europas. Denn eine große außenpolitische Zeitschrift ist ein wichtiger Trendsetter der öffentlichen Meinung.

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