Phrasendreschmaschine

Urteilslos ins Nirgendwo: Daniel Dettling ruckt

Anarchie ist machbar, Herr Nachbar, sprayten Studenten in den 80er Jahren an die Häuserwände. Die heute 25-Jährigen nehmen die Farbdose nicht mehr in die Hand, sie schreiben mit Montblanc-Füller und publizieren ihre Thesen entweder in Buchform oder auf den Meinungsseiten überregionaler Tageszeitungen. Ohne die Fesseln traditioneller politischer Organisationen - in der Regel sind das auch heute noch die Parteien - hängt ihr Erfolg vor allem von einem Faktor ab: Schaffen sie es, in der Mediengesellschaft Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen?

Daniel Dettling, der selbsternannte Vordenker der "Generation@", hat es jedenfalls geschafft. "Die digitale Demokratie ist machbar", behauptet er in unzähligen Zeitungsartikeln, und jetzt liegt sein politischer Zukunftsentwurf auch noch in Buchform vor. Zusammen mit 34 Autoren hat er den Band Deuschland ruckt! Die junge Republik zwischen Brüssel, Berlin und Budapest herausgegeben. In sehr knapp gehaltenen Aufsätzen schreiben die jungen Autoren, auffallend viele sind oder waren Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung, über die Einwanderungspolitik, die Zukunft der Renten oder die Energiepolitik. Viele Aussagen sind an Banalität nicht zu überbieten: "Der Standort Deutschland ist seine Jugend" und "Die herkömmlichen Ansätze und Theorien eignen sich nicht mehr für die Zukunft. Das ist gut so."

Zunächst sympathisch klingt der kommunitaristische Ton, der in vielen Beiträgen angeschlagen wird. "Bürgergesellschaft wagen heißt, Zivilisationsverantwortung im Plural vielfältiger gesellschaftlicher Aktivitäten zu unternehmen, nicht im Singular staatlicher Zuständigkeit", heißt es an einer Stelle des Buches, und so abstrakt und urteilslos bleibt es dann auch. Gemeint ist der seine Bürger aktivierende Staat, wie ihn sich auch Tony Blair, der Soziologe Anthony Giddens und Gerhard Schröder wünschen. Nur leider bleibt die Gesellschaft, für die Politik schließlich gemacht wird, stets ein Abstraktum. An sie sollen zukünftig staatliche Aufgaben delegiert werden. Nur die Frage, wie viel Veränderung eine Gesellschaft verträgt, wird nicht gestellt.

Dettling ist ein net-worker, jeder, der sich eine Umgründung der Republik wünscht und eine kommunitaristische These formulieren kann, darf mitmachen. Und so versichern sich die Autoren ständig gegenseitig, wie richtig ihre Ansichten sind: Aus dem Netzwerk der Stipendiaten und Doktoranden, die sich gern als künftige Gruppe von so genannten "Querdenkern" sähen, ist, zumindest in diesem Buch, schon ein selbstreferenzielles Zitierkartell geworden.

Das Amalgam des Buches ist ein schwülstiges Pathos des Neuen und des Aufbruchs - bis hin zur Formulierung eines Autors, das Grundgesetz sei ein "Relikt der Bonner Republik überhaupt", und der mehrfach wiederholten und heute reichlich larmoyant klingenden Überzeugung, 1990 sei eine grundlegende Verfassungsreform versäumt worden. Bei ihrer krampfhaften Suche nach der Zäsur, dem Neuanfang in der deutschen Politik lassen die Autoren kein Politikfeld aus. Apodiktisch formulieren hier Studenten, wie die Zukunft der deutschen Politik auszusehen hat. Der Grundtenor der meisten im Imperativ formulierten Beiträge: Die Bonner Republik sei "erfolgreich gescheitert", weil sie so reformunfähig gewesen sei, jetzt müsse es eine deutliche Zäsur geben: "Her mit der Berliner Republik."

"In der Bonner Republik", schreibt Dominik Böllhoff, "sind alle Versuche, umfassende Reformen der staatlichen Institutionen herbeizuführen, im Sande verlaufen. Allein die schleichende Anpassung war möglich." Ein besseres Zeugnis könnte man doch der zu Unrecht verschmähten Bonner Republik nicht ausstellen.

Vieles deutet darauf hin, dass das politische Bewußtsein der meisten Autoren erst in der Ära Kohl erwacht ist, denn die für diese Zeit charakteristische Stagnation wird gleich allen Nachkriegskanzlern von Konrad Adenauer bis Helmut Schmidt angeheftet. Scheitert ein demokratischer Staat, weil einer christlich-liberalen Regierung eine Mehrheit in der Länderkammer für ihre Steuerreform fehlte? Das wird wohl niemand ernsthaft behaupten, die Autoren dieses Buches tun es dennoch. Dass Reformen in dieser durch den Regierungsumzug keineswegs umgegründeten Republik möglich sind, hat Rot-Grün zum Leidwesen der Union doch bewiesen.

Das mangelnde Gespür für die historische Proportion mag man den enthusiasmierten Jungautoren noch nachsehen, richtig ärgerlich sind jedoch ihre schlecht begründeten, nicht durchdachten und zur Zeit sehr modischen Attacken gegen die repräsentative Demokratie und die Rolle der Parteien. Der Bürger müsse "endlich Primat der Politik sein" wird da gefordert, der "paternalistische Geist der Parteipolitikerkaste" wird angeprangert, und Dettling selbst ist sogar der Auffassung, daß die schleichende Delegitimierung des politischen Systems nur noch mit den Mitteln der "E-Democracy", also plebiszitären Abstimmungen im Internet, aufzuhalten sei. "Digitale Demokratie widerlegt die These, dass moderne Demokratie nur repräsentativ sein kann." Das Internet, so Dettling, garantiere zum einen ein Mehr an Öffentlichkeit, zum anderen erlaube es "Abstimmungen und Wahlen auch jenseits von Raum und Zeit". Dettling bemüht in seinen Aufsätzen immer wieder seine Phrasendreschmaschine ("Dicke Bretter werden künftig digital gebohrt. Wer das Netz dominiert, wird die Politik des 21. Jahrhunderts bestimmen.") und revitalisiert mit den Mode-Wörtern "Internet", "E-Democracy" und "digital" das Rousseausche Verständnis von Volkssouveränität und direkter Demokratie.

Historisch gut begründet haben sich die Väter des Grundgesetzes für die repräsentative Demokratie entschieden. Hans-Ulrich Wehler hat jüngst noch einmal darauf hingewiesen, wie folgenreich und richtig diese Entscheidung für die Entwicklung der zweiten deutschen Demokratie war. Für Max Weber waren die Verfahren der direkten Demokratie (Volksentscheide, Plebiszite) eine "Legitimitätsfiktion".


Und es fragt sich, warum sich daran etwas ändern sollte, weil nicht mehr an der Wahlurne, sondern zu Hause am Computer über ein Gesetz abgestimmt wird. Dettling und viele andere, die zur Zeit plebiszitären Elementen das Wort reden, argumentieren zumeist ahistorisch und vergessen, wie entscheidend das repräsentative parlamentarische System zur politischen Stabilität beigetragen hat. Aber sie liegen vermutlich auch falsch, wenn sie glauben, dass sich plebiszitäre Verfahren aktivierend auf die Bürger auswirken könnten. Warum sollten Wähler sich an Volksabstimungen beteiligen, wenn sie sich ohnehin von der Politik abgewandt haben? Nichtwähler zu begeisterten Teilnehmern einer Volksabstimmung zu machen, gelänge vermutlich nur mit einer überaus pointierten populistischen Kampagne, die sich ernsthaft niemand wünschen kann.

Es gibt aber noch gewichtigere Argumente, die gegen Dettlings direkte "digitale Bürgerdemokratie" sprechen, die er als "Imperativ" von der Politik verlangt: Medien, Meinungsumfragen und neuerdings auch von konservativer Seite eingesetzte Unterschriftenkampagnen haben ohnehin eine stärkere Orientierung der Parteien auf den Bürgerwillen mit sich gebracht. Auch in Landtagswahlkämpfen gibt es kaum noch eine Kampagne, die nicht mit Hilfe der Demoskopie justiert wird. Hier gerät oft in Vergessenheit, dass es sich bei der Arbeit von Abgeordneten nicht allein um eine Dienstleistung für Bürger handelt. Anders gesagt: Wir haben in den vergangenen Jahren - zwar nicht institutionell in der Verfassung abgesichert - eine stärkere Rückkoppelung politischer Entscheidungen an die Gesellschaft. Wenn Ernst Fraenkel Recht hat, dass es Ziel des Repräsentationsprinzips ist, bei der Bildung des Staatswillens "dem Gesamtinteresse eine tunlichst große und ungehinderte Chance der Entfaltung zu geben", dann kommt es darauf an, den Gesetzgeber von dem Einfluss beliebiger Partikularinteressen abzuschirmen. Gerade der Machtverlust gesellschaftlicher Großgruppen, etwa der Kirchen, erfordert die Immunisierung des Parlaments vor den Begehrlichkeiten vielfältiger Interessenvertreter, die ihre Bedeutung heute über die Präsenz in den Medien oftmals multiplizieren. Angesichts dieser Entwicklung spricht demnach viel dafür, die mediatisierende Funktion der repräsentativen Demokratie sogar noch zu stärken. Das beste Beispiel für die überproportionale mediale Aufwertung kleiner Interessengruppen ist übrigens Dettlings Initiative BerlinPolis selbst.

Daniel Dettling formuliert gern ultimativ. "Wer analog und offline das Rennen machen will, muss digital und online herausgefordert werden. Von selbst werden sich die alten Privilegierten nicht bewegen", schreibt er in einem Zeitungsbeitrag. Wer so sinnfrei formuliert und auch noch gedruckt wird, dem möchte man eigentlich nur eines sagen: "Gehen Sie offline, Herr Dettling. Bitte, Bitte."

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