Perspektiven für die Perspektivlosen

Was wird aus Jugendlichen, denen eine Lehre zu schwierig ist? Berufsbildungspolitik muss heute gerade jenen sorgen, die alleine keine Chance hätten. Flexible Einstiege und Bildungsgänge sind der richtige Weg - man muss ihn nur gehen

Das Hauptinteresse in der Berufsausbildungspolitik hat bisher stets darin bestanden, Ausbildungsplätze für alle ausbildungswilligen und -fähigen Jugendlichen zu schaffen. Bei diesem Ziel wird es auch in Zukunft bleiben. Doch neben der Debatte über die quantitativen Zahlenverhältnisse auf dem Lehrstellenmarkt rückt inzwischen die Frage stark in den Vordergrund, wie die Berufsausbildung qualitativ weiterentwickelt werden kann. Warum ist das so?

Die arbeitsorganisatorischen und technologischen Veränderungen der Arbeitswelt stellen das Ausbildungssystem ständig vor die Aufgabe, neue Trends aufzugreifen und inhaltliche wie strukturelle Anpassungen vorzunehmen. In der hoch entwickelten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft werden gerade den Berufseinsteigern immer mehr Kenntnisse und Fähigkeiten abverlangt. Deshalb haben es Jugendliche, die bereits mit Nachteilen ins Berufsleben starten, heute besonders schwer, eine geeignete Berufsausbildung zu finden und diese dann mit Erfolg zu Ende zu führen.

Pro Jahr verlassen etwa 80.000 leistungs- oder lernschwächere Jugendliche die Hauptschule ohne Schulabschluss. In den gängigen Lehrberufen finden sie kaum noch einen Ausbildungsplatz. Wenn doch, sind sie den Anforderungen des Ausbildungsberufes häufig nicht gewachsen. Das gilt auch für qualifizierungswillige und -fähige Jugendliche. Diese Jugendlichen sind regelmäßig die Arbeitslosen von morgen, was die Statistiken der Arbeitsämter eindeutig belegen. Fast die Hälfte der Erwerbslosen in der Bundesrepublik besteht aus Menschen, die keine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Kurzum, je niedriger die berufliche Qualifikation, desto größer wird das individuelle Risiko auf dem Arbeitsmarkt. Wenn dieses Risiko nicht bekämpft wird - und zwar auch im Hinblick auf die nächste Generati-on -, besteht die Gefahr, dass sich ein "Sozialhilfeadel" etabliert, eine in sich geschlossene Nebengesellschaft also, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft bestreiten kann, sondern nur noch mittels sozialer Transferleistungen.

Mathe und Deutsch klappen nicht so gut

Dazu darf es nicht kommen. Das wichtigste Instrument zur Vermeidung von Jugendarbeitslo-sigkeit ist und bleibt deshalb zwar die betriebliche Ausbildung im dualen System - immerhin fast 70 Prozent der Schulabgänger entscheiden sich für diesen Weg. Eingangstests der Unternehmen zeigen aber deutlicher denn je, dass die Ausbildungsreife der Jugendlichen abgenommen hat. Immer mehr von ihnen verlassen die allgemeinbildenden Schulen ohne ausreichende Basiskenntnisse in den Fächern Mathematik und Deutsch sowie in den Fremdsprachen. Oft haben diese Jugendlichen allerdings ausbaufähige, praktische Fähigkeiten und Interessen.

Hier muss der Versuch ansetzen, Ausbildungskonzepte zur Integration solcher Jugendlichen in den ersten Arbeitsmarkt zu entwickeln. Beson-ders Angebote mit praktischem, betrieblichem Ansatz könnten ihre Chancen verbessern, einen Arbeitsplatz oder eine Ausbildungsstelle zu finden, der an die spezifischen Qualifikationen der Jugendlichen anknüpft. Das Ziel sozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitik muss darin bestehen, jedem Einzelnen möglichst dauerhafte Beschäfti-gung und Entwicklungspotentiale zu gewährleisten. Den unterschiedlichen Neigungen und dem individuellen Leistungsvermögen der Jugendlichen kommt dabei die offene und flexible Ausgestaltung der Ausbildungsordnungen durch Module und Angebote von Zusatzqualifikationen entgegen, die zugleich dem diversifizierten Bedarf auf dem Arbeitsmarkt gerecht werden.

Gerade für jene, die heute keine Perspektiven haben, muss es einen Einstieg in das Berufsleben geben. Geeignet dazu ist eine differenzierte und flexible Einstiegsqualifizierung, abgeschlossen durch eine anschluss- und anerkennungfähige Be-scheinigung, die Bestandteile von anerkannten Ausbildungsberufen umfasst. So wird die Beschäf-tigungsfähigkeit der Leistungsschwächeren gefördert. Sie werden auf diese Weise in die Lage versetzt, einer angelernten Tätigkeit eigenverantwortlich nachzugehen oder die Ausbildung bis zum Erreichen eines traditionell anerkannten Ab-schlusses fortzusetzen.

Die Praxis ist längst weiter

Zwar erkennen die Partner im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit dieses Ziel an und haben sich darauf geeinigt, das volle Gestaltungspotential des Berufsbildungsgesetzes und der Handwerksordnung zu nutzen, um benachteiligten Jugendlichen diese Ausbildungs- und Beschäftigungschance zu eröffnen. Zugleich aber haben die Bündnispartner die Auflösung der beruflichen Erstausbildung in schrittweise zu erwerbende Teilqualifikationen mit der Begründung abgelehnt, der Zugang zur Berufsausbildung müsse auch zukünftig allen Jugendlichen unabhängig von ihrem Schulabschluss offen stehen. Flexibili-sierung und Differenzierung allerdings seien unterstützenswert und werden befürwortet.

Es zeigt sich deutlich, dass hier Scheingefechte geführt werden, die zu Lasten der Betroffenen gehen. Am Ende wird man um eine klare Aussage zugunsten einer echten Flexibilisierung der beruflichen Erstausbildung doch nicht herumkommen. Denn die Praxis ist schon weiter, als man im Bündnis offenbar glaubt: Die Sozialpartner einzelner Branchen haben bereits flexible Ordnungsmodelle entwickelt, die für einen Beruf oder eine Berufsgruppe einheitliche Mindestqua-lifikationen mit variablen Qualifikationseinheiten kombinieren und Spielräume für betriebliche Qualifikationsschwerpunkte zulassen. So steht etwa das Konzept der IT-Berufe mit gemeinsamen Kernqualifikationen und Freiräumen für betriebsspezifische Qualifikationen bereits im Praxistest. Dasselbe gilt für das Konzept der Neuordnung im Medienbereich mit Pflicht- und Wahlqualifikationseinheiten. Metall- und Elektroberufe, Laborberufe und Berufe der Umwelt-technik werden folgen.

Auch für andere Berufe sollte dieses Grundmuster schnell aufgegriffen werden. Bei der Ge-staltung von Spielräumen in den Ausbildungsordnungen müssen dabei sowohl die Bedürfnisse der Jugendlichen nach universell verwertbaren Berufsbildungsabschlüssen als auch die Bedürfnisse der jeweiligen Branche und des Arbeitsmarktes berücksichtigt werden. Es kommt nicht darauf an, ob diese Freiheitsgrade durch Begriffe wie "Bausteine", "Module", "Qualifikationsein-heiten", "Einsatzfelder" oder auch "Satelliten" beschrieben werden. Entscheidend ist allein die Offenheit und Flexibilität der Wahlelemente.

"Einfache" Arbeit wird es weiter geben

Eine flexible Erstausbildung dieser Art bietet eine doppelte Chance: Die Differenzierung in der beruflichen Ausbildung verbreitert das Qualifikati-onsangebot für Jugendliche mit unterschiedlichen Begabungspotentialen: Leistungsstarke Ju-gendliche können nicht nur das traditionelle Instrument der Ausbildungsverkürzung wahrnehmen, sondern zusätzliche vertiefte Fachkenntnisse oder berufsübergreifende Qualifikationen erwerben. Für Jugendliche mit besonders schwierigen Leistungs- und Sozialisationsvoraussetzungen hingegen kann die stärkere Differenzierung durch flexible Ausbildungskonzepte zu besserer Integration in den Arbeitsmarkt führen.

Das bleibt auch weiterhin wichtig. Denn obwohl sich die beruflichen Anforderungen in den kommenden Jahren weiter wandeln werden, wird es auch in Zukunft Arbeitsplätze mit weniger komplexen Anforderungen geben, für die ausgebildet werden kann und muss. Um das Potential dieser neuen Ausbildungsberufe voll ausschöpfen zu können, ist eine differenzierte Festlegung der Anforderungen und Ausbildungszeiten notwendig.

Dabei sollten existierende Berufsbilder schleunigst inhaltlich aktualisiert werden. Zugleich müssen neue Berufe für praktische und anwendungsbezogene Tätigkeiten geschaffen werden. Um die Inhalte anerkannter Ausbildungsberufe einzubeziehen, muss für die Berufsvorbereitung eine Auswahl geeigneter Qualifizierungsbausteine und Lehrgangsmodelle zusammengestellt werden.

Motivation durch Qualifikation

Besonders wichtig ist, dass Teilqualifikationen, die bei der Berufsvorbereitung, bei nicht beendeten Berufsausbildungen oder bei Nachqualifizierungen erworbenen wurden, in Zukunft dokumentiert werden. Sie müssen am Arbeitsmarkt, bei der weiteren Ausbildung und Qualifizierung anerkannt sein - und damit besser verwertbar. Die Zertifizierung von erworbenen Teilqualifi-kationen würde die Chancen der betroffenen Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt verbessern und ihre Motivation für weitere Qualifizierungsschritte anregen.

In der Ausbildungsvorbereitung erreichte Teilqualifikationen sollten bei der anschließenden Berufsausbildung nach Möglichkeit berücksichtigt werden. Idealerweise erreichen lässt sich die Verknüpfung von Ausbildungsvorbereitung und Berufsausbildung, durch die Einbeziehung betrieblicher Praktika, durch Qualifizierungsbausteine, die zu einer beruflichen Tätigkeit befähigen sowie durch die Zertifizierung von Teilqualifikationen. Auch die Verbindungen zwischen Berufsausbildung und beruflicher Weiter-bildung können durch Zusatzqualifikationen verstärkt werden. Für dreijährige Ausbildungsberufe können darüber hinaus vermehrt gestufte Bildungsgänge eingerichtet werden, um benachteiligten Jugendlichen in vielen verschiedenen Berufen eine gezielte Förderung zu ermöglichen.

Noch kommt die Sache nicht recht voran

Den Anteil der Jugendlichen und jungen Er-wachsenen ohne Berufsausbildung deutlich zu senken, ist für die betroffenen Menschen ganz individuell wie auch in gesellschaftspolitischer Perspektive bedeutsam. Aber auch beschäftigungspolitisch und wirtschaftlich ist dieses Ziel bedeutsam. Die Förderung von beruflich Be-nachteiligten darf deshalb keine Notmaßnahme nur in Zeiten des Mangels an betrieblichen Ausbildungsplätzen sein. Sie muss vielmehr zu einem integralen Bestandteil der Berufsausbildung werden.

Im Bündnis für Arbeit besteht zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften grundsätzliche Einigkeit darüber, dass es neuer und modernisierter Ausbildungsberufe bedarf, um die Zahl der Lehrstellen zu steigern. Es herrscht auch Übereinstimmung darüber, dass die Ausbildungsberufe zukünftig flexibler gestaltet werden müssen. Trotzdem ist die Sache bisher nicht recht vorangekommen. Bei diesem Zustand darf es nicht bleiben. Denn die Sicherung der zeitgemäßen Modernisierung beruflicher Bildung ist zugleich ein wesentlicher Beitrag zur Sicherung des Produktions- und Dienstleistungsstandortes Deutschland.

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