Nationale Interessen

Weltpolitischer Aktionismus genügt nicht als Prinzip deutscher Außenpolitik

Im letzten Jahr wurde der deutsche Bundeskanzler zum "Weltstaatsmann" gekürt. "Vorschusslorbeeren", notierte der Spiegel, denn in der Tat ist Schröders außenpolitische Bilanz bislang eher übersichtlich. Ganz im Gegensatz zum allgegenwärtigen Gefasel über das Für und Wider der Globalisierung erscheint die deutsche Außenpolitik eher als eine neue Welle der Romantik.

Dabei ist selten zuvor die internationale Entwicklung so umfassend analysiert und zugleich stammtischgerecht aufbereitet worden wie derzeitig die Erkenntnis, dass die Globalisierung die Grenzen zwischen dem staatlichen Innen und Außen verwischt, falls sie die Trennung nicht schon ganz aufgehoben hat. Kein Land kann heute wirtschaftlich isoliert überleben. Auch sicherheitspolitisch gibt es kaum ein Entrinnen aus der neuen Weltgemeinschaft. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben nicht nur die regionalen Konflikte zugenommen, sondern auch das weltweite Engagement der Vereinten Nationen, der Nato und der Europäischen Union.

Deutschland hat die neue Ära, so scheint es, mit der Entscheidung zur Nato Beteiligung im Kosovo - Krieg eingeläutet. Die Übernahme von mehr außenpolitischer Verantwortung löste Aufatmen bei all jenen aus, denen schon lange klar war, dass sich die Bundesrepublik nicht bis ans Ende ihrer Tage hinter einem historisch überholten Grundgesetzartikel verschanzen könnte. Dass dieser Wandel gerade durch den ehemaligen Turnschuhpazifisten Joschka Fischer realisiert wurde, verlieh dem Ganzen den Anschein eines echten Neuanfangs.

Nach einigen pompösen Trompetenstößen ist die neue Musik allerdings wieder verstummt. Zwar herrscht an internationalen Krisenherden kein Mangel, doch abgesehen von der Zustimmung zu humanitären Aktionen tun sich die Deutschen schwer mit einer zeitgemäßen Einstellung zu "ihrer Außenpolitik."

Allein der "Weltstaatsmann" Gerhard Schröder hat glücklicherweise keine Probleme, über die nationalen Interessen Deutschlands zu sprechen. Als Newcomer im Fach hat er die Garde der Außenpolitiker damit bereits überholt. Zumindest verbal. Wenn der begriffsfreudige Kanzler seine Regierungszeit in den Annalen der Politikwissenschaft unter der Sparte "Kanzler
demokratie" gesichert haben möchte, braucht es allerdings mehr als nur ein Lippenbekenntnis, um die neue Rolle Deutschlands in der Weltpolitik zu bestimmen. Es fehlen die angemessenen Instrumentarien. Vor allem aber fehlt es in Parlament und Öffentlichkeit am rechten Willen, sich eine neue Rolle Deutschlands zuzutrauen.

Am augenfälligsten wird der Mangel, wenn man den bundesdeutschen Außenminister selbst betrachtet. Dieser hat - in guter deutscher Selbstzweiflertradition - noch immer "gesträubtes Nackenhaar" bei der Frage, was für ihn Deutschsein heißt. Ebenso verklemmt ist die Haltung des ranghöchsten bundesdeutschen Repräsentanten für Auswärtige Angelegenheiten, wenn er über sein Amt sinniert: "Wenn man als Außenminister spricht, spricht man zwar nach wie vor noch als Mensch, aber man spricht nicht mehr für sich, sondern man spricht für ein Land", ließ er jüngst die Öffentlichkeit durch ein Spiegel-Interview wissen. Ohne wortklauberisch wirken zu wollen: Ein deutscher Außenminister muss sich schon trauen, aus den Begriffen "ein" und "Land" zumindest "Deutschland" oder gar "mein Land" zu machen. Doch zu groß ist offenbar die Angst, zu tief die eingeübte politische Korrektheit, selbstverständliche Worte wie "mein Land" in den Mund zu nehmen.

Auch die Idee, dass Deutschland nationale Interessen hat, geht dem Außenminister, der zum Glück "stets Mensch bleibt", zu weit. Seine Formel vom "postnationalen Nationalstaat" muss selbst den willigsten Zuhörer irritieren. Wie national ist bitte ein postnationaler Staat, der immer noch Nationalstaat ist, ohne dabei national zu sein? Die dahinter stehende Absicht ist klar: Grundidee dieses Begriffsungeheuers ist ein überdehnter Multilateralismus, mit dem die unaussprechlichen nationalen Interessen auf Organisationen wie die EU oder die Vereinten Nationen übertragen werden sollen. Doch diese sind dafür nur bedingt tauglich. Während andere Länder die internationalen Organisationen nutzen, um ihre jeweiligen Interessen international zu artikulieren und nötigenfalls auch durchzusetzen, verheddert sich Deutschland schon bei der Formulierung seiner Interessen. Weil Deutschland die natürlichste Sache der Welt nicht tun mag, sucht es Zuflucht in eine Art weltpolitischen Altruismus. Unser nationales Interesse ist das europäische Interesse, lautete die Nachkriegsformel der deutschen Außenpolitik. Verlängert in die weite Welt, ist das Fiasko dieser Linie vorprogrammiert. Unser nationales Interesse ist das transatlantische Interesse, das gesamtrussische, afrikanische, asiatische?

Der Bundeskanzler hingegen fürchtet sich nicht, den vermeintlich negativ besetzten Begriff in den Mund zu nehmen. Wenn er von den nationalen Interessen Deutschlands spricht, dann meint Gerhard Schröder allerdings stets allein die wirtschaftlichen. Die lassen sich auch kurzfristig bestimmen und sind allemal leichter nach außen zu vertreten als das politische nationale Interesse. Eine kohärente Außenpolitik lässt sich auf ökonomischen Ad-hoc-Strategien jedoch nicht aufbauen.

Nationales Interesse, Nationalgefühl und Außenpolitik sind in Deutschland immer eng miteinander verbunden gewesen. Indem wir für Jahrzehnte jedem Nationalgefühl entsagt haben, schien es, als habe sich die bundesdeutsche Republik mit sich selbst arrangiert. Die deutsche Flagge löste nach wie vor ein Nichtgefühl aus, das Mitsingen der Nationalhymne blieb peinlich verpönt, und im Auslandsurlaub machten Deutsche lieber auf nichtdeutsch. Und dennoch: Eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit unserem nationalen Erbe war ein Kennzeichen der letzten Jahre der westdeutschen Bonner Republik.

Die Serie neofaschistischer Gewalt und Verbrechen hat diese Gelassenheit jäh beendet. Die "guten Deutschen" reagieren einmal mehr mit einer Selbstentsagung des Heimatgefühls. Das ist gut gemeint, aber faktisch führt es dazu, dass dieser Begriff und die mit ihm verbundene Gefühlswelt der rechten Szene überlassen wird. Aus heutiger Sicht muss man feststellen, dass der gesamte Ansatz, den Rechten die Begriffshoheit zu überlassen, ein Fehler ist.

Wie immer in der deutschen Geschichte, so leidet die Außenpolitik auch heute wieder unter dem Problem des (gestörten) Nationalbewusstseins. Manchmal sogar ganz anders als man denkt. Obwohl Deutschland seit der Wiedervereinigung die in alle Welt entsandten BRD- und DDR-Diplomaten unter einem Dach versammeln muß, haben wir nicht zu viele, sondern zu wenige Deutsche, die im Ausland arbeiten wollen. So muß die Bundesregierung heute nach Deutschen suchen, die in die Internationalen Organisationen entsandt werden können.

Auch bei den Auslandsprogrammen der Universitäten zeigen sich die deutschen Studierenden eher zurückhaltend. Die bestehenden Angebote werden zwar zu einem guten Teil wahrgenommen, wirklich harter Konkurrenzkampf tobt hier aber nicht. Wie kann dies sein, mag man sich fragen, wo doch internationale Erfahrung angeblich so wichtig und gefragt ist. Die Antwort ist einfach: Was für Großkonzerne richtig ist, stimmt leider nicht für den Staatsapparat. Auslandserfahrung macht sich in der deutschen Verwaltung nur bezahlt, wenn sie kurz ist. Zu lange Aufenthalte fernab der Heimat wirken nicht nur dubios, sie gelten schlichtweg als unerwünschte Abmeldung aus dem deutschen Dunstkreis. Mit der politischen Realität hat dieser Dünkel freilich wenig zu tun. Die Internationalisierung aller Bereiche von Wirtschaft und Politik, die fortschreitende EU-Integration sowie der Bedeutungszuwachs der Vereinten Nationen schreien geradezu nach internationalem Sachverstand in Deutschland. Der Mehrheit der Bundesbürger ist das ebenso wenig bewußt wie ihren Repräsentanten. Deutschland geriert sich am Beginn des 21. Jahrhunderts wie eine Insel inmitten der Globalisierung: Die Welt wird mit dem Fernglas besichtigt, und anschließend widmet sich der Deutsche wieder einer gefühligen Innerlichkeit - postnational versteht sich.

Ihrem Namen zur Ehre spiegeln des Volkes gewählte Vertreter das arg begrenzte Interesse an internationalen und außenpolitischen Fragen wider. Besonders augenfällig wird dies, schaut man auf die Bundestagsabgeordneten der jüngeren Politikgeneration, die unter 40jährigen. Als sogenanntes "Arbeitsparlament" spielt sich das wirkliche Leben des Bundestages nicht in dessen Plenarsaal ab, sondern in seinen zahlreichen Fachausschüssen. Will man feststellen, wie es um das außenpolitische Interesse der jungen Abgeordneten bestellt ist, lohnt ein Blick auf die strukturelle Zusammensetzung der "internationalen" Gremien des Parlamentes. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die bundesrepublikanische Demokratie durch ein enges Senioritäts- und Hierarchiegefüge gekennzeichnet ist, so dass die jungen Abgeordneten keineswegs automatisch und sofort als Hauptvertreter in den Ausschuss ihrer Wahl gelangen. Deshalb werden hier nicht nur die ordentlichen, sondern auch die stellvertretenden Ausschussmitglieder unter die Lupe genommen.

Auch wenn vielleicht nicht jede und jeder im Ausschuß seiner Wahl gelandet ist, ein Überblick macht deutlich: Die jüngere Abgeordnetengeneration hat mit Außenpolitik (fast) nichts im Sinn. Dies gilt übrigens parteiübergreifend, ist somit kein linkes oder rechtes Phänomen. Die fünf ständigen Ausschüsse, die zumindest teilweise mit Außen- bzw. internationaler Politik zu tun haben, sind: der Auswärtige Ausschuss, der Verteidigungsausschuss, der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Alle fünf Ausschüsse weisen eine deutliche Unterrepräsentation der Unter-40-jährigen auf. Genauer: In diesen fünf Ausschüssen ist nur ein knappes Zehntel jüngerer Abgeordneter anzutreffen. Über dieser Quote liegt lediglich der Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und, dank der CDU/CSU-Jungparlamentarier, die sich vermutlich als Angehörige der einstigen Europapartei CDU zumindest noch für die supranationale Ebene interessieren, der EU-Ausschuß.

Natürlich kann man solch einem empirischen Befund entgegenhalten, dass beispielsweise der Auswärtige Ausschuss als Prestigegremium der verdienten Parlamentarier über eine entsprechende Besetzung verfügt. Wirklich erklären kann dies das mangelnde außenpolitische Interesse der jungen Garde indes nicht. Denn betrachtet man deren relative Anteile in anderen Ausschüssen, wird die vorwiegend innenpolitische Ausrichtung der Jungparlamentarierinnen und -parlamentarier erst richtig deutlich: So finden sich im Innenausschuß über ein Viertel Unter-40-jährige, gleiches gilt für den Familienausschuss. Noch deutlicher wird das Bild im Rechts- und im
Bildungsausschuß. Dort tummeln sich gar zu einem Drittel Jungspunde.

Rentenreform und Steuerpolitik mögen spannende Felder sein, aber gerade die deutsche Außenpolitik ist auf die jüngere, etwas gelassenere Generation angewiesen. Auf jene, die beim Wort Heimat nicht gleich in bedenkenvolles Angststottern verfallen. Auf jene, die auf pragmatische Weise nationale und internationale Verantwortung zugleich wahrnehmen können. Tritt diese Generation nicht langsam aus dem Schatten des bundesdeutschen Gartenzaunes, dann begeht sie einen historischen Fehler. Derzeit werden wichtige Felder der Außen- und Entwicklungspolitik denen überlassen, die sich diesem Thema schon jahrzehntelang und mit der immergleichen Betroffenheit gewidmet haben.

Es sind stets dieselben Abgeordneten, die an die aktuell bedrückenden Orte der Weltgeschichte fahren, um dort ihre Solidaritätsadressen fotografieren zu lassen. Früher war es das Muroroa-Atoll, heute sind es Osttimor oder Südvietnam. Alle Problemregionen sind wichtig. Keine Frage. Was aber fehlt, ist eine langfristige, nicht durch die modische Kurzzeitbetroffenheit gesteuerte außenpolitische Strategie.

Damit auch Deutschland zu einer solchen Außenpolitik fähig wird, braucht es neue Expertinnen und Experten, die bereit sind, bestimmte Regionen zu bereisen und zu verstehen, um von den Eliten vor Ort auch längerfristig als deutsche Interessenpartner wahrgenommen werden zu können. Am besten wären diese neuen Experten junge Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Gern Sozialdemokraten. Denn der Wert Solidarität hat für die SPD immer schon eine internationale Dimension gehabt. Nicht nur aus Mitgefühl, sondern geleitet durch ein wohltemperiertes nationales deutsches Interesse: durch das Interesse an anderen Ländern, die mit Deutschland Partner einer internationalen Wertegemeinschaft sind oder werden können. Und das Interesse an wirtschaftlicher Zusammenarbeit.

Auch wenn der Außenminister den Postnationalismus als allein selig machend verkauft. Ein Blick auf die Realität offenbart, dass wir es im Rest der Welt mit Nationalstaaten zu tun haben. Auch in Europa. Wer seine außenpolitischen Ziele in internationalen Organisationen oder gar einer größeren Europäischen Staatengemeinschaft aufgehen lassen will, muss umso mehr das Interesse der eigenen Nation beschreiben können, will er die legitimierende Zustimmung der Bevölkerung nicht verlieren.

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