Nicht nur Geschichte

Anmerkungen aus Anlaß des aktuellen Preußenjubiläums

Es ist wieder so weit: Preußen hat Jubiläum, und die Medien sind voll davon. Vor dreihundert Jahren, am 18. Januar 1701, krönte sich der brandenburgische Kurfürst Friedrich III., Nachfolger des "Großen Kurfürsten" Friedrich Wilhelm, zum preußischen König. Zweifellos gibt es wichtigere Daten, wichtigere Epochenjahre der preußischen Geschichte, aber die öffentliche Sehnsucht nach Geschichtserinnerung in Form von "runden" Jubiläen ist groß. Immerhin: Die Königskrönung von 1701 läßt sich als symbolische Marke für den Übergang von der brandenburgischen Regionalmacht im Nordosten des damaligen Reiches zur Großmacht unter dem neuen Staatsnamen "Preußen" verstehen, die bald ins Zentrum Mitteleuropas vorstieß und später das neue Reich, das Kaiserreich von 1871, dominierte. Auch die Entwicklung Berlins ist damit eng verknüpft: Die unscheinbare Doppelstadt Kölln/Berlin wurde zur Residenzstadt, stieg im 18. Jahrhundert zur Großstadt und später zur Metropole auf. Das erste Preußenjubiläum nach der Wiedervereinigung und nach dem Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin könnte also durchaus Anlaß zum historischen und politischen Nachdenken bieten.

Doch anders als vor zwei Jahrzehnten, als sich zu Beginn der 1980er Jahre die DDR um eine politisch hochbrisante Aneignung des preußischen "Erbes" bemühte und in der Bundesrepublik ein Kampf zwischen Preußen-Kritik und Preußen-Nostalgie ausgefochten wurde, mutet die derzeitige Resonanz Preußens in der Öffentlichkeit oberflächlich, unpolitisch und seltsam bedeutungsleer an. Bunte Bilder verdrängen kritisches Räsonnement, der Streit um die Bedeutung Preußens für die deutsche Geschichte und Gegenwart ist zur Platitüde vom "zwiespältigen Erbe" - so der Preußen-Titel des Spiegel vor einigen Wochen - geronnen. Die Geschichte Preußens scheint auf dem besten Wege in die Folklore zu sein, ja, in die Verkitschung abzugleiten.

Das ist freilich nichts völlig Neues, sondern eine Tendenz, die schon seit längerer Zeit mit zunehmender Deutlichkeit erkennbar ist. Ist von Preußen die Rede, dann werden immer häufiger elegische Töne angestimmt. Bilder von Sanssouci und einsamer Pommerscher Alleen entstehen vor unseren Augen. Die Neigung zu einer Ästhetisierung des Preußen-Bildes, und damit auch zu seiner Entpolitisierung, ist unverkennbar. Man mag es ironisch nennen, daß dazu in einem breiteren Publikum ausgerechnet die erfolgreichen Bücher eines früheren kritischen Politikwissenschaftlers, nämlich Christian Graf von Krockow, ein gutes Stück beigetragen haben. Die stille Wehmut, bar jeder Aggressivität. Das verschwiegene Land, das verlorene Land - ohne Revanchegelüste, aber auch ohne sonstigen politischen Inhalt. Der pommersche Gänsebraten. Ein Garten Eden der Vergangenheit.1

Preußen verdampft in Nostalgie, und wo Preußen noch politisch wird, da geht es meistens nur um eine Politisierung, eine politische Inanspruchnahme dieser Nostalgie - wie in den Versuchen des Landes Brandenburg, und nicht zuletzt seines Ministerpräsidenten Manfred Stolpe, den Bewohnern des Landes durch preußische Erinnerung, durch Ikonen wie den preußischen Adler oder die preußischen Gärten zu neuer Identität zu verhelfen. Ach ja, da waren doch noch die häßlichen Seiten Preußens: der Obrigkeitsstaat, der Militarismus? Auch dieses Bild ist in den Medien zu einem Klischee erstarrt. Man spricht gerne von der Zwiespältigkeit, von dem "Janusgesicht" Preußens - womit dann gemeint ist: einem Preußen der "bösen" politischen Traditionen steht ein "gutes" ästhetisches Preußen gegenüber: das Preußen der Wissenschaften und Künste, der Gärten und der Universitäten. Aber so einfach geht die Gleichung nicht auf.

An dieser Situation sind die professionellen Historiker nicht ganz unschuldig; jedenfalls steht das populäre Preußenbild, wie es sich jetzt anläßlich des 300jährigen Thronjubiläums offenbart, in einem Zusammenhang mit fachwissenschaftlichen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte. Nachdem sich die Preußen-Glorie in der deutschen Geschichtswissenschaft auch nach dem Zweiten Weltkrieg und dem formellen Ende Preußens im Jahre 1947 zunächst, wenn auch teilweise in modifizierter Form, fortgesetzt hatte, setzte sich seit den 1960er Jahren immer mehr ein kritischer Blick auf preußische Geschichte und preußische Traditionen durch. Preußische Nationalhelden wie der Freiherr vom Stein wurden vom Sockel geholt, und die Grundlagen des preußischen Herrschafts- und Militärsystems in der ländlichen, von den "Junkern" geprägten Gesellschaft Ostelbiens kritisch durchleuchtet. Zuvor geringgeschätzte politische Traditionen außerhalb Preußens wie der süd- und westdeutsche Konstitutionalismus wurden endlich aufgewertet und konnten als Vorbilder des demokratischen deutschen Weststaates, der "alten Bundesrepublik", dienen. Inzwischen hat sich dieser preußenkritische Impuls der Historie teils abgenutzt, teils ist er selbstverständlich geworden. Und bis heute ist eigentlich nichts so richtig an seine Stelle getreten. Auch die pointiert kritischen Forschungsansätze rückten Preußen ja - nur gewissermaßen ins Negativ verkehrt - in den Mittelpunkt der jüngeren deutschen Geschichte. Inzwischen ist die preußische Geschichte gleichsam in ein tiefes Loch gefallen, sie ist ein ganzes Stück weit dem Vergessen und der Vergleichgültigung anheim gefallen. Da mag es kein Wunder sein, wenn die Medien nur noch auf Versatzstücke zurückgreifen.

Wenn denn schon vom "Vergessen" die Rede war - wäre es dann nicht das Beste, Preußen aus den öffentlichen, aus den politischen Debatten auszuklammern? Ist Preußen nur noch Geschichte, mit der unsere Gegenwart, die Gegenwart eines demokratischen Deutschland, einer zivilgesellschaftlichen Bundesrepublik lieber nichts mehr zu tun haben sollte? "Nur noch Geschichte" - so hat der Berliner Historiker Jürgen Kocka einen Artikel zum Preußenjubiläum in der tageszeitung überschrieben.2 Besonders im 19. und 20. Jahrhundert verweigerte sich Preußen immer stärker, so argumentiert Kocka, den Anforderungen an Demokratie und Parlamentarisierung, an bürgerliche Öffnung und freie gesellschaftliche Dynamik, bis sich die preußischen Traditionen schließlich 1933 mit dem nationalsozialistischen Regime symbolisch wie machtpolitisch verbündeten. Bei der Gründung der Bundesrepublik blieb das preußische Modell dann in weiter Distanz, und daran sei auch jetzt, von Berlin aus, nichts zu revidieren. Ganz ähnlich resümierte die Titelgeschichte im Spiegel: Von Preußen läßt sich "nichts lernen".3

Man wird dem nicht widersprechen können, was die kritische Bilanz preußischer Fehlentwicklungen zumal seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seit der Bismarckschen Reichsgründung von 1866/71 angeht. Aber geht die preußische Geschichte in konservativer Erstarrung und antidemokratischer Blockade, in autoritärer Gesellschaft und Wegbereitung der Diktatur auf? Und vor allem: Funktioniert das überhaupt - Preußen auf Geschichte zu reduzieren, als bloß noch geschichtlich wegzulegen und abzuhaken? Kockas Perspektive entspringt und entspricht der Erfahrung einer bestimmten Generation, der Generation des Gründungskonsenses der Bonner Republik. Für sie war die pointierte Distanz gegenüber Preußen Bestandteil des neuen, des demokratischen und westlichen Fundamentes, auf das Staat und Gesellschaft in Deutschland endlich gebaut werden sollten. An diesem Konsens hat sich auch für die Jüngeren, und auch von Berlin aus, nichts geändert, im Gegenteil, er ist selbstverständlich geworden; und das Fundament hat sich längst bewährt. Damit werden andere Perspektiven möglich, Perspektiven eines kritischen, aber auch unverkrampften Umgangs mit der preußischen Geschichte, in denen die Frage nach der Bedeutung Preußens für die gegenwärtige Politik und gegenwärtiges deutsches Selbstverständnis wieder eine Rolle spielen kann. Denn das "Nur noch Geschichte" droht, wenn der Erfahrungshintergrund der Nachkriegsgeneration verloren geht, zu einer ebenso unpolitischen Haltung zu werden wie sein vermeintliches Gegenteil, die Ästhetisierung Preußens.

Sollte man jetzt also "Pluspunkte" Preußens aufzählen, die jenseits von Schinkel und Humboldt auf ein genuin politisches Konto gebucht werden können? Das wäre zweifellos möglich, und man spräche dann über den Widerstand gegen Hitler zum Beispiel im Umfeld des "Kreisauer Kreises", über Otto Braun, den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Preußens, und überhaupt über das Preußen der Weimarer Republik, über die auffällige rechtsstaatliche Tradition Preußens im 19. Jahrhundert. Die Linie ließe sich noch weiter zurück in die Vergangenheit verlängern. Aber darauf oder auf ein billiges Verrechnen solcher Pluspunkte mit den Nachteilen oder gar Verbrechen Preußens kommt es im Grunde gar nicht an. Was zur Debatte steht, ist vielmehr die Gegenwärtigkeit Preußens in der deutschen Politik, im Staat der Bundesrepublik (und in vielen seiner Länder) und in unserer politischen Kultur als eine immer noch fortwirkende Geschichte, als eine - ob wir es wollen oder nicht - durchaus lebendige Traditionsschicht. Diese fortwirkende Geschichte gilt es gegenwärtig zu halten. Es geht also nicht um Vereinfachung und schon gar nicht um eine "Entsorgung" der preußischen Geschichte. Das Bild wird komplizierter werden, auch ambivalenter - aber jenseits der klischeehaften "Janusköpfigkeit".

Was ist mit diesem Fortwirken Preußens in der Bundesrepublik gemeint? Zum Beispiel die Kontinuitäten preußischer Staatlichkeit. Richtig, der Staat Preußen ist während des "Dritten Reiches" untergegangen und 1947 durch Beschluß der
Alliierten formell aufgehoben worden. Aber diese offensichtliche Zäsur darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß wichtige Bauelemente und Prinzipien des preußischen Staates in der Bundesrepublik bis heute fortbestehen, besonders markant in der Verwaltungsstruktur derjenigen Bundesländer, die aus der preußischen Erbmasse hervorgegangen sind wie Nordrhein-Westfalen. Und dahinter steht wesentlich mehr als Regierungsbezirke, Behördenaufbau oder Justizorganisation. Denn die Bundesrepublik ist überhaupt die Erbin des preußischen Rechts- und Verwaltungsstaates geworden. Die große Bedeutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der deutschen Rechtskultur, also der Klagemöglichkeit des einzelnen Bürgers gegen Entscheidungen des Staates, ist ein Ergebnis der preußischen Geschichte. Und im deutschen Selbstverständnis des "Rechtsstaats" vermischt sich die Geschichte der freiheitlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, die mit Hilfe von Grundrechten nach dem Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür strebten, auf durchaus zwiespältige Weise mit der preußischen Tradition staatlicher, obrigkeitlicher Rechtsgewährung zum "Schutze" der Untertanen und Staatsbürger. Wir mögen die erste Tradition, die man vom vormärzlichen Liberalismus bis in die sozialistische Arbeiterbewegung verfolgen kann, mehr schätzen - leugnen können wir die Wirksamkeit der anderen Linie aber nicht, und nur wenn wir sie uns bewußt machen, werden wir sie demokratisch umdeuten können.

Solche Beispiele für eine Gegenwärtigkeit Preußens, die komplizierter ist und nicht so leicht mit Händen zu greifen wie die Verkitschung von Sanssouci und Schinkel, ließen sich leicht vermehren. Dann müßte man auch vom preußisch-deutschen Sozialstaat und spezifischen Traditionen der preußischen Sozialreform sprechen, die sich in komplexen Institutionen wie der Sozialversicherung ebenso wie in politischen Denkmustern bis heute bewahrt haben und die Suche nach radikalen politischen Alternativen vielleicht erschweren. Man träfe überhaupt immer wieder auf ein fundamentales "preußisches Dilemma": nämlich die Spannung zwischen staatlicher Autorität und Zivilgesellschaft. Das ist eine Spannung, die letztlich in den Zwiespalt der preußischen Staatstradition selber zurückführt: zwischen obrigkeitlicher Bevormundung und sozialer Fürsorge, zwischen staatlicher Kontrolle des Bürgers, die abzulehnen heute leicht fällt, und staatlicher Regulierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die nicht zuletzt auf der politischen Linken, jedenfalls bis vor kurzem, ziemlich unumstritten ein hochgeschätztes Gut war. Denn Preußen hat auch seine einstigen Gegner, und nicht zuletzt die deutsche Sozialdemokratie, ganz entscheidend geprägt.

Es wäre also unklug, Preußen zu vergessen oder "nur noch Geschichte" sein zu lassen. Denn so absurd die Idee ist, Preußen in der Realität oder als pompöse Nostalgie wiedererstehen zu lassen, so unzweifelhaft "existiert" Preußen noch in Deutschland. Aber nicht nur hier: Territorial gesehen, liegt Preußen seit 1945 größtenteils in Polen, und die gemeinsame Aneignung der preußischen Geschichte wird deshalb ein zentrales Thema der deutsch-polnischen Beziehungen, gerade von einer Hauptstadt Berlin aus gesehen, sein. Sich Preußen auf neue Weise zu nähern, gleichermaßen fern von oberflächlicher Ästhetisierung wie von moralischer Verdammung, ist deshalb eine wichtige Aufgabe für die Geschichtswissenschaft ebenso wie für eine geschichtsbewußte Politik.

1 Vgl. Christian Graf von Krockow, Die Reise nach Pommern. Berichte aus einem verschwiegenen Land, Stuttgart 1985.
2 Jürgen Kocka, Nur noch Geschichte, in: die tageszeitung, 18.1.2001.
3 Der Spiegel, Nr. 4, 22.1.2001, S. 84.

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