Noch eine Chance für die Liberalen?

Die FDP kämpft ums politische Überleben. Aber nur wenn sie ihre verlorene Wirtschaftskompetenz zurückgewinnt und den Geist des Sozialliberalismus wiederbelebt, kann sie dem Tod vielleicht noch einmal von der Schippe springen

Als die Freien Demokraten im Jahr 2009 mit einem Rekordwahlergebnis von 14,6 Pro­zent nach elf Jahren Opposition in die Regierung zurückkehrten, konnte niemand ahnen, welcher dramatische Abstieg der Partei in den kommenden zwei Jahren bevorstehen würde. Die FDP befindet sich heute in ihrer schlimmsten Krise seit der Neu­gründung der Partei im Jahre 1948. Sollte sie es nicht schaffen, in den nächsten Bundestag zurückzukehren, könnte es das Aus für die Liberalen als relevante politische Kraft bedeuten. Dies war in keiner ihrer bisherigen Tiefphasen ernsthaft zu befürchten gewesen – weder 1961, als der FDP nach ihrem Wiedereintritt in die Regie­rung Adenauer das Etikett der „Umfallerpartei“ angeheftet wurde, noch nach den Koalitionswechseln von 1969 und 1982, die sie mit Verlusten von erheblichen Teilen ihrer vormaligen Mitglieder und Wähler bezahlte, und auch nicht in den neunziger Jahren, als die Freidemokraten die für ihren früheren Erfolg maßgebliche Funktion eines Mehrheits­beschaffers und politischen Korrektivs scheinbar eingebüßt hatten.

Die Beobachter streiten jetzt darüber, ob die in der Regierungsverantwortung arg gebeutelte Partei der Versuchung erliegen könnte, sich in Populismus zu üben, um aus ihrer elektoralen Misere herauszukommen. Die Einlassungen des Vorsitzenden Philipp Rösler zur Eurokrise und das von Kritikern der Parteiführung angestrengte Mitglieder­begehren gegen die Zustimmung zum Euro-Rettungsschirm dienen ihnen dafür als Beleg. Es gebe das Bedürfnis – so heißt es –, durch einen EU-skeptischen Kurs verloren ge­gangenen Kredit auf dem für die Liberalen identitätsstiftenden Gebiet der Wirt­schafts­politik zurückzugewinnen. Dass diese Strategie bei der Wahl zum Berli­ner Abgeord­ne­tenhaus im September scheinbar nach hinten losgegangen ist, dürfte nicht an der mangelnden Resonanz europaskeptischer Positionen in der Bevöl­kerung liegen. Die meisten Bürger lehnen den faktisch ja schon begonnenen Einstieg in eine Haftungs­union klar ab. Zugleich haben die Wähler aber ein Gespür dafür, ob ein Positions­wechsel ernst gemeint ist und zu politischen Konsequenzen führt oder ob er als bloßes Wahl­kampfmanöver daherkommt. Ein tiefgreifender Ver­trauens­verlust lässt sich nicht durch kurzfristige Stimmungspolitik wettmachen. Insofern ist ein genauerer Blick auf die Ursachen der FDP-Krise geboten. Diese reichen lange vor 2009 zurück und können keineswegs auf die „Lieferschwierigkeiten“ der Liberalen an der Regie­rung, mithin auf das Nichteinhalten ihrer zentralen Wahlversprechen, reduziert werden.

In Wahrheit hat die Hinwendung der FDP zum Populismus schon in den neunziger Jahren begonnen. Sie war das eigentliche Signum der programmatischen und strategischen Neuausrichtung der Partei unter Guido Westerwelle. Der General­sekre­tär und spätere Vorsitzende fragte sich zu Recht, warum die FDP in der Wählergunst weit hinter den liberalen Schwesterparteien in den Niederlanden, in Belgien und in Dänemark zurückblieb, wo sie Konservativen und Christdemokraten in ihren Ländern längst erfolgreich den Rang abgelaufen hatten. Die Antwort lag im verengten Wähler­spek­trum: Das Elektorat der FDP konzentrierte sich bis in die achtziger Jahre hinein auf das mittelständische Bürgertum, das ausgesprochen staatstreu war und die Liberalen deshalb vor allem als Regierungspartei schätzte. Folgt man dem Göttinger Parteien­histo­riker Franz Walter, so haben die Revolte der Achtundsechziger, die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsreformen und der Postmaterialismus der Grünen diese Klientel seither in eine immer stärkere Distanz zum Staat gebracht. Dies sei die Einbruchstelle für die neoliberale Wende gewesen. Insofern war es ein Glücksfall für Westerwelle, dass die Partei nach 29 Jahren ununterbrochener Regierungsbeteiligung 1998 tatsächlich auf den Oppositionsbänken Platz nehmen musste.

Dass die FDP die Reformmaßnahmen, die sie jetzt anmahnte, als Regierungspartei selbst unterlassen hatte, schadete ihr in der öffentlichen Wahrnehmung kaum. Im Gegenteil: Beflügelt vom neoliberalen Zeitgeist, konnte sie die rot-grüne Regierung vor sich hertreiben, als diese 2003 ihre Agenda-Politik auf den Weg brachte. Und nach der Bildung der Großen Koalition 2005 konnte sie sogar ein Alleinstellungsmerkmal reklamieren, wenn es um die Forderung nach durchgreifenden marktwirtschaftlichen Reformen ging. Die populistisch aufgeladene Kritik an den vermeintlich überforderten Leistungsträgern, die zur Finanzierung eines ausufernden Sozialstaats herhalten müssten, resultierte in vollmundig vorgetragenen Steuersen­kungs­versprechen, von denen die FDP spätestens nach der 2008 ausgebrochenen Finanzkrise hätte wissen können, dass sie nicht einzuhalten sind.

Jugendlichkeit, Spaß und Selbstdarstellung

Das Buhlen der Liberalen um die aufstrebenden Selbständigen der New Economy schlug sich zugleich in einer Popularisierung der Wähleransprache nieder: Guido Westerwelle wollte mit der Behäbigkeit der alten Honoratiorenpartei brechen und stattdessen auf Jugendlichkeit und mediale Selbstdarstellung setzen. Auch wenn das Konzept der Spaßpartei bei der Bundestagswahl 2002 einen herben Rückschlag erlitt, änderte das nichts an der populistischen Grundphilosophie. Die FDP verstand sich nun nicht mehr in erster Linie als elitärer Verein der Wohlhabenden und Gesetzten, als „Partei der Besserverdienenden“, wie es einem vom politischen Gegner gerne gebrauchten (und von der FDP selbst in die Welt gesetzten) Klischee entsprach. Sie artikulierte auch den Protest der „kleinen Leute“, die sich von Steuerbelastung, bürokratischen Vorschriften und politischen Korrektheitsgeboten gegängelt fühlten. Ein Blick auf die Sozialstruktur ihrer Wähler bei der Bundestagswahl 2009 zeigt, dass die Partei damit durchaus richtig lag.

Der Populismus der Oppositionspartei FDP blieb freilich ein ideologisch halbierter, indem er sich ganz auf die ökonomische Sphäre beschränkte. Der Versuchung, auch in kulturellen oder wertebezogenen Fragen nach rechts zu driften, erlagen die Liberalen nicht – im Unterschied zu manchen ihrer europäischen Schwesterparteien wie der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Ob der verstorbene Parteivize Jürgen Mölle­mann eine solche Kursänderung wirklich im Sinn hatte, als er Westerwelle auf das von ihm entworfene „Projekt 18“ verpflichtete, darf bezweifelt werden. Sollte es so gewesen sein, dann hätte Möllemann dafür kaum ein ungeeigneteres Thema finden können als seine von einem pro-arabischen Standpunkt aus formulierte Israel-Kritik, die er zu allem Überfluss noch mit antisemitisch klingenden Untertönen versetzte. Eine erfolgreiche rechtspopulistische Strategie hätte neben einer konsequenten Anti-Establishment-Orientie­rung vor allem die Thematisierung des Zuwanderungs­pro­blems erfordert, das in anderen Ländern zum wichtigsten Mobilisierungsthema der Rechtsaußenparteien avanciert ist. Für eine restriktive Politik in Sachen Einwande­rung und Multikultu­ralismus gab und gibt es aber innerhalb der FDP keine ideologische Basis mehr, nachdem die Partei ihre nationalen Traditionen abgeschüttelt hat, die in den fünfziger und sechziger Jahren noch eine wichtige Rolle spielten. Das ruhmlose Ende des Projekts 18 machte zudem deutlich, dass es in der einstigen Honoratioren­partei nicht einmal möglich war, die Basis für eine gebremste populistische Strategie der Wähleransprache zu erwärmen. Insofern kam es der Parteiführung um Guido Westerwelle sicher nicht ungelegen, dass sie die Schuld am schwachen Bundestags­wahlergebnis 2002 ganz auf Jürgen Möllemann abladen konnte.

Betrachten wir die ideellen Wurzeln der Liberalen etwas genauer. Neben den überkonfessionell ausgerichteten Unionsparteien stellte die FDP die wichtigste Neu­er­findung des bundesdeutschen Parteiensystems dar, der es erstmals gelang, die nationale und fortschrittliche Strömung des Liberalismus in einer gemeinsamen Partei zu vereinigen. Dass die nationalen Traditionen dabei zunächst deutlich stärker ausgeprägt waren und die Oberhand behielten, lag in der Kontinuität des Kaiser­reiches und der Weimarer Repu­blik. Die wichtigste Mission der Fortschrittlichen (oder Links­liberalen) war die Parla­mentarisierung und Demokratisierung des politischen Sys­tems. Nachdem sie 1918/19 erfüllt war, traten verstärkt sozialliberale Posi­tionen an ihre Stelle. So verstand sich die Weimarer DDP gemäß ihrem Grund­­­satz­programm von 1920 als „Partei der Arbeit“, die einen „Staat des sozialen Rechts“ schaffen und sogar „eine Demokra­tisierung der Wirtschaft“ herbeiführen wollte – bei prinzipieller Aner­kennung der Privat­wirtschaft.

Die Freiburger Thesen der FDP von 1971, die dem Sozialliberalismus ein program­matisches Fundament geben sollten, knüpften an diese Forderungen an, auch wenn sie in der praktischen Regierungspolitik ebenso wenig Bedeutung erlangten wie jene. Als Mehrheitsströmung konnte sich der Sozialliberalismus in der FDP jedenfalls nicht durchsetzen. Seine wichtigsten Funktionen lagen – rückblickend betrachtet – in der Überwindung des Nationalliberalismus, dessen Wurzeln nun gänzlich gekappt wurden, und in der Legitimierung der 1969 geschlossenen sozialli­beralen Koalition. Weil die Exponenten des nationalen Flügels die FDP bis auf wenige Ausnahmen verließen, konnte man an die alte Tradition später nicht mehr anknüpfen. Dies dürfte die Partei auch gegen eine Hinwendung zum „Euroskepti­zismus“ immunisieren, die man ihr aktuell unterstellt. Gäbe es solche Bestrebungen in der Führung tatsächlich oder müsste sie sich in dieser Frage dem Druck der Basis beugen, würde das die FDP vermutlich zerreißen. Die Parteispitze bemüht sich deshalb zurzeit emsig, eine Mehrheit gegen die von den Euro-Kritikern um Frank Schäffler vertretene ablehnende Haltung zum permanenten Ret­tungs­schirm zu organisieren, über die in einem Mitglieder­entscheid abgestimmt werden soll.

Wirtschaftsliberalismus vs. Bürgerrechtsliberalismus

Weil der Nationalliberalismus Geschichte ist und der Sozialliberalismus in der FDP jenseits der Rhetorik nie eine nennenswerte Rolle gespielt hat, lässt sich das Gegenüber von rechten und linken Strömungen in der Partei mit diesem Begriffspaar heute nicht mehr abbilden. Von entscheidender Bedeutung für den liberalen Markenkern ist stattdessen das Nebeneinander von Wirtschafts- und Bürgerrechts­liberalismus geworden. Gegensätze zwischen „rechten“ und „linken“ Positionen bestehen bei den Liberalen weniger innerhalb der beiden Strömungen als in der Frage, was Priorität haben soll. Für die Charakterisierung als rechts oder links ist hier das Gleichheitsverständnis maßgebend. Die Wirtschaftsliberalen gelten als „rechts“, weil sie soziale Ungleichheiten für legitim oder sogar wünschenswert halten, die Bürgerrechtsliberalen als „links“, weil sie emanzipatorische Grundwerte vertreten und sich für gleiche Rechte einsetzen.

Während der Sozialliberalismus auf dem ökonomischen Feld den linken Gegenpol zum (reinen) Marktwirtschaftsliberalismus markiert, stellt er auf dem Feld der Bür­gerrechtspolitik eine Voraussetzung dafür dar, dass sich formal gleiche Freiheiten auch materiell entfalten können. Dass dieser Zusammenhang von den linken Bürger­rechtsliberalen nie konsequent eingefordert worden ist, hat die Koexistenz der beiden Strömungen in der FDP gewiss erleichtert. Verschoben haben sich freilich die Ge­wichte. Bestand zu Zeiten der sozialliberalen Koalition zwischen Wirtschafts- und Bürgerrechtsliberalen ein annäherndes Patt, sahen sich die letzteren nach der Bonner Wende von 1982 zunehmend an den Rand gedrängt. Dies hatte für die FDP in doppelter Hinsicht ungute Folgen. Zum einen reduzierte es die Rolle der Liberalen in der Bürgerrechtspolitik auf die eines Korrektivs gegenüber den Unionsparteien. Die FDP geriet dadurch auch bei einem Teil ihrer eigenen Anhänger immer mehr in den Verdacht, eine „Dagegen-Partei“ zu sein , die vermeintlich notwendige Maßnahmen auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit blockierte oder verwässerte – ein Dilemma, das sich im Zuge der neuen terroristischen Bedrohungen nach den Anschlägen des 11. September 2001 und den daraus erwachsenden Sicherheitsbedürfnissen weiter verschärft hat.

Der antiquierte Rechtsstaatsliberalismus der FDP

Zum anderen – und damit verbunden – büßte die nurmehr defensiv agierende Partei ihre ehemals gestalterische Funktion in der Rechtspolitik ein. Die FDP musste zuschauen, wie sich die in den achtziger Jahren aufstrebenden Grünen der Bürgerrechtsthemen bemächtigten und diese mit neuen Akzenten versahen. Liberalisierungsmaßnahmen wie die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts oder die Besserstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften wurden von der Öko-Partei zusammen mit den Sozialdemo­kraten vorangetrieben und nicht mehr von der FDP, der hier im Verhältnis zur Union allenfalls eine nützliche Vermittlerrolle zukam. Die FDP verkannte auch, welche Chancen sich in dem Feld mit Blick auf die jüngeren Wählerkohorten auftun würden, die sie ja unter Guido Westerwelle besonders umwarb. Obwohl sie die Bedeutung des Internet in der Wahlkampfkommunikation früher entdeckt hatte als die anderen Parteien (einschließlich der Grünen), beschäftigte sie sich mit dessen gesellschaftspolitischen Impli­kationen, die ein Freiheitsthema ersten Ranges darstellten, kaum. Damit hat sie mit dazu beigetragen, die Nische für die neu entstandene Piratenpartei zu öffnen.

Eingeklemmt zwischen neuen Sicherheits- und anders gelagerten Freiheitsbe­dürf­nissen, wirkt der Bürgerrechtsliberalismus der FDP heute noch antiquierter als in den achtziger Jahren. „Die freidemokratischen Linksliberalen tun immer noch so, als gälte es, dem allgegenwärtigen Obrigkeitsstaat zu trotzen, das Individuum gegen den Zugriff der großen Institutionen, Apparate und kollektiven Regelwerke zu schützen. Aber die Individuen der postindustriellen Gesellschaft haben sich längst den Großorganisationen und reglementierenden Bindungen entzogen, durch Austritt, Abwahl, Auflösung, Scheidung, eben durch die Individualisierung. In der Single-Gesellschaft kommt die Bedrohung der Freiheit nicht mehr aus der gleichen Ecke wie im späten Kaiserreich“, diagnostizierten Peter Lösche und Franz Walter schon 1995, als sich die neuen Herausfor­derungen durch das Internet noch gar nicht abzeichneten. Viel geändert hat sich seither nicht. Die Erwartung, die FDP könne ihrer derzeitigen Krise durch eine Revitalisierung des Bürgerrechtsliberalismus begegnen, erscheint daher grundsätzlich verfehlt.

Dies gilt umso mehr, als die FDP ihr Renommee auch auf einem anderen Feld vollständig eingebüßt hat: der Außenpolitik. Dass der geborene Innenpolitiker Guido Westerwelle sich im Jahr 2009 für das Auswärtige Amt entschied, statt Fraktions­vor­sitzender zu bleiben oder das Finanzressort zu übernehmen, sollte sich als schwerer Fehler erweisen. Immerhin hatte er ja vier Jahre zuvor noch erwogen, auf den prestigeträchtigen Posten zugunsten des außenpolitisch versierteren Wolfgang Gerhardt zu verzichten. Nachdem die FDP unter Walter Scheel, Hans Dietrich Genscher und – eingeschränkt – Klaus Kinkel aus der Zuständigkeit für die Außenpolitik großen Nutzen gezogen hatte, gelang es Westerwelle zu keiner Zeit, einen vergleichbaren Bonus zu entwickeln. Für die falsche Entscheidung beim Libyen-Einsatz trägt er zwar nicht die alleinige Verantwortung; sie bleibt aber mit seinem Namen verbunden und dürfte somit auch auf die FDP negativ ausstrahlen.

Weil die Außenpolitik zur Profilierung genauso wenig taugt wie das Thema Bürgerrechte, kann die FDP ihre Krise nur dort überwinden, wo sie hauptsächlich verursacht worden ist: auf dem Feld der Wirtschaftspolitik. Die Liberalen sind hier geradewegs in die Populismusfalle getappt. Statt mit einer breiten Reformagenda zu werben, die die komplexen Zusammenhänge von Fiskal-, Sozial- und internationaler Finanzpolitik reflektiert und in ein positives, auch gesellschaftspolitisch unterfüttertes Gerechtigkeitskonzept übersetzt, haben sie sich ganz auf die Popularität ihrer Steuersenkungsvorschläge verlassen, die dem Wählerpublikum gebetsmühlenhaft präsentiert wurden. Als die Partei ihr Versprechen nach der Bundestagswahl klein­laut einkassieren musste, war der Absturz programmiert. Deshalb ist die Unter­scheidung zwischen dem angeblich guten Oppositionspolitiker Guido Wester­welle und dem schlechten Regierungspolitiker falsch. Auch wenn man der politikwissenschaftlichen Formel, wonach aus der Regierung abgewählte Parteien sich in der Opposition „regenerieren“, nicht allzu viel Bedeutung beimessen sollte, muss von einer Oppositionspartei erwartet werden, dass sie versucht, sich für die angestrebte Regierungsverantwortung intellektuell und programmatisch zu rüsten. Dies hat die FDP vor der Bundestagswahl nicht einmal ansatzweise vermocht.

Die wirtschaftspolitische Kompetenz der FDP ist dahin

In der Zurückgewinnung der wirtschaftspolitischen Kompetenz liegt mithin der wichtigste Schlüssel, um aus der derzeitigen Misere herauszukommen. Die Voraussetzung dafür ist nicht nur, dass die Partei ihre Fixierung auf das Steuerthema aufgibt – wozu sie durch die Regierungsbeteiligung ohnehin gezwungen ist – und sich in der Wirt­schafts- und Sozialpolitik breiter aufstellt. Sie muss auch Antworten darauf finden, dass die internationale Finanzkrise das Produkt einer ökonomischen Denkrichtung darstellt, die sie als Vertreterin neoliberaler Deregulierungs- und Entstaatlichungskonzepte selbst lautstark propagiert hat. Ob die Ablehnung einer Finanztransaktionssteuer eine solche Antwort ist, scheint fraglich. Und es ist auch nicht ganz nachvollziehbar, warum sich die Liberalen mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns so schwer tun, wo doch gerade die Fixierung einer solchen Lohnuntergrenze Voraussetzung dafür ist oder sein könnte, dass eine größere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt einkehrt. Nachdem die CDU ihre abwehrende Position beim Mindestlohn soeben geräumt hat, muss die FDP fürchten, in dieser für den Nachweis ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Kompetenz symbolträchtigen Frage genauso düpiert zu werden wie auf dem Feld der Steuerpolitik. Dass die CDU auf die Befindlichkeiten des Koalitionspartners inzwischen keine Rück­sicht mehr nimmt, macht es den Liberalen praktisch unmöglich, als Regierungs­partei noch irgendetwas zu gewinnen.

Natürlich könnte man dagegen einwenden, dass die Partei durch eine Abkehr von allzu marktliberalen Positionen ihre Alleinstellungsmerkmale und damit ihre potenzielle Attraktivität für bestimmte Wählergruppen einbüßt. Auch Positionen, die man selbst nicht teilt, sollten im Parteiensystem repräsentiert werden. Ebenso wenig ist der FDP vorzuwerfen, dass sie „Klientelpolitik“ betreibt. Der abwertend gemeinte Begriff verdeckt, dass alle Parteien, auch die Volksparteien, stets die Interessen bestimmter Gruppen favorisieren, wären sie doch als Parteien ansonsten gar nicht mehr unterscheidbar. Probleme entstehen allerdings, wenn die Klientelgruppen immer kleiner werden und die Alleinstellungsmerkmale zum schieren Selbstzweck geraten. Die Zeichen der Zeit zu erkennen, heißt eben nicht, dem Zeitgeist hinterherzulaufen. Dass die Westerwelle-FDP an ihrem neoliberalen Mantra auch nach Ausbruch der globalen Finanzkrise unbeirrt festhielt, hat sie ins Abseits gebracht. Aber ob sie umgekehrt gut beraten war, den nach der Fukushima-Katastrophe herbeigeführten raschen Atomausstieg mit demselben Eifer zu befördern wie die übrigen Parteien, ist zu bezweifeln. Gerade hier könnte sie eine Chance verpasst haben, sich durch eine ausgewogenere Konzeption von den Wendemanövern der Unionsparteien abzusetzen.              

Eine dezidiert anti-ökologische Partei

Der letzte Punkt führt unmittelbar zum Sozialliberalismus der Freiburger Thesen zurück. Dass die FDP ab 1969 den ersten Umweltminister in der Bundesrepublik gestellt hat – der Umweltschutz ressortierte damals in Genschers Innenministerium – ist weithin in Vergessenheit geraten. In den Freiburger Thesen zur Gesellschaftspolitik rangierte das Umweltthema gleichrangig neben den zu Beginn der siebziger Jahren stark diskutierten Fragen der Eigentumsordnung, Vermögensbildung und Mitbestim­mung, die unter dem Oberbegriff „Demokratisierung der Gesellschaft“ zusammenzufassen waren.  Vor allem auf diesen vier Gebieten sollten sich die praktischen Konsequenzen liberaler Gesell­schaftspolitik bewähren. Wie wenig daraus geworden ist, lässt sich vielleicht am deutlichsten an der Umweltpolitik aufzeigen. Übernahmen die Freide­mo­kraten mit den Freiburger Thesen auch programmatisch eine Vorreiterfunktion, so wurde ihnen die Umweltkompetenz später von den anderen Parteien, besonders von den Grünen, nahezu vollständig entwunden. Nicht nur, dass das Thema auf der Agenda der FDP weit nach unten rutschte. Indem der Umwelt­schutz primär als wirtschaftlicher Hemmschuh und als Wachstumshin­dernis betrachtet wurde, erweckten die Liberalen den Eindruck einer dezidiert anti-ökologischen Partei, den sie mitunter sogar lustvoll kultivierten. Symbol­haft markiert wurde dies beispielsweise durch die Rigorosität, mit der die FDP die von der rot-grünen Bundesregierung eingeführte Öko-Steuer ablehnte, obwohl diese ein ordnungspolitisch durchaus sinnvolles Instrument darstellte (dessen Rücknahme die Libe­ralen später nicht mehr erwogen).

Ähnlich schwer wiegen die Versäumnisse der FDP auf anderen Feldern der Sozial- und Gesellschaftspolitik. In einem Grundsatzbeitrag zur Programmdiskussion hat Generalsekretär Christian Lindner kürzlich noch einmal aufgeschrieben, was Libe­rale unter „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ verstehen sollten. Lindner betrachtet Frei­heit im Anschluss an Ralf Dahrendorf als Summe von Lebenschancen. „Frei ist derjenige, der zwischen möglichst vielen, wertvollen und realisierbaren Optionen für den eigenen Lebensweg wählen kann. Diese Freiheit bedarf für jeden Einzelnen einer materiellen Grundlage, aber genauso auch ideeller Voraussetzungen wie Toleranz, Bildung, Leistungsbereitschaft und Verantwortungsgefühl für sich wie andere. Hingegen ist nicht frei, wer Angst vor Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und Diskriminierung haben muss.“ Eine Gesellschaft ist laut Lindner gerecht, wenn sie über ihre Institutionen sicherstellt, dass jeder die Befähigungen erhalten kann, die notwendig sind, um Lebenschancen tatsächlich zu verwirklichen.

Das ist nichts anderes als ein Plädoyer für Startgerechtigkeit, für möglichst gleiche Chancen. Gerade weil Liberale den Leistungsgedanken betonen und deshalb nicht für Ergebnisgleichheit eintreten, müssen sie dafür Sorge tragen, dass alle Menschen vergleichbare Chancen haben, ihre Fähigkeiten auszubilden. Hier und nicht bei der nachträglichen Umverteilung liegt für Lindner die Hauptfunktion des sozialen Aus­gleichs. Dass der Staat dabei nicht die alleinige, aber doch eine wichtige Rolle spielt, wird in seinem Beitrag nur angedeutet. Das mag vielleicht damit zu tun haben, dass eine programmatische Konkretisierung in die Nähe sozialdemokratischer Überlegungen führen könnte, den bisher überwiegend nachsorgenden, fürsorglich alimentierenden Sozialstaat zu einem vorsorgenden, aktivierenden Sozialstaat umzubauen – immerhin wird der zuletzt genannte Begriff von Lindner ausdrücklich verwendet. Wichtiger dürfte aber auch hier die praktische Folgenlosigkeit des von Lindner postulierten liberalen Gerechtigkeitsbegriffs sein. Symptomatisch dafür ist die sträfliche Vernachlässigung des Bildungsthemas durch die FDP, das der Generalsekretär wohl nicht zufällig unter den „ideellen“ Voraus­setzun­gen der Freiheit verortet. Dabei handelt es sich beim Aufbau und der Pflege der Bildungsinfrastruktur um eine klassische Staatsaufgabe, die heute zugleich als integraler Teil der Sozialpolitik verstanden werden muss.

Den Geist des Sozialliberalismus neu beleben

So wie im Bereich des Umweltschutzes galt die FDP auch in der Bildungspolitik einmal als Pionier. An ihr stolzes Erbe aus den sechziger Jahren vermochte sie aber danach nie wieder anzuknüpfen – auch nicht zu sozialliberalen Regierungszeiten. Heute muss sich Deutschland von internationalen Organisationen wie der OECD vorhalten lassen, dass in keinem entwickelten Industrieland der Zusammen­hang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg so groß ist wie hier. Bei den Leistungsvergleichen landen wir allenfalls im Mittelfeld. Hinzu kommt, dass die Bildungspolitik bei uns lange Zeit ausschließlich als Schul- oder Hochschul­politik verstanden wurde. Wenn Deutschland bei der vorschulischen Kinderbe­treuung anderen Ländern immer noch weit hinterherhinkt, trifft die FDP daran genauso viel Schuld wie die Union. Denn in dieser Lebens­phase werden die Weichen für den späteren Bildungserfolg gestellt. Nicht von ungefähr weist die FDP gerade unter den weltoffenen und leistungsbereiten mittleren Jahrgängen in den urbanen Zentren eklatante Mobilisierungsdefizite auf, vor allem unter den gut ausgebildeten Frauen. Dass Philipp Rösler die neuen Bürgerlichen jetzt als Zielgruppe ausgemacht hat, ist richtig. Erfolg haben wird er damit aber nur, wenn sich das in der Politik der Liberalen niederschlägt: durch ein besseres, im Zweifel auch teureres Bildungs­system, durch bezahlbare Mieten in Innenstädten, durch flexiblere Lebensarbeits­zeitmodelle und durch eine Betreuungsinfrastruktur, die die Vereinbar­keit von Familie und Beruf ermöglicht. Dies würde auch Veränderungen in der Steuer­politik nach sich ziehen, wo die FDP sich beispielsweise für eine Reform des überkommenen Ehegattensplittings einsetzen könnte, statt immer nur Steuer­sen­kungen für alle zu fordern.

Den Geist des Sozialliberalismus neu zu beleben, scheint mir neben der Rück­gewinnung der Wirtschaftskompetenz die zweite große Herausforderung zu sein, vor der die Freien Demokraten heute stehen. Wenn die Partei sie programmatisch annimmt und das in der praktischen Politik nicht folgenlos bleibt, dann hat sie alle Chancen, als eigenständige liberale Kraft im deutschen Parteiensystem zu überleben. «

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