Politik ist komplexer

Vor einem guten Jahr holte Niedersachsens Ministerpräsident Siegmar Gabriel die parteilose Managerin Susanne Knorre in sein Kabinett. Die Seiteneinsteigerin über ihre Erfahrungen mit frechen Lobbyisten und den Ritualen der Macht

Am Abend vor meiner Vereidigung am 13. Dezember 2000 klingelte ziemlich oft das Telefon. Alte Freundinnen und Freunde, darunter viele aus der politikfernen Wirtschaftswelt, wünschten mir Glück - stets noch mit halblautem Zweifel in der Stimme, irgendwo zwischen "Na, wenn du es dir leisten kannst" und "Warum tust du dir das bloß an?" Die meisten von ihnen fühlten sich schon 24 Stunden später in ihren Zweifeln bestätigt, als sie im Fernsehen sahen: Die Vereidigungszeremonie im Landtag musste stundenlang warten, weil die Opposition der Regierung die Botschaft der Erneuerung zerschießen wollte. Und sie wollte uns ganz schlicht die Stimmung verwässern. Das gelang ihr auch. Als wir drei neuen Kabinettsmitglieder endlich an die Reihe kamen und die Blumensträuße aus dem Frischhaltebad geholt wurden, war eigentlich im ganzen Parlament niemandem mehr nach feierlicher Amtsübergabe zumute. Schade. Die Vereidigung neuer Minister vor den gewählten Repräsentanten der Bürger ist eigentlich ein wenig pompöses, aber ausdrucksvolles Zeremoniell einer zivilen Demokratie. Ein Jahr später schütteln unter meinen skeptischen Freunden immer noch viele die Köpfe. Sie halten meinen Wechsel von der Preussag in die Politik für meinen größten Fehler.

Ich nicht.

Es war ja auch kein Start ins Ungewisse. Vor meinen sieben Jahren bei der Preussag hatte ich eine recht geradlinige Verwaltungslaufbahn verfolgt, war nach dem Staatsexamen ins rheinland-pfälzische Wirtschaftsressort gegangen, zuletzt war ich Büroleiterin des Ministers. Der Sprung von der öffentlichen Verwaltung ins Management eines Großunternehmens war in der persönlichen Rückschau viel verwegener als der Tag, an dem ich "okay" zu Sigmar Gabriel sagte und meinen Konzernausweis abgab. Wer mit dem Stempel "öffentlicher Dienst" in ein Unternehmen geht, begegnet zunächst einmal viel Misstrauen: "Die kann doch gar nichts, die ist doch nicht belastbar, die weiß doch gar nichts von unserem Business."

Erst Strategie, dann Schlagzeilen

Ich kannte sie jedenfalls schon, die Hektik des politischen Alltags, die selbst ernannten Querdenker, die ihren Nonkonformismus bloß simulieren, die für Außenstehende skurrilen Rituale in Parlament und Kabinett, die Insignien inszenierter Macht, das als Elixier gehandelte, aber flüchtige "Herrschaftswissen", die fordernden Rufe von Parteibasis und Lokalzei-tungen, die Ungeduld der Bürger mit ihren Regierenden, den aggressiven Verdruss genervter oder gelangweilter Journalisten, den seltsamen Unterschied zwischen dem Mediendrama auf der gleißend beleuchteten Vorderbühne und dem leise surrenden oder heikel holpernden Apparat auf der Hinterbühne, von dem das Publikum mehr ahnt als wirklich weiß.

Überraschungen gab es in den ersten Monaten dennoch viele. Am meisten habe ich mich über die Journalisten gewundert. Die konnten gar nicht begreifen, dass sich die neue Wirtschafts- und Verkehrsministerin auf der Vorderbühne zunächst einmal rar machte. Sie hatten ein rhetorisches Feuerwerk der Ankündigungen erwartet und, zumindest die intellektuellen Schreiber, einige gedrechselte Formulierungen über meine Vision von einem schöneren Niedersachsen.

Sie hatten auch erwartet, dass die vollmundigen Ankündigungen binnen Monaten in den Mühlen von Politik und Bürokratie zermahlen werden würden. Dass ich zunächst einmal nur einen Kassensturz machte, im Übrigen erst einmal die Türen hinter mir zuzog und meinen Lieblingshelden der Realität, Herbert Wehner, mit dem Satz zitierte, wer Visionen habe, solle mal zum Arzt gehen - damit konnten viele Journalisten nichts anfangen. Und schrieben es auch so.

Nicht Schlagzeilen, sondern eine Strategie war mein Ziel. Dafür wurden die gründliche Reorganisation des ganzen Hauses und die interne Definition und Kommunikation der neuen politischen Ziele notwendig: in der Wirtschaftsförderung Abkehr vom Gießkannenprinzip, Konzentration auf Dienstleistungen und regionale Technologiestärken, neue Finanz- und Planungsinstrumente für Autobahnen, Straßen, Schiene und Häfen, außerdem die Einführung eines professionellen Controllings - ein Controlling, das es ermöglicht, in unübersichtlichen, unaufgeräumten Ecken eines Haushalts Effizienzpotenzial aufzustöbern. Dabei geht es nicht um Buchhaltermentalität in Ärmelschonern: Mit etwas Spürsinn lassen sich Freiräume schaffen, wo die Routiniers keine mehr vermutet hatten.

Mit anderen Worten: Mein Erfolg als Ministerin, das war klar, würde nicht von flotten Sprüchen im ersten Vierteljahr abhängen. Sondern von einer klaren Formulierung meiner operativen Ziele und die Aufstellung meiner Leute, um diese Ziele zu erreichen. Meiner Meinung nach ist das ein Schritt, für den sich die meisten Politiker nicht genug Zeit nehmen. Sie wissen nicht, was sie wollen, also können sie auch ihre Leistungen nicht messen. Und dann wissen sie, viel stärker als die Wirtschaft getrieben von externen Einflüssen, im Tagesgeschäft auch nicht, was sie wirklich sagen wollen.

Mit Themenhopping fix nach oben

Munteres Themenhopping würde in der Wirtschaft jede Geschäftsbilanz verhageln. Davor haben Manager eine Heidenangst. Vielleicht haben sie mehr Angst vor ihren Shareholdern und dem Aufsichtsrat als Politiker vor ihren Wählern und der Opposition. In der Politik lautet die Kopplung häufig Idee - Verkündung. In Unternehmen lautet die Reihenfolge: Idee - Analyse - Strukturierung - Arbeitsprogramm - Verkündung, und dann die Implementierung nebst hoffentlich solider Ergebniskontrolle, die von Anfang an mit eingebaut wird. Mit Phantasielosigkeit und voreiliger Kapitulation vor "Sachzwängen" hat das nichts zu tun - im Gegenteil.

Wahr ist aber: Mit geschicktem Themenhopping kommt man politisch oft weiter. Wer das schnelle Anreißen von Themen sportlich sieht, wird als Gladiator und Wagenlenker im Circus Maximus der Medien schnell die Gunst des Publikums gewinnen. Wie groß ist dagegen die Bereitschaft der Profis und des Publikums, den oft geforderten Politiker neuen Typs zu akzeptieren, der nicht jedes Klischee bedienen will? Wie groß ist diese Bereitschaft bei den Journalisten, die ihre Meinung allein an der Inszenierung bilden und damit zu Theaterkritikern werden, die nicht mehr erkennen, dass das darstellende Spiel gar kein Spiel ist?

Rituale in der Endlosschleife

Ich meine, als Politiker muss man gezielt die Bühne nutzen wollen. Das gehört zur Jobbeschreibung dazu. Dabei spielt man mal eine Hauptrolle, mal eine Nebenrolle. Und bisweilen fungiert man als qualifizierter Komparse. Wie etwa beim ermüdenden Ausharren im Plenarsaal, wenn sich in vollständig vorhersehbarer Dialektik das Artillerieduell von Mehrheits- und Minderheitsfraktion, von Regierenden und Opponierenden scheinbar in einer Endlosschleife wiederholt.

Erstaunlicherweise läuft das Ritual selbst dann noch weiter, wenn keiner mehr zuguckt: Wenn die Schulklassen, Rentnergruppen, Touristen und Wehrpflichtigen fort sind, wenn sich sämtliche Journalisten der organisierten Langeweile auf der Pressetribüne entzogen haben und in der Lobby plauschend den wirklich spannenden Gerüchten nachjagen. Drinnen geben sich die Parlamentarier aber weiter Mühe, nach den Spielregeln dieses Mikrokosmos zu punkten.

Auch das vorsichtige Bewegen auf den Bühnen von Partei, Kammern und Verbänden gehört dazu - einschließlich jener der fruchtlosen Podiumsdiskussionen, bei denen nie diskutiert wird, weil sieben Experten hintereinander ihre gestanzten Statements verlesen, statt miteinander zu streiten. Mehr als verbales Leergut wird dann auch nicht abgeliefert. Meine Erfahrung ist: Viele Veranstalter wollen sich mit ihren Gästen zwar schmücken, aber mit ihnen ernsthaft reden wollen sie nicht. Geschweige denn, sich durch etwas Neues provozieren zu lassen.

Oder bei jenen Pflichtabendessen, bei denen im Stile eines Diplomatenbanketts einander wildfremde Würdenträger an Tischen zusammengesetzt werden, die sich fünf Stunden lang nichts zu sagen haben und denen man ansieht, dass ihnen darum das feine Essen nicht mehr schmeckt. Warum solch steifer Smalltalk mit Gourmetküche dann als hoch politische Veranstaltung gewertet wird, ist mir nicht klar. Ein substanzieller Dialog über einem Käsebrötchen wäre mir meist lieber.

Meine Auftritte als Rednerin im Landtag waren mal besser, mal schlechter, wahrscheinlich im Regelfall eher "so lala". Spreche ich betont sachlich, nörgeln welche: "Die Frau hat keine Leidenschaft." Teile ich ausnahmsweise mal eine rhetorische Backpfeife aus, kommt dazu ebenfalls ein anderer unpassender Kommentar der Alltagschauvis aus den letzten Reihen. Na und? Ich bin sicher nicht das größte Bühnentalent. Das bringt mich nicht um den Schlaf. Und an den Standards männlicher Haudraufrheto-rik lasse ich mich ohnehin nicht messen. Ich bemühe mich darum, gut und möglichst besser zu kommunizieren, was ich will, warum und wie ich entscheide. Das ist notwendig.

Aber ziellos eine Show für die Show zu betreiben, das geht zu weit. Ich verstehe mein Ministeramt nicht so, dass ich der Clown fürs Spektakel bin, und hinter mir werkelt ein anonymer Apparat an den Entscheidungen. Schnörkellose Schreibtischarbeit und zähe Verhandlungen über Budgets, Verfahren und Lösungen müssen Teil des Ministeramtes sein. Sie sichern intern wie extern die Glaubwürdigkeit, die auch auf der Bühne wichtiger ist als einstudierte Posen.

Was Manager am meisten stört

Diese perfide Rangfolge der Klischees ist es oft, die erfahrene Unternehmer und Manager von der Politik fernhält. Nicht selten würden sie ganz gern eine Zeitlang Politiker sein, wollen aber nicht nur an ihrem Showtalent gemessen werden. Sondern an ihrer Fähigkeit, ein Haus zu führen, Entscheidungen zu treffen und Ressourcen zu steuern. Unbestritten gehören Konzernlenker wie Jürgen E. Schrempp oder Ron Sommer zu den öffentlichen Stars der deutschen Wirtschaft; aber als reine Medienzampanos würde man sie weder beschreiben noch bewerten wollen.

Ebensowenig wollen sie die Schablone des Machtpolitikers akzeptieren. Öfters begegnet mir die Annahme: Wer in der Wirtschaft besonders gut intrigieren kann und Kollegen treffsicher in die Kniekehlen tritt, der müsste doch auch zum Politiker geeignet sein. Seltsame Idee! Die Bereitschaft zum Erfüllen der Klischees ist es, die Manager an Politikern ärgert. Etwa an Angela Merkel, einem Paradebeispiel für einen "anderen" Politikertyp: Je mehr sie sich zum Medienzampano verändert, desto unglaubwürdiger wird sie. Gerade in der Wirtschaftspolitik übrigens.

In der Wirtschaft regiert die Routine

Menschen, die sich in Unternehmen bewährt haben und in der politischen Exekutive arbeiten, müssen sich allerdings auch anderen Herausforderungen stellen. Es ist ja nicht nur der Druck, sich tagtäglich vermarkten zu müssen, am besten schon morgens um halb sieben mit dem ersten Radiointerview und abends um zehn in der TV-Talkrunde. Das politisch-administrative Umfeld eines Ministeriums ist viel komplexer als die Beziehungen einer Firma zu Zulieferern, Kunden und Konkurrenten. Es gibt viel mehr Akteure, die Einfluss nehmen auf das, was der eigene Apparat tut. Unternehmen können es sich oft leisten, eine dominante Binnenperspektive zu pflegen. Wenn es in den gewohnten Bahnen zu langweilig wird, dann beschließt man eben den fünften Kon-zernumbau, um sich etwas den Spaß am Geschäft zu erhalten.

Die Wirtschaft ist längst nicht so dynamisch, wie Politiker oft denken. Es bewegt sich viel in den Branchen und auf den Märkten - aber in der überwältigenden Mehrzahl der Einzelunternehmen wird vieles gemacht wie immer schon. In gewisser Weise ist die Tätigkeit in einer Firma eindimensional. Den ständigen Kick des Unvorhersehbaren, die schnelle Veränderung ergibt sich selbst in unserer globalisierten Welt des harschen Wettbewerbs nicht immer von allein. Politik ist komplexer. Das muss man wissen und mögen, wenn man aus dem Management in die Politik wechseln will.

Quereinsteiger werden nicht geliebt

Die Parteien loben ihre Quereinsteiger, aber sie lieben sie nicht. Der Anpassungsdruck ist groß, so dass es schwer ist, Quereinsteiger zu bleiben. Auch Neulinge in der Politik bekommen das schnell zu spüren, wenn sie keine Hausmacht unter Kreis- und Bezirksfürsten haben, wenn sie bestimmte Kontaktbörsen und Informationskanäle nur schwer oder gar nicht nutzen können. Was einem dort fehlt, muss man mit Sachkompetenz und anderen Kontakten wettmachen. Aber ich bin als parteilose Quereinsteigerin angetreten. Und bin es weiter. In der Exekutive gibt es genug für mich zu tun. Ich frage mich auch, ob mit landesweiter Regierungsarbeit voll ausgelastete Minister dem legitimen Anspruch ihres Wahlkreises auf einen Kümmerer und Kämpfer für lokale Interessen wirklich noch gerecht werden können. Die Trennung von Amt und Mandat - ich halte viel davon.

Es geht mir nicht darum, mit Parteilosigkeit zu kokettieren. Dass Parteilose Minister werden können, sendet aber das richtige Signal, dass eine Partei es ernst meint mit der Öffnung, dass sie Ideen und Erfahrung von außen unbefangen willkommen heißt. Und dass sich Leistungsträger nicht erst ganz hinten anstellen müssen, bevor sie eine Chance bekommen. Darum glaube ich, mein etwas ungewöhnlicher Status nützt der SPD. Er nützt meiner Regierung und er nützt auch dem Ministerpräsidenten, der die SPD als Laufbahnpartei des öffentlichen Dienstes bekanntermaßen nicht akzeptieren will. Darum fördert er gezielt Menschen, die nicht in die gängigen Raster passen. Vielleicht, weil er selbst nicht ganz ins gängige Raster passt.

Umgekehrt könnte ich ohnehin nicht die gemeinsamen Erfahrungen und die Sozialisation der gestandenen Sozialdemokraten aufholen. Ich könnte meine Biografie nicht durch den Parteibeitritt ändern - eine Biografie, in der ein Parteibuch eben nie eine Rolle spielte, weil ich keins hatte. Eine Trittbrettfahrerin bin ich deshalb noch lange nicht. Auf dem Trittbrett zu fahren heißt mitzufahren, ohne zu bezahlen. Wenn man seine Fahrkarte aber nur bei einer vorherigen Partei-Ochsentour lösen darf, dann brauchen wir uns über die mangelnde Öffnung der Parteien in die Gesellschaft wirklich nicht mehr zu unterhalten. Ich habe auch eine Ochsentour hinter mir - aber eine andere!

Die Selbstzweifel der Politiker

Ich glaube, den Parteien fehlt einfach der Mut zur echten Öffnung. Gute Ansätze gibt es ja, etwa das im vergangenen Jahr gegründete "Netzwerk 2010", das explizit auch Parteilose und Seiteneinsteiger in die Zukunftsprojekte der SPD einbeziehen sollte. Dass das "Netzwerk" inzwischen mehrheitlich als Zirkel jüngerer SPD-Berufspolitiker im Talentschuppen des Kanzlers gesehen wird, hat dieses hoffnungsvoll stimmende Fenster leider fast wieder geschlossen.

Mut braucht es natürlich genauso für den Wechsel in der Gegenrichtung. Bisweilen finde ich es amüsant, wenn mich Ministerkollegen in einer unbeobachteten Minute ansprechen und fragen: "Sag mal, könntest du dir vorstellen, dass ich das auch könnte, ich meine - in einen Unternehmensvorstand wechseln, Manager sein?" Es ist doch erstaunlich, wenn gestandene Führungskräfte, die in einem sehr heiklen Alltag jahrelang große Apparate geleitet und Milliardenetats verantwortet haben, an solchen Selbstzweifeln leiden.

Tatsache ist: Wenn Politiker in die Wirtschaft wechseln, dann fast immer in Beratungspositionen und als Türöffner. Ihre Kontakte sind für Unternehmen, Verbände, Unternehmensberatungen und auch für die jetzt in Berlin boomenden Public-Affairs-Agenturen viel wert. Aber echte Manager sind nur wenige geworden - Lothar Späth bei JenOptik, Ingrid Matthäus-Maier bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau, Wolfram Brück beim Dualen System, Manfred Lahnstein bei Bertelsmann, Gerold Tandler bei Linde, Jürgen Todenhöfer bei Burda, Fritz Vahrenholt bei Shell und Repo-wer Systems. Dann wird die Liste aber schon arg kurz.

Ich glaube, viele Politiker träumen vom Seitenwechsel. Mag sein, dass da Selbsttäuschung mit im Spiel ist: Sie wollen sich nicht eingestehen, dass sie schon längst suchtabhängig sind vom Politikbetrieb. "Ich kann auch was anderes", sagen sie, aber sie sind Junkies und kommen nicht mehr los. Lieber sichern sie sich doppelt und dreifach ab, mischen bis ins hohe Alter noch in Gremien mit, nur um sich etwas Einfluss vorzugaukeln. Nicht immer enden solche politischen Karrieren würdevoll.

Die Lobbyisten sind unter uns

Es ist richtig, dass sich mit einem schnelleren Drehen der "Revolving door" zwischen Wirtschaft und Politik auch die Interessenverflechtung verstärken könnte. Soll heißen: Lobbyisten werden zu Politikern und Politiker zu Lobbyisten. In meinem Verständnis muss das nicht schlimm sein - vorausgesetzt, die Rollen sind klar verteilt und die Grenzen abgesteckt. Ein Mindestmaß an Transparenz muss gesichert sein.

Seine Interessen wahrzunehmen und vor den gewählten Vertretern der Bürger dafür einzutreten, das ist etwas Positives. Das gehört für mich zur parlamentarischen Demokratie dazu. Es ist notwendiger Teil der Meinungsbildung - auch wenn diese Sicht in Deutschland nicht eben populär ist, aus dem irrigen Glauben heraus, es gebe irgendeine neutrale Instanz, die eine Alternative zum holprigen Prozess des Miteinander-Streitens und der Kompromisse bieten könnte.

Ich finde es völlig in Ordnung, wenn Leute zu mir kommen und glasklar und sachlich die Interessen ihres Verbandes, ihres Vereins, ihres Industrieunter-nehmens oder ihrer Gewerkschaft vertreten. Sie beziehen Position, sie nennen ihre Argumente und versuchen jene ihrer Gegner (oder meine) zu widerlegen. Je deutlicher einer sagt, er vertrete dieses oder jenes Interesse, desto größer ist sogar seine Chance, dass ich zuhöre. Weil ich dann weiß, wie ich die Aussagen einzuordnen habe. Das alte Pluralismus-Problem ist nur, dass nicht alle Interessen gleich gut organisiert sind oder organisiert werden können. Glücklicherweise wird es immer einfacher, sich zu organisieren - vor allem das Internet ist beim "Grassroots Lobbying" der Organisation an der Basis auch für kleine Gruppen zum wichtigsten Demokratie-Tool geworden. Medien und Rechtsstaat bieten weiteren Einfluss - und auch das ist okay.

Was mich massiv stört, sind dagegen die gelegentlichen Versuche, mit großer Geste und familiärem Wir-sind-ja-unter-uns-Gehabe den transparenten Verhandlungsprozess auszuhebeln. Da werden in kleiner Runde auf dem Ledersofa diverse Sachthemen miteinander verkoppelt, die nichts miteinander zu tun haben, da wird unverhohlen bestochen und erpresst - Politisches mixt sich mit Ökonomischem, Persönliches mit Öffentlichem. Auf diese Weise entsteht mit dieser Art von Kaminzimmerpolitik ein Druck, dem nicht jeder standhält.

Politikerkarrieren sind, wie sie sind

Vielleicht sind Ex-Interessenvertreter manchmal sogar die besseren Politiker, weil sie die Machtgebilde und Manipulationsversuche ganz gut durchschauen. Sie sind resistenter. Ich nehme das durchaus auch für mich in Anspruch. Ich bin geradezu hypersensibel für Dinge, die "hintenrum" eingefädelt werden - vor allem in einem allzu netten Rahmen vor einem flackernden Kaminfeuer, wenn man sich entspannen und wohlfühlen möchte, statt konzentriert und kritisch zu sein.

Solche Resistenz ist erlernbar, und zwar umso leichter, je mehr man die Kniffe der anderen Seite kennt. Die Profis der Interessenvertretung wissen aber, dass die Karrieren von Berufspolitikern und politischen Beamten sind, wie sie sind: Es fällt vielen oft schwer, wirklich auf gleicher Augenhöhe zu verhandeln. Je weiter man in der Hierarchie nach unten geht, desto deutlicher zeigt sich das. Wenn Manager ihre politischen Gesprächspartner großzügig zum Dialog in ihre edlen Büros, zum Essen oder zu exklusiven Veranstaltungen einladen, dann fühlen sich manche Politiker oder Beamte oft nicht mehr wohl in ihrer Haut. Umgekehrt ist es ihnen aber oft schon zu peinlich, ihre Gesprächspartner in ihre oft schäbigen, kleinen Amtsstuben einzuladen.

Wenig Geld und trotzdem zufrieden

Das Problem wird nicht einfacher dadurch, dass politische Entscheidungsträger im Schnitt viel, viel weniger verdienen als ihre Gesprächspartner aus der Wirtschaft. Rational ist das Problem der bisher überhaupt nicht adäquaten Politiker- und Spitzenbeamten-Besoldung in Deutschland in dieser Perspektive aber nicht zu diskutieren - dazu fehlt in den Eliten der Mut und den Bürgern die Einsicht. Dabei ist es ganz klar auch die Geldfrage, die die Verkapselung der Politik fördert und Führungskräfte davon abhält, politische Verantwortung zu übernehmen. Auf Reputation, Sicherheit, Privilegien und Privatsphäre zu verzichten und dann auch noch auf mehrere zehntausend Mark Verdienst im Jahr - das kann für manchen eine ziemlich unbequeme Entscheidung sein.

Und doch: Sie lohnt sich. Ein Jahr nach meinem Eid auf die niedersächsische Verfassung glaube ich, ich habe einige Dinge bewegen können. Das sind nicht nur große, sonsern auch viele kleine Erfolge gewesen, gewiss. Aber hätte ich sie anderen überlassen - ich hätte eine große Chance vertan.

zurück zur Person