Ohne Vision wird es nichts

Warum die SPD als Partei des Sachzwangvollzugs nur scheitern kann

Man reibt sich die Augen. Das kann doch alles nicht wahr sein! Gerade hat Rot-Grün auf den letzten Metern die Bundestagswahlen gewonnen, da bricht ein Gewitter von Kritik und Hohn über Gerhard Schröder und seiner Regierungsmannschaft zusammen, wie man es in Deutschland noch nicht erlebt hatte: Nicht nur die konservative Presse von FAZ bis Welt und vor allem Bild rief die Wähler der jüngsten Landtagswahlen offen zur Abrechnung und nachträglichen Wahlrevision auf: Auch die ehemals linksliberalen, kritischen Spiegel und Zeit haben sich längst in das Lager derer gerettet, die "Modernisierung" und "Reform um jeden Preis" herbeischreiben wollen und in Schröder nur noch den Zauderer und Bremser, ja den - mittlerweile ein Schimpfwort - "Gewerkschaftsfreund" zu erkennen glauben.


Gewiss, der Wahlsieg Schröders war nicht einwandfrei als Ausdruck einer imponierenden Regierungsleistung zu verstehen. Im Gegenteil: Gemessen an den selbst gesteckten Zielen durfte Rot-Grün im September als gescheitert betrachtet werden. Und der Wahlslogan der Opposition vom "Schlusslicht Deutschland" hätte wohl bei den Wählern verfangen, wäre nicht - fast wie durch ein Wunder - kurz vor der Wahl mit dem Elbe-Hochwasser und dem Irak-Thema ein kleines window of opportunity aufgegangen, das Gerhard Schröder dann allerdings unglaublich professionell und beherzt dazu nutzte, Edmund Stoiber auf der Ziellinie abzufangen.


Also, viel Dusel war dabei, aber ist es nicht wie im Fußball: Am Ende fragt niemand mehr danach, wie ein Sieg zustande gekommen ist? Weit gefehlt! Die versammelte Medienelite wartete nur auf die erste Chance, um ihren Lesern - den Wählern - klar zu machen, dass sie falsch gewählt hatten: Die gewiss nicht besonders souveränen Entscheidungen nach der späten Korrektur von Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen wurden zum lächerlichen Anlass genommen, um den Notstand auszurufen, haarsträubende Parallelen zur Weimarer Republik zu ziehen und die Wähler auf die Barrikaden zu rufen. Die Schärfe dieser Anwürfe, die die Opposition ohne eigenes Zutun - wo sind denn deren konstruktive Zukunftsentwürfe? - zum um den Sieg betrogenen Gewinner stilisierte, geht über berechtigte Kritik und notwendige Aufklärung weit hinaus: Hier wurde ein demokratischer Willensbildungsprozess in Frage gestellt, weil er nicht den Vorstellungen der Medienmächtigen entsprach. Deshalb und nicht etwa wegen unwahrer Berichte über Schröders Ehe muss die Macht der Medien und deren Missbrauch Gegenstand des demokratischen Diskur-ses werden, der nicht länger durch den Hinweis auf die "Meinungsfreiheit" abgewürgt werden darf. Gerade in einer "Mediokratie" muss den wirklich Mächtigen - den Medienmachern und ihren Hintermännern - stärker als bisher auf die Finger geschaut werden.

Warum Weltbilder wichtig sind

Aber unabhängig von diesen jüngsten, unglaublichen Fehltritten der Medien kann wohl kaum in Abrede gestellt werden, dass Politik heute medien- und kampagnefähig sein muss. Marketingstrategen in allen Parteien wollen uns gar weismachen, dass es nur auf die Inszenierungsfähigkeit einer politischen Konzeption ankomme - unabhängig von konkreten Inhalten und - pfui Spinne - schon gar abseits jeder Ideologie. Peter Grafe hat (in der Berliner Republik 1/2003) zu Recht darauf hingewiesen, dass allein der Spaß- oder Unterhaltungsfaktor allerdings keineswegs ausreicht, um ein politisches Produkt unverwechselbar und, vor allem, dauerhaft bindungsfähig zu machen. Sein Vorschlag, politische Parteien zu "Marken" zu formen, mit denen sich Gefühle, Ansprüche, stimmige Bilder verbinden, gibt in der Marketing-Sprache allerdings nur wider, was uns unter dem Begriff der "ideologischen Bindung" längst vertraut ist, jedoch heute wohl zu verstaubt klingt, um als zukunftsfähig betrachtet zu werden. Letztlich aber kommen wir nicht um die Erkenntnis herum, dass die Welt viel zu komplex ist, um ohne ideologische Brücken, ohne Weltbilder also auskommen zu können.

Wer von Zielen spricht, gilt bald als Blockierer

Es muss politischen Parteien darum gehen, über einen Katalog von Werten und Zielen Orientierung im Meer der Unübersichtlichkeit, Sicherheit der Interpretation des Weltgeschehens im Kleinen wie im Großen anzubieten. Das Postulat vom "Ende der Ideologien" als Requiem auf alte, unverbesserliche Grabenkämpfer früherer Epochen kann deshalb nur als Versuch verstanden werden, ein einheitliches Weltbild, ein "pensée unique" durchzusetzen, das abzulehnen einen unmittelbar als "Traditionalisten" identifiziert - auch dies mittlerweile so ein Schimpfwort im Vokabular der Modernisierer. Es wäre der endgültige Triumph der Medienelite, die auf Grundlage einer weitgehend einheitlichen sozialen Herkunft aus dem gehobenen Bildungssegment längst nicht mehr nur die politischen Themen kommuniziert (agenda setting), sondern auch deren Auswahl und akzeptierte Interpretationsentwürfe (agenda building und framing) im Sinne eines Leistungsethos liefert.


Dies musste schmerzhaft Oskar Lafontaine erkennen, als er es zu Beginn der ersten Legislaturperiode von Rot-Grün wagte, die von den Wählern gewünschten Themen - soziale Gerechtigkeit, Eingrenzung der Macht der internationalen Finanzmärkte und makroökonomische Interventionsfähigkeit - an- und auszusprechen, dies musste nun auch Gerhard Schröder erleben, dessen SPD in den vergangenen Monaten auf einen historischen Tiefstwert der Wählerzustimmung zwischen zwei Bundestagswahlterminen von nur mehr 25 Prozent heruntergeschrieben wurde.


Hubertus Heils und Carsten Stenders (Berliner Republik 1/2003) Konsequenz aus diesen Rahmenbedingungen scheint zu sein, sich kritiklos dem "pensée unique" zu unterwerfen, das Primat der Ökonomie zu deklamieren und die SPD als besseren Fahrensmann durch die unsicheren Gewässer des gesellschaftlichen Wandels zu positionieren. Ohne große Mühe erkennt man hier die Grundzüge des Schröderschen Politikverständnisses, das als grandios gescheitert angesehen werden kann: Weder ist es der Konzeption der Neuen Mitte je gelungen, einen Identität stiftenden Wertekatalog zu formulieren oder auch nur die als "Marke" wohl eingeführten Werte "Soziale Gerechtigkeit", "Chancengleichheit" oder "Partizipation" sinnstiftend zu füllen, noch hat man mit dem heillosen Durcheinander aus eindeutig wirtschaftsorientierten Maßnahmen und realpolitischen Zielsetzungen (Haushaltskonsolidierung und Senkung der Staatsquote als Selbstzwecke) und gewerkschaftsfreundlicher Gesetzgebung (Reform der Mitbestimmung, Rücknahme der Verwässerung des Kündigungsschutzes, die nun wiederum zurückgenommen werden soll) Vertrauen bei den Medieneliten schaffen können: "Sie können es einfach nicht", heißt dann der dazu passende Vorwurf und selbst bei größtmöglicher Annäherung der SPD an die Politikvorstellungen der Konservativen werden grundlegende Vorbehalte bleiben. Sollte aber eine SPD-geführte Regierung darauf bestehen, dass sich ihre Eigenständigkeit auch in selbst definierten Zielen sowie einem eigenständigen Weltbild und Politikprojekt äußert - und dies ist zumindest in der stärker auf Differenzierung im Politikverfahren denn in den Politikinhalten setzenden "Neuen-Mitte-SPD" keine ausgemachte Selbstverständlichkeit mehr -, dann werden eilfertig die Schubladen "Reformblockierer" oder "Gewerkschaftsfreund" aufgezogen.


Darf oder muss man also Hans-Peter Bartels Recht geben, wenn er (in der Berliner Republik 1/2003) fordert, die SPD solle sich auf anderen als den harten wirtschaftspolitischen Feldern profilieren und die von Clinton-Berater Dick Morris verbreitete These beherzigen, wonach die wirtschaftliche Entwicklung sich in Globalisierungszeiten ohnehin so sehr dem nationalen Steuerungszugriff entziehe, dass wirtschaftspolitische Wahlversprechen notwendig zu Wahllügen werden müssten? Ein solcher Ansatz übersieht einerseits, dass es völlig egal ist, ob nationale Regierungen noch wirtschaftspolitische Steuerungsmöglichkeiten haben oder nicht, die Wähler erwarten von ihrer Regierung schlicht und einfach, dass sie über diese besitzen - weshalb sonst sollten sie ihr einen Regierungsauftrag erteilen? Vermeintliche Ehrlichkeit oder das Ausweichen auf andere Themenschwerpunkte nützt da gar nichts, schließlich haben es die politischen Parteien längst aus der Hand gegeben, die Themen zu bestimmen.

Größere Spielräume der Politik als vermutet

Aber ganz so fatal, wie der erste Anschein sein mag, ist die Sache andererseits auch wieder nicht, denn Dick Morris und viele sozialwissenschaftliche Interventionsskeptiker liegen schlicht falsch mit ihrer Vermutung: Die wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume sind auch heute noch viel größer als zumeist vermutet - dies zeigen all jene Modellländer, die wegen ihrer Beschäftigungsentwicklung in Deutschland so bewundert werden. Bei genauem Hinsehen wird man nicht darum herumkommen zuzugeben, dass zupackende finanzpolitische Intervention bei geldpolitischer Akkommodation (und, zweifellos einer Reihe anderer, häufig zufälliger Einflüsse) für die richtige Weichenstellung in Richtung Wachstum und Beschäftigung verantwortlich war. Steuersenkungen, Haushaltskonsolidierung und massivste Einigungskosten zusammen mit Wachstum und Beschäftigung in einen wirtschaftspolitischen Rahmen zu pressen ist allerdings tatsächlich "Voodoo-Ökonomie", mit der schon Helmut Kohl und Theodor Waigel scheiterten.


In Zeiten der Medienfixierung darf das Primat der Ökonomie nicht ungestraft negiert werden; gleichzeitig aber darf sich die Sozialdemokratie nicht dem im Grundsatz nicht-sozialdemokratischen "pensée unique" der Medien- und Leistungselite unterwerfen, will sie Alleinstellungsmerkmale wahren, die sie als "Mar-ke" im politischen Angebot unverwechselbar machen. Damit diese beiden Eckpfeiler der Politikformung nicht zum Dilemma werden, muss die Hegemonie über die gesellschaftlichen Diskurse zurückgewonnen werden. Dafür ist zweierlei unverzichtbar: Zum einen muss die Sozialdemokratie eine gesellschaftliche Vision besitzen und die dafür erforderlichen Mittel und Instrumente benennen können. Zwar ist in der Politik häufig der Weg das eigentliche (Gestaltungs-)Ziel, aber Wähler lassen sich allein mit der Weisung eines Weges ("Modernisierung", "Reformen") nicht gewinnen, wenn das Ziel nicht klar ist oder das vorgebliche Ziel (Sicherung der solidarischen, gerechten Gesellschaft) nicht zu den vorgeschlagenen Mitteln (Abbau der solidarischen Sozialsysteme, Abbau von Arbeitnehmer-rechten, überdurchschnittliche Reduktion der Unternehmens- und Kapitalertragssteuern) passen will.


Eine Reformulierung des gesellschaftlichen Sozialvertrages nach dem Ende des "historischen Kompromisses", der die alte Bundesrepublik in der Systemkonfrontation bis 1989 auszeichnete, ist längst überfällig, aber bis heute unerledigt. Die "Neue-Mitte-Formel" der Teilnahmegerechtigkeit (Chancengleichheit für die selbstverantwortliche Marktteilnahme) passt als ur-liberale Vorstellung gewiss besser zum amerikanischen "Hier ist alles möglich" als zum sozialdemokratischen Credo "Hier wird den Schwachen geholfen". Und die kommunitaristische Zivilgesellschaft, mit der Schröder eine Zeit lang heftig flirtete, passt wohl auch besser zur Gutbürgerlichkeit amerikanischer Vorstadtidylle als zur europäischen Realität multiethnischer Urbanität, in der die SPD-Wähler überwiegend rekrutiert werden.


Mindestens ebenso wichtig wie die Alleinstellungsmerkmale der "Marke" sind aber die Personen, die mit der "Marke" identifiziert werden und mit denen sich der Wähler identifizieren möchte. Damit sind gar nicht in erster Linie die persönliche Ausstrahlung, das Charisma, oder die Professionalität im Umgang mit den Medien gemeint, sondern die kompetenzgestützte Autorität der handelnden Perso-nen. Ohne die unbezweifelte Autorität eines Karl Schiller hätte der Keynesianismus wohl nicht jenes "Geschenk des Himmels" für die SPD des Godesberger Programms werden können, das ihr über eine Dekade Regierungsfähigkeit sicherte. Hans Eichel verkörperte vielleicht eine kurze Zeit lang erfolgreich den Sparkommissar der Nation, er steht aber weder für eine moderne sozialdemokratische Finanz- und Wirtschaftspolitik, noch nimmt ihm jemand den Zauber der "Voodoo-Ökonomie" ab. Und auch Wolfgang Clement kämpft mit dem systematischen Malus des "Pragmatikers": Er steht genau dafür, für nichts wirklich einzustehen, sondern die gerade manifesten Sachzwänge (Niedriglohnsektor, Kündigungsschutz) partei- und verwaltungsintern durchzusetzen. Unver-wechselbarkeit, Profil und Diskursfestigkeit gegen den medialen Mainstream darf man da nicht erwarten.

Langsam wird es richtig ernst

Es geht hier nicht darum, einzelne Regierungsmitglieder oder Funktionäre an den Pranger zu stellen; Hans Eichel und Wolfgang Clement sind zweifellos verlässliche Technokraten und Parteiarbeiter. Aber das politische Personal muss ebenso hinterfragbar bleiben wie das Programm. Denn verliert die "Marke" an Zugkraft, stehen die Chef-Verkäufer oder Galeonsfiguren ebenso zur Diskussion wie das Marketing-Konzept. Der gegenwärtige Marktanteil von 25 Prozent bei blasser Konkurrenz ist besorgniserregend genug, um sich grundsätzliche Gedanken zu machen.


Der Parteienforscher Peter Lösche formuliert in den Blättern (2/2003): "Eine Chance für Europas Sozialdemokratie besteht auch darin, dass Wähler sich nicht unbegrenzt manipulieren lassen. Sie verlangen Inhalte, Konzepte und Visionen. Die inhaltlichen Positionen, die Parteien einnehmen, sind immer noch das wichtigste und wahlentscheidende Kriterium". So ist es. Die SPD kann nur dauerhaft mehrheitsfähig bleiben, wenn sie an der Vision einer besseren, gerechteren Gesellschaft festhält und die Gestaltungs- und Interventionsfähigkeit der Politik wieder entdeckt. Angesichts der Herausforderungen - Massenarbeitslosigkeit, deutsche Einheit und europäische Integration, alternde Gesellschaft, verbreitete Individualisierung, sowie, gewiss, auch unflexible öffentliche Verwaltungen und bürokratischer Ballast - kann die Losung der Sozialdemokratie nicht "weniger Staat, weniger Steuern" sein, sondern sie muss den gestaltungswilligen und gestaltungsfähigen Staat reklamieren.


Die Menschen (und Wähler) erwarten Reaktionen der Politik auf zeitgenössische Veränderungen ("Reformen"), und sie sind auch bereit, Veränderungen im eigenen Lebensumfeld zu akzeptieren. Aber immer weniger Menschen - zumindest die, die von ihrer Disposition her nicht auf das Recht des Stärkeren setzen - wollen von Sachzwängen und Funkti-onslogiken des immer brutaler werdenden Kapitalismus in Reformen hinein gedrängt werden, von denen sie instinktiv spüren, dass sie nicht "verteilungsneutral" sind. So wie die Sozialdemokratie im "Goldenen Zeit-alter" den interventionsoptimistischen Keynesianismus für den Wohlfahrtsstaat - das "Modell Deutschland" - instrumentalisierte, so braucht die heutige Sozialdemokratie einen interventionsbereiten Postkeynesianismus für einen reformierten, offensiv verkauften Sozialstaat in europäischer Einbettung. Konzepte dafür werden auch in der Sozialdemokratie - allerdings viel zu wenig in den Zirkeln der "Neuen Mitte" - diskutiert. Leider haben es glaubwürdige, kompetente und Sachautorität ausstrahlende Persönlichkeiten in der Garde der "Pragmatiker" nicht eben leicht - sie fehlen heute schmerzlich.

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