Philosoph der Mitte

Paul Nolte weist den Weg durch die riskante Moderne. Aber leben wir überhaupt in sehr risikoreichen Zeiten?

Der Historiker Paul Nolte hat sich mit seinem Buch Generation Reform als Publizist einen Namen gemacht. Jetzt analysiert er die Riskante Moderne oder, so der Untertitel, die Deutschen und den neuen Kapitalismus. Während Nolte bislang vor allem für seine klaren Analysen bekannt ist, entwickelt er jetzt auch einen Reform-Vorschlag: Er fordert von der Mittelklasse den Verzicht auf sinnlosen Konsum und die Wandlung zur „Investiven Gesellschaft“. Mit dem Buch verlässt Nolte sein Fach und versucht sich als Philosoph der Mittelklasse.

Die Grundthese seines Buches ist, dass die Generation Reform in riskanten Zeiten noch viel mehr als bisher reformieren muss. Weder Befund noch These sind neu. Der Autor knüpft – schon sprachlich – an die viel zitierte Risikogesellschaft von Ulrich Beck an. Wie Beck kann aber auch Nolte nicht zeigen, dass wir in besonders risikoreichen Zeiten leben. An dieser Stelle muss man nicht nur an die ständige Kriegsgefahr vergangener Zeiten erinnern, sondern sollte vor allem nicht vergessen, dass die Lebenserwartung noch nie so hoch und berechenbar war wie heute. Zur hohen Zeit des Wirtschaftswunders war das noch anders. Doch darauf geht der Historiker Nolte ebenso wenig ein wie auf die Unsicherheiten auf den Arbeitsmärkten der Vergangenheit. Denn das in Großunternehmen lebenslang garantierte „Normalarbeitsverhältnis“ galt ja immer nur für eine privilegierte Minderheit der Arbeiterschaft. Erst im Nachhinein wurde es zur – gedanklichen – Norm.

Immerhin: Paul Nolte setzt sich dezidiert von der ebenso beliebten wie falschen These ab, dass „uns die Arbeit ausgeht“ und alternative Beschäftigungsformen entwickelt werden müssten. Klar und deutlich führt er aus, dass die Idee einer staatlich alimentierten „Bürgerarbeit“ eine Utopie ohne Grundlage ist, da die meisten Langzeitarbeitslosen, für die Bürgerarbeit eine Alternative sein soll, weder das dafür notwendige Qualifikationsniveau noch die erforderlichen Beziehungen für ein erfolgreiches Ehrenamt haben. Die analytischen Kapitel, in denen ebenso die Erwerbsgesellschaft wie das Geschlechterverhältnis klug seziert werden, sind die stärksten Abschnitte des Buches. Mit Zuwanderern beschäftigt sich Nolte dabei nur am Rande – insofern ist es konsequent, dass im Untertitel nur von den Deutschen gesprochen wird und nicht von allen in Deutschland lebenden Menschen.

Am Ende versucht Nolte, seine persönliche Utopie zu entwickeln: die der „investiven Gesellschaft“ ohne sinnlosen Konsum. Das hat man zwar auch schon gelesen. Aber Nolte weist ausdrücklich darauf hin, dass zur „republikanischen Freiheit“ auch die Investition von Frei-Zeit der Mittelklasse in politische Prozesse gehört. Reines Privatisieren führt in die Irre. Richtig. Doch da, wo Paul Nolte konkret werden will, wird der Leser allein gelassen.

Solides Feuilleton, wenig konkret

Eine der wenigen konkreten Empfehlungen, die Nolte gibt, ist die Umfinanzierung des Sozialstaates von der anonymen Steuerfinanzierung hin zur Finanzierung von Bildung und Sozialleistungen durch zweckbestimmte Gebühren. Das hört sich plausibel an, aber Nolte vergisst dabei völlig, dass Gebühren bestimmte Gruppen regelmäßig finanziell überfordern werden. Das gilt beispielsweise für Niedrigverdiener im Fall von Kopfpauschalen oder vermögenslose Studenten im Fall von Studiengebühren. Deswegen gehören mehr Gebühren und ein steuerfinanzierter sozialer Ausgleich notwendigerweise zusammen. Das kann man weltweit beobachten, sogar in den Vereinigten Staaten, wo zum Beispiel die Studiengebühren durch ein von Washington finanziertes Stipendiensystem abgemildert werden. Doch diese Kehrseite der Medaille, die zu Steuererhöhungen führen würde, berücksichtigt Paul Nolte schlicht und einfach nicht.

Somit ist das Buch solides Feuilleton. Das heißt aber auch: Wer regelmäßig Zeit für eines der guten Feuilletons in der Tagespresse hat, der kennt all die Befunde und Argumente von Paul Nolte: 14 der 18 Kapitel hat er bereits woanders veröffentlicht – natürlich auch in der Berliner Republik. Wer nur die Zeit findet, gelegentlich ein Extrakt aus den Feuilletons in Buchform nachzulesen, dem kann das Werk uneingeschränkt empfohlen werden. Wer hingegen neue Befunde oder gar zukunftsweisende Konzepte sucht, für den ist dieses Buch, das die „investive Gesellschaft“ fordert, eine Fehlinvestition.

Paul Nolte, Riskante Moderne: Die Deutschen und der neue Kapitalismus, München: Verlag C. H. Beck 2006, 312 Seiten, 19,90 Euro

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