Patriotismus und politische Kultur

Eine deutsche Debatte - 20 Jahre nach dem Historikerstreit

Fragen, die auf neuralgische Punkte der politischen Kultur unseres Landes zielen: Ist es ein Zufall, dass wir gerade jetzt über „Patriotismus“ nachdenken, vor allem im linksliberalen Spektrum, fast mehr noch als auf Seiten der Konservativen? Ist es ein Zufall, dass diese „patriotische“ Selbstverständigung zwanzig Jahre nach dem Ende des deutschen „Historikerstreits“ stattfindet? Hat beides womöglich sogar damit zu tun, dass mit größerem zeitlichen Abstand zum „Historikerstreit“ die Zweifel wachsen?

Zweifel daran, ob der Sieg, den Jürgen Habermas und seine Mitstreiter in jener publizistischen Großkontroverse um die „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, tatsächlich so eindeutig und nachhaltig ausgefallen ist, wie es zunächst den Anschein hatte. Zweifel nicht zuletzt auch daran, ob die Folgekosten jenes sehr persönlich ausgetragenen Streits im Vergleich zum damaligen Ertrag nicht doch zu hoch ausgefallen sind.

Die Antwort auf die letzte Frage liegt – nüchtern betrachtet – auf der Hand. Nur ein Jahr nach dem vorläufigen Ende des Historikerstreits im Jahr 1989 erfolgten die ebenso plötzliche wie implosionsartige Auflösung des kommunistischen Herrschaftssystems in Mittel- und Osteuropa, die friedliche Revolution in Ostdeutschland, die Konfrontation der Deutschen mit ihrer doppelten totalitären Hinterlassenschaft sowie die Öffnung der Jahrzehnte verschlossenen Archive der kommunistischen Zwangssysteme. Nur kurze Zeit nachdem offenbar erfolgreich eine „nationalapologetische Revision des deutschen Geschichtsbildes“ (Heinrich August Winkler) verhindert und ein Vergleich unterschiedlicher Formen von totalitärer Herrschaft um der Singularität von „Auschwitz“ willen zurückgewiesen worden war, tauchte jenseits des Eisernen Vorhangs nicht nur die „Nation“ als politisch virulente Kategorie der deutschen Geschichte auf – „Wir sind ein Volk, Deutschland einig Vaterland!“ –, vielmehr legten die ersten geöffneten Archive kommunistischer Zwangsherrschaft in Mittel- und Osteuropa unglaubliche Opferzahlen der Sowjetherrschaft frei. Opferzahlen, die sehr schnell – und sei es nur stillschweigend – mit den Opferzahlen der nationalsozialistischen Herrschaft verglichen wurden. Mit dem französischen „Schwarzbuch des Kommunismus“, hierzulande hoch umstritten, ließ Ernst Nolte tatsächlich „grüßen“, wie Rudolf Walther in einer der ersten Reaktionen auf das „Schwarzbuch“ in der ZEIT im Jahr 1997 erkannte. Der geschichtspolitisch als Kampfansage interpretierte „Gruß“ wurde brüsk zurückgewiesen, Ernst Nolte von Marcel Reich-Ranicki zur „trüben, ja verächtlichen Erscheinung der deutschen Zeitgeschichte“ erklärt. Heute, im größeren Abstand zum damaligen Kampf um die Interpretationshoheit um Genese und Charakter der nationalsozialistischen Diktatur, schreibt der Berliner Tagesspiegel, Noltes Frage nach einem Entstehung- und Beziehungsverhältnis von nationalsozialistischem und bolschewistischem Terror- und Vernichtungsregime sei „20 Jahre zu früh gekommen“.

Doch allein in dieser Frage erschöpfte sich der „Historikerstreit“ nicht. Zeitgleich zu Ernst Noltes Nachdenken über einen „europäischen Bürgerkrieg von 1917 bis 1945“ hatte Michael Stürmer gewagt, den Begriff des „Patriotismus“ in positiver Weise zu akzentuieren und den Triumph Hitlers 1933 unter anderem mit einer Niederlage der „bürgerlichen Tugenden“ in Deutschland zu erklären. Sowohl Stürmers Begriffswahl als auch seine damit verbundene nationalgeschichtliche Perspektive lagen quer zum obwaltenden Zeitgeist und wurden entsprechend als Provokation aufgefasst. Schließlich galt die Bundesrepublik Deutschland zunehmend als „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“ (Karl Dietrich Bracher) – zumindest in der Wahrnehmung eines Großteils der politischen und kulturellen Öffentlichkeit, mit welcher der Nations- oder Patriotismusbegriff in den Orkus atavistischer Deutschtümelei vergangener Zeiten entsorgt werden konnte. Zu Recht hat Heinrich August Winkler darauf hingewiesen, dass sich im Zuge des damaligen Historikerstreits „so etwas wie eine ‚posthume Adenauersche Linke’“ herauszubilden begann: „Die intellektuelle Linke begann die von ihr einst heftig befehdete Westbindung, das Werk des ersten Bundeskanzlers, als ihre ureigenste Errungenschaft zu betrachten – eine Errungenschaft, die gegen jedweden, wirklichen oder vermeintlichen nationalen ‚Revisionismus‘ verteidigt wurde. Auf diese Weise entstand ein spezifisch linker oder linksliberaler bundesrepublikanischer Verfassungspatriotismus“.1

Der Begriff des „Verfassungspatriotismus“ war erstmals zum 30. Jahrestag des Inkrafttretens des Bonner Grundgesetzes am 23. Mai 1979 aufgetaucht. Der Heidelberger Politikwissenschaftler Dolf Sternberger erklärte in einem weithin beachteten Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen die „Verfassung“, verstanden als „gemischte Verfassung“, zur Bezugsgröße eines spezifisch bundesrepublikanischen Patriotismus, nicht als ein Notbehelf, nicht als Ersatz für den nationalen Patriotismus. Vielmehr machte Sternberger darauf aufmerksam, dass Patriotismus in einer europäischen Haupttradition schon immer und wesentlich etwas mit Staatsverfassung zu tun hatte, ja dass Patriotismus ursprünglich und wesentlich Verfassungspatriotismus gewesen sei. Der Verfassungspatriotismus im Sinne Dolf Sternbergers signalisierte die bewusste Option für die verfassungsstaatliche Ordnungsidee westlicher Observanz, das heißt für die Staatsbürgernation. Die nationale Identität der Gesellschaft sollte also in der „lebenden Verfassung“ eine konkret-geschichtliche Realisierung finden, wie dies in den westlichen Nationalkulturen in vielfältiger Form geschehen sei. Der nationalstaatliche Ist-Zustand stand bei Sternberger so lange nicht unter Vorbehalt, wie er sich in seiner Verfasstheit an den Prinzipien der Humanität, der Freiheit und Gleichheit seiner Bürger orientiert. Angesichts der besonderen Verfasstheit Deutschlands nicht als Substitut eines nationalen Patriotismus konzipiert, sondern als komplementäre Identifikationsform einer konkreten, freiheitlichen und historisch-verantwortungsvollen Republik, war dieser verfassungszentrierte Patriotismusgedanke bewusst der deutschen Perspektive von Nation, Verfassung und (wieder zu vereinigendem) Vaterland geschuldet. Insofern war er für das gesamte demokratische Parteienspektrum anschlussfähig.

Heute klingt das Reden über Patriotismus anders

Dies änderte sich, als Jürgen Habermas das Konzept des Verfassungspatriotismus aufgriff, unter der gleichen terminologischen Chiffre als universalistisch-abstrakte Identifikationsform jenseits einer konkreten deutschen Nation beziehungsweise eines Nationalstaates neu konzipierte und es im Historikerstreit zu popularisieren verstand. Verfassung, bei Sternberger als „gemischte Verfassung“ weitaus mehr als ein Rechtsdokument, ersetzte nunmehr als „Filter universalistischer Wertorientierungen“ die als „konservativ“geltende Kategorie der „Nation“. „Europa“, konkret ein bundesstaatlich organisiertes Europa, wurde zu einer sehr spezifisch westdeutschen Perspektive der sich psychologisch postnational begreifenden Demokratie unter Nationalstaaten. Kaum verwunderlich, dass Habermas in seiner gebremsten Freude angesichts des Mauerfalls und des nationalen Einigungsprozesses für manchen zum „Katechon“ (Alexander Cammann) einer gesamtdeutschen Perspektive wurde.

Heute, zwei Jahrzehnte nach der erbittert und in schrillen Tönen geführten Debatte über die politischen und historischen Grundlagen unserer Kultur und im sechzehnten Jahr der deutschen Einheit, klingt das Reden über Patriotismus anders. Der Ton ist gedämpfter, weit weniger schrill als zu Zeiten des Historikerstreits. Wie zufällig fehlt heute oftmals das Präfix der „Verfassung“ bei der Debatte über einen neuen deutschen Patriotismus. Unbestreitbar und höchst erstaunlich ist, dass gegenwärtig die Rede von einem neuen „Deutschlandgefühl“ (Reinhard Mohr) beziehungsweise von einem „leichteren Vaterland“ (Steve Crawshaw) eher von links-liberaler denn von konservativer Seite kommt. Die CDU, voran ihre Parteivorsitzende, scheint mit der „Nation“ ebenso wie mit dem „Patriotismus“ nur wenig anfangen zu können. Gerhard Schröder hingegen hatte als Bundeskanzler keinerlei Bedenken bei der selbstbewussten Verkündigung eines „deutschen“ Weges. Zog Schröder gar, wie Hans-Ulrich Jörges anerkennend meinte, einen geschichtspolitischen „Schlussstrich mit links“? Machte er Schluss mit „vergangenheitsbehafteter Selbstkasteiung“?

Verfassung und Nation werden nicht mehr gegeneinander ausgespielt

Wie auch immer diese pointierten Einschätzungen zu bewerten sind, kaum bestreitbar ist, dass sich der „Patriotismus“-Diskurs gegenwärtig wieder dem Sternbergerschen Sinn annähert. Verfassung und Nation werden wieder zusammen gedacht, statt gegeneinander ausgespielt. Die Kategorie der Nation, im Historikerstreit von Michael Stürmer gegen heftige Kritik von Links verteidigt, wird nun von dorther neu entdeckt. Sie wird nicht länger mit Argusaugen als mystische, gefährlich-irrationale Größe stigmatisiert, sondern aufklärerisch-funktional als „Integral moderner Gesellschaften“ (Paul Ludwig Weinacht) betrachtet und angenommen. Als Integral, das keineswegs gegen den Gedanken der europäischen Einigung opponiert, sondern das das Böckenförde-Paradoxon hinsichtlich der sozio-moralischen Bestandsvoraussetzungen des freiheitlichen, säkularen Gemeinwesens aufzulösen vermag. Jenes Paradoxon, das jüngst gerade auch Jürgen Habermas in seinen Reflexionen über die „vorpolitischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates“ anerkannt hat, indem er die Gefahr einer „entgleisenden Modernisierung der Gesellschaft im Ganzen“ als konkret konzedierte – eine Gefahr, die „sehr wohl das demokratische Band mürbe machen und die Art von Solidarität auszehren [könnte], auf die der demokratische Staat, ohne sie rechtlich erzwingen zu können, angewiesen ist“2.

Es verdient besondere Beachtung, wenn Habermas hinsichtlich seines vor zwei Jahrzehnten im Historikerstreit popularisierten Konzeptes eines Verfassungspatriotismus heute einräumt, entgegen eines weit verbreiteten Missverständnisses bedeute Verfassungspatriotismus, „dass sich Bürger die Prinzipien der Verfassung nicht allein in ihrem abstrakten Gehalt, sondern konkret aus dem geschichtlichen Kontext ihrer jeweils eigenen nationalen Geschichte zu Eigen machen“ sollten und es im Übrigen „im eigenen Interesse des Verfassungsstaates“ liege, „mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstein und die Solidarität von Bürgern speist“3. An die Stelle abstrakter, „universalistischer Verfassungsprinzipien“ jenseits nationaler Eigenheiten, die es noch vor zwei Jahrzehnten sein sollten, tritt nunmehr ein Patriotismus, der sehr wohl national fundiert ist und sich zugleich in weltoffen-konkreten Verfassungsnormen unseres Grundgesetzes widerspiegelt, ohne dass dies ein Widerspruch ist. Nicht die Verfassung also, sondern die Heimat, die Nation oder – nach Eckhard Fuhr – die „Berliner Republik als Vaterland“.

Doch warum überhaupt debattieren wir gegenwärtig über einen Begriff, der im deutschen Kontext einen ambivalenten Klang hat? Patriotismus – wurde diese politische Tugend nicht tatsächlich mit der nationalsozialistischen Erfahrung desavouiert? Verbietet sich nicht im deutschen Kontext ein Nachdenken über einen zeitgemäßen Patriotismus? Die Antwort lautet: Nein – sofern man begrifflich und inhaltlich exakt argumentiert, sofern man Patriotismus als gemeinwohlorientierte Haltung und Handlung der Bürger versteht und damit vom Nationalismus strikt unterscheidet, der seinerseits jeden weltoffenen, aufgeklärten Bezug vermissen lässt und die eigene Nation absolut setzt.

Patrioten, im Zeichen der Französischen Revolution von links für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, für Demokratie und gegen den Ständestaat kämpfend, achten die Vaterländer der anderen, ohne diese gering zu schätzen oder diese gar bekämpfen zu wollen. Patriotismus heißt im neuzeitlichen Kontext der Nationalstaatsbildung: die Verantwortlichkeit des mündigen, aktiven Bürgers für sein „Vaterland“ als demjenigen politischen Gemeinwesen, dass sich aus der willentlichen Zustimmung eines jeden als mündiger Bürger konstituiert und andererseits auf das Engagement eines jeden angewiesen ist. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Erfahrung ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Patriotismus nicht die Affirmation bestehender politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse bedeutet. Patriotismus im aufgeklärten Sinne orientiert sich an übergeordneten moralischen Prinzipien des Zusammenlebens selbstbestimmter, freier Individuen. Und er weist einen eschatologischen Erlösungsanspruch des Politischen ebenso zurück wie eine Hierarchisierung der Menschen nach Rassen, Klassen oder sonstigen Kategorien.

Die Männer des 20. Juli waren Helden, weil sie Hitler verrieten

So erinnerte Bundeskanzler Gerhard Schröder keineswegs zufällig anlässlich des 60. Jahrestags des 20. Juli 1944 an den Patriotismus des deutschen Widerstands. Denn tatsächlich waren es Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit, war es das Wohlergehen des eigenen Landes, des Volkes, der eigenen Nation, die das „andere“, das oppositionelle, antitotalitäre Deutschland gegen Hitler einte. Diese Werte, für die sie letztlich ihr Leben gaben, waren den Widerständlern so wesentlich, dass sie den Mut zur befreienden Tat fanden, und gar das Leben ihrer nächsten Angehörigen und Freunde gefährden mussten. Die Männer des 20. Juli 1944 brachten den Heldenmut zur befreienden Tat auf, und so waren sie Patrioten für Deutschland nicht obwohl, sondern gerade weil sie ihren Führer und Obersten Befehlshaber verraten hatten. Sie selbst sahen sich an eine geistige-spirituelle, an eine geschichtliche, an eine politisch-kulturelle Vergangenheit gebunden, die ihnen eine moralische und politische Identität verliehen hatte; sie fühlten sich ihrer Heimat sowie der Zukunft der Nation verpflichtet und für deren Fortbestand verantwortlich. Nur die Treue zur Heimat, die politisch ihre Physiognomie in der Nation findet, die Verpflichtung zu Humanität und Zurückweisung aller eschatologischen Pervertierungen der Mitmenschlichkeit waren ihnen unbedingt. Die Treue zur Regierung hing davon ab, ob diese das moralische Fundament des menschlichen Zusammenlebens förderte, schädigte oder gar, wie im Falle der Diktatur Adolf Hitlers, zerstörte.

Hat sich also auch für uns Deutsche der Patriotismus-Begriff keineswegs im Nationalsozialismus verstümmelt, so drängt sich doch die Frage auf, warum gerade dieser Begriff heute ein derartiges Interesse auf sich zieht. Eben deshalb: Weil der freiheitliche, säkulare Verfassungsstaat der Neuzeit auf das bürgerschaftliche, gemeinwohlorientierte – ergo: patriotische – Verhalten seiner Mitglieder angewiesen ist, das sich weder in einem hochindividualisierten Hedonismus erschöpfen, noch dem Staatsverständnis einer „Deutschland AG“ entsprechen kann. Solidarität statt Selbstsucht – auf diese bürgerschaftliche Verhaltensformel ließe sich der Kern des Patriotismusgedankens komprimieren, der seinerseits für die politisch-kulturelle Schlüsselfrage unserer res publica – „Wer leistet welchen Beitrag wofür“? – fruchtbar zu gestalten ist.

Die Frage nach dem Wer richtet sich auf das Subjekt, auf den Bürger. Wer ist es, der sich für die patria engagiert? Diese Frage ist keineswegs banal. Sie ist dem Umstand geschuldet, dass Deutschland sich heute in einer demografischen Krise befindet, deren Ausmaß und Konsequenzen in ihrer Brisanz gegenwärtig nur unzureichend wahrgenommen werden. Sollte die Geburtenrate von durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau in Deutschland unverändert bleiben und zugleich die Lebenserwartung der Bürger weiter zunehmen, so würde sich die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik ohne Ausgleich durch Wanderungen bis zum Jahre 2050 von rund 82 Millionen auf 50,7 Millionen und bis zum Jahre 2100 auf 22, 4 Millionen reduzieren. In dem Maße, in dem sich das Geburtendefizit in Deutschland seit Jahrzehnten zu einem regelrechten Jugendschwund entwickelt, der nicht beliebig lang mit ökonomischer Produktivitätssteigerung kompensiert werden kann, kommt der Zuwanderungs- und Integrationsfrage sowie der Familienpolitik politisch ein hoher Stellenwert zu. Scheint in familienpolitischer Hinsicht eine nachhaltige und über kurzfristige wahlkampfbedingte Effekte hinausreichende Neuausrichtung nun von Seiten der neuen großkoalitionären Regierung vorgenommen zu werden, so wurde in zuwanderungspolitischer Hinsicht mit dem am 30. Juli 2004 von Regierung- und Opposition beschlossenen Zuwanderungsgesetz ein richtiger erster Schritt unternommen, sowohl in bevölkerungs- wie integrationspolitischer Hinsicht.

Doch die Frage, die bis heute virulent ist, verbindet sich mit dem Gegensatzpaar „Multikulturalismus“/„Leitkultur“ und sucht nach dem notwendigen Maß an politischer oder eben auch kultureller Integration in ein politisches Gemeinwesen, das stets ein konkretes, von Normen sowohl in juristischer als auch moralischer Hinsicht geprägtes ist. Reicht in einem modernen, weltoffenen und toleranten Deutschland heute die Identifikation mit den Artikeln des Grundgesetzes beziehungsweise deren Beachtung – im Sinne des Habermas’schen Verfassungspatriotismus der achtziger Jahre? Oder ist darüber hinaus eine kulturelle Integration notwendig, die einen kulturellen Pluralismus als selbstverständlich anerkennt, zugleich die Forderung nach kultureller Assimilation zurückweist und doch den Gefährdungen eines freiheitlichen, demokratischen Gemeinwesens durch die Existenz von fragmentierten Parallelgesellschaften Rechnung zu tragen sucht? Kurz: Was verbindet mich als Bürger dieser patria mit meinem autonomen, selbstverantwortlichen und dabei doch auf die Gemeinschaft bezogenen Gegenüber, jenseits unseres gemeinsamen Interesses an einem abwehrenden, schützenden Freiheitsbegriff?

Patriotismus als Voraussetzung des Weltbürgertums

Es ist, an die versuchte Minimaldefinition des Patriotismus anknüpfend, die Solidarität, die Negation der Selbstsucht, die als wesentliche Dimension des Gemeinsinns zunächst aus persönlicher Sympathie erwächst, aus gemeinsamen Interessen und räumlicher Nähe, und die sich in Institutionen wie Familie, Gemeinde und Staat verfestigt. Der Staat wiederum, der seinerseits auf der Nation als Solidargemeinschaft gründet, ist nach wie vor der stetigste Garant und Mittler von Solidarität, und als solcher durch keine transnationalen, gar universellen Instanzen zu substituieren, die ihrerseits nur auf die abstrakteste, weiteste, damit aber schwächste Form der Solidarität zurückgreifen können. Weltbürgerliche Solidarität kann nur dann Geltungskraft erlangen, wenn sie durch staatsbürgerliche, nationale Solidarität vermittelt wird, die ihrerseits durch vielfältige, gesellschaftliche, kommunitäre Solidarbeziehungen mediatisiert ist. In diesem Sinne erklärt Ralf Dahrendorf den Patriotismus zur Voraussetzung des Weltbürgertums. Tatsächlich müssen wir mit Dahrendorf erkennen, dass bei dem Projekt, den Bürgerstatus aus dem partikularen Raum politischer Selbstbestimmung herauszulösen und ihn universalistisch, als abstraktes, individuelles Rechtssubjekt neu zu bestimmen, nicht nur das Problem der institutionellen Garantie universaler Rechte als Menschenrechte virulent bleibt. Eine derartige Umformulierung des Bürgerstatus würde darüber hinaus die Dimension der politischen Partizipation an einem klar definierten und begrenzten Gemeinwesen preisgeben – an einem Gemeinwesen, das im Sinne der Effektuierung des individuellen Rechtsschutzes, eines demokratischen Kontrollverfahrens und einer demokratischen Öffentlichkeit seine Ausformung heute, auch im vereinten Europa, in den Nationalstaaten findet.

Damit ist nun die Frage nach der Bezugsgröße eines bürgerschaftlichen, patriotischen Handelns insofern beantwortet, als zwischen Universalismus und Partikularismus kein Spannungs-, sondern vielmehr ein notwendiges Komplementärverhältnis gesehen werden muss. Zudem muss ein nationalstaatlich orientierter Patriotismus als zeitgemäß und auch pro-europäisch anerkannt werden. In einem dritten Schritt folgt die Frage nach den Bedingungen und Perspektiven eines gemeinwohlorientierten bürgerschaftlichen Engagements hier und heute: Wie steht es um das Verhältnis von Bürger und Staat? Wie um die Stimulierung der bürgerlichen Selbsthilfebereitschaft und ihrer -fähigkeiten im Dienste einer solidarischen Verantwortungsgesellschaft?

Was ermöglicht und erleichtert aktive Bürgerschaft?

Eine solche Gesellschaft sucht ihrerseits keineswegs den Staat und jene ihm obliegenden Funktionen zu ersetzen. Sie sucht ihn vielmehr auf seine klassischen Funktionen zu reduzieren und damit zur Bekämpfung einer „ordnungspolitischen Verwahrlosung“ beziehungsweise „fürsorglichen Vernachlässigung“ (Paul Nolte) beizutragen. Es geht nicht um die Abkehr vom Sozialstaat und um die Errichtung eines rudimentären Nachtwächterstaates. Vielmehr sucht eine bürgerliche Verantwortungsgesellschaft Konsequenzen daraus zu ziehen, dass sozialstaatliche Umverteilung die Gesellschaft auf Dauer nicht von innen heraus zusammenzuhalten vermag – zumal in Zeiten leerer öffentlicher Kassen!

Es gilt, die zentrale Botschaft des Abschlussberichtes der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestages in der 14. Wahlperiode ernst zu nehmen, die in dem Appell zur Stärkung des Subsidiaritätsprinzips kulminiert, „[...] zum einen innerhalb der verschiedenen Ebenen im föderalen Staatsaufbau und auch im Rahmen der Europäischen Union, zum anderen zwischen dem Staat und den gesellschaftlichen Organisationen und Assoziationen. Wesentlicher Maßstab für den Erfolg staatlicher Engagementförderung ist die Ermöglichung und Unterstützung von Prozessen bürgerschaftlicher Selbstorganisation.“

Man wird unter dem Gesichtspunkt einer Stimulierung der bürgerschaftlichen Selbstorganisation konkret prüfen müssen, welche Regularien und Abläufe des öffentlichen Lebens – zum Beispiel im Hinblick auf das Wahlsystem, auf Partizipationsregeln, auf intermediäre Instanzen – im Sinne einer aktiven Bürgerschaft zu stärken oder zu modifizieren sind. Institutionelle Konditionen bürgerschaftlichen Engagements stehen etwa im kommunalen Verfassungsrecht in Frage, sowie im Planungsrecht, im Vereins- und Stiftungsrecht, in den Verfahren zur Ausgestaltung ordnungspolitischer Prinzipien der Subsidiarität und Pluralität, ja nicht zuletzt in den offenen Foren öffentlicher Partizipations- und Mediationsprozesse. In diesen Bereichen jenseits von Markt und Staat könnten die Organisations- und Legitimationsmuster des „dritten Sektors“ praktisch bedeutsam werden, weil hier der Gemeinsinn von Ehrenamt und freiem Engagement nicht nur moralisch beschworen würde, sondern praktisch zu befördern wäre. So verstanden und entsprechend konzipiert, basiert die Bürgergesellschaft primär auf der gemeinsamen Sorge um die Funktionsfähigkeit, das Ansehen sowie die Glaubwürdigkeit der freiheitlichen, demokratischen Staats- und Gesellschaftsform Bundesrepublik Deutschland.

Gerade die zuletzt genannten Gründe für ein Mehr an bürgerschaftlicher Eigenverantwortung und für eine Stärkung des gemeinwohlorientierten Engagements unter der Chiffre des „Patriotismus“ bergen wohl kaum parteipolitisches oder gesellschaftliches Konfliktpotenzial. Zugleich sollten aber auch Vorschläge für die Fundierung eines elementaren „Einheits“-Gefühls, dessen jede „Architektur einer politischen Gemeinschaft“4 bedürftig sei (Udo Di Fabio), pragmatisch und vorurteilsfrei über Parteigrenzen hinweg erörtert werden. Konkret sollte die historische Vermittlung des von Hoffmann von Fallersleben verfassten „Deutschlandliedes“ und das Erlernen seiner dritten Strophe in den Schulen verbindlich gemacht werden. Über einen einheitlichen Minimal-Kanon der zu vermittelnden deutschen Literatur und Musik wäre zumindest ernsthaft nachzudenken. Des weiteren: Gerade ein fundierter und nicht fortwährend zugunsten naturwissenschaftlicher Fächer reduzierter Geschichtsunterricht vermag in der jungen Generation der Deutschen ein historisches Bewusstsein (und damit ein "Einheits"-Gefühl) zu vermitteln, das keineswegs die historische Verantwortung für die im deutschen Namen begangenen Verbrechen des Nationalsozialismus zu negieren sucht.

Im Gegenteil: Die einzigartigen Verbrechen, die sich mit dem Synonym "Auschwitz" verbinden, lassen sich ebenso wenig aus der historischen Kontinuität und der politischen Verantwortung der Deutschen tilgen, wie sich die deutsche Geschichte auf zwölf Jahre NS-Herrschaft reduzieren lässt. "Auschwitz" war und ist nicht der ausschließliche Gründungsmythos der zweiten freiheitlichen Republik auf deutschem Boden.

Das Selbstvertrauen der Bürger

Neben dieser ungeheuren Hypothek vermochte die Bonner Republik auch an positive Kontinuitätslinien anzuknüpfen, im Politischen wie im Geistesgeschichtlichen - positive Aspekte, die durch den langen Schatten Hitlers nicht völlig verschwunden waren, sondern sich mit einem freiheitlichen, aufgeklärten, bürgerlichen Patriotismus verbinden konnten und heute erneut ins öffentliche Bewusstsein gelangen. Und dies, ohne sogleich mit dem Verdacht des Geschichtsrevisionismus oder des Rechtsradikalismus belegt zu werden. Begriff und Inhalt des „Patriotismus“ eignen sich nicht dafür. Patrioten reden sich die Geschichte nicht schön, im Gegenteil. Sie stellen sich der Verantwortung einer komplexen Vergangenheit und versuchen, Konsequenzen für Gegenwart und Zukunft zu ziehen: „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Patriotismus, neuzeitlich zunächst und vor allem ein nationaler Patriotismus, war aufgrund seiner Synthese von Weltoffenheit und Partikularismus stets ein „Verfassungs“-Patriotismus, dem die Rechte, Freiheiten und Verpflichtungen der Bürger im Beziehungsverhältnis zur Staatsgewalt eingeschrieben waren.

Damit schließt sich der Kreis der Patriotismusdebatte 20 Jahre nach dem Historikerstreit. Banal ausgedrückt: Stürmer und Habermas müssen einander nicht widersprechen, sie sollten sich allerdings auch nicht missverstehen wollen. In einem Punkt tun sie dies heute schon nicht, und daran gilt es anzuknüpfen: Ob konservativ oder linksdemokratisch, für alle gemeinsam stellt jener „lange Weg nach Westen“, den Heinrich August Winkler analytisch ausgeleuchtet hat, insofern eine Erfolgsgeschichte dar, als die Berliner Republik unzweifelhaft und fest, politisch wie kulturell „im Westen“ verankert ist. Diese Grundlage wird nicht in Frage gestellt, sie bildet das Fundament, auf dem wir uns heute bewegen. Dass dies so ist und dass dieses Fundament – ungeachtet aller notwendigen und selbstverständlichen politischen Streitigkeiten – trägt, ist ein Grund zu Selbstvertrauen, zu einem Selbst-Bewusstsein, das die Deutschen zu dem macht, auf was ihr Gemeinwesen auf Dauer existenziell angewiesen ist: zu patriotischen Bürgern.

Anmerkungen
1 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band II, Deutsche Geschichte 1933-1990, Bonn 2004, S. 445.
2 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion: Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2005, S. 106-118, hier S. 111f.
3 Ebd. S. 116.
4 Vgl. Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, München 2005.

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