Mut, Verwegenheit und kühner Reformismus

Der Machiavellist Schröder hat die SPD mit Härte auf Macht getrimmt - und sie an der Macht gehalten. Doch wenn die Partei eine Zukunft haben soll, sind jetzt Scharfsinn und Ideen nötig. Ein Appell an die junge Generation der Sozialdemokratie

Spannend war das Rennen am 22. September, denkbar knapp sein Ausgang. Und überraschend. Dass eine Koalitionsregierung in schwierigen Zeiten nach vier Jahren nur 0,4 Prozentpunkte einbüßt, ist im Europa dieser Jahre selten genug. Derzeit werden Regierungen eher schnell, erbarmungslos und unsentimental abgelöst. Insofern fällt das Ergebnis der deutschen Bundestagswahlen nahezu aus dem Rahmen.


Aus dem historischen Rahmen einer langen und nicht immer glücklichen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie fällt ebenfalls, dass die SPD als Regierungspartei zweimal hintereinander stärkste Fraktion wurde. Das ist ein tiefere Zäsur, als die meisten Kommentatoren bislang bemerkt haben. Es dürfte das Selbstwertgefühl des deutschen Bürgertums und seiner Hauptpartei erheblich treffen. Schließlich war die christliche Union über Jahrzehn-te hinweg ganz selbstverständlich Partei des Erfolges, Partei der Macht, Partei von Mitte und Mehrheit - bestimmende Repräsentantin der Nation. Den Sozialdemokraten blieb demgegenüber lange allein die aschenputtelige Rolle der redlichen, ehrlichen, aufrechten, programmgenauen, aber ganz erfolglosen, da in allen Fragen der Macht zu skrupelhaften und kleinmütigen Opposition. Die Sozialdemokraten schienen für das Regieren nicht zu taugen, schienen nie den Eros der Macht zu spüren oder gar zu genießen.


Damit ist es vorbei. Im Grunde ist das die historisch größte Leistung Gerhard Schröders. Die Sozialdemokraten haben sich erst daran gewöhnen müssen, aber mit seiner instinktsicheren Härte, seiner skrupellosen Wendigkeit und machiavellistischen Verwegenheit hat Schröder die SPD an die Macht getrimmt und dort gehalten wie einst nur Herbert Wehner. Und Schröder hat damit das deutsche Altbürgertum, das die biedersinnigen Sozialdemokraten nie recht erst nahm, tief verunsichert und nachhaltig beeindruckt. Es war gerade diese spezifische Fortune des Kanzlers, am Ende eines langen Wahlabend in einer fast schon aussichtslosen Partie mit 8800 Stimmen die Nase vorn zu haben, die das sichere Selbstbewusstsein der Union - der chronische und legitime Sieger in allen Machtspielchen der Republik zu sein - auf lange Zeit hin getroffen habe dürfte. In den nächsten Jahren werden christdemokratische Politiker bei Umfragen oft weit vorn liegen - aber sie werden bis zur letzten Sekunde an sich und ihrem Erfolg tief zweifeln. Wie gesagt: Das war viele Jahrzehnte lang ganz anders. Wir erleben insofern eine veritable Zäsur der politischen Machtmentalität in der deutschen Republik. Dafür darf man Gerhard Schröder getrost bewundern, der doch von anderem Kaliber ist als die zweifellos ehrenhaften, aber zu zögerlichen und machtängstlichen Parteichefs von einst, ob sie nun Otto Wels hießen, Erich Ollenhauer oder Hans-Jochen Vogel - von einigen anderen ganz zu schweigen

Zweite Legislaturperioden sind nie schön

Rot-Grün also zum Zweiten. Leicht wird es nicht werden. Das ist nach der Bundestagswahl oft genug gesagt worden. Und es ist stimmt. Die Union ist nicht mehr im desaströsen Zustand der Jahre 2000 und 2001, als sie schwer geschockt wankte und schwankte, als ihre neuen Leute an der Spitze der Partei das politische Führungshandwerk noch erst zu lernen hatten. Man wird sie bei künftigen Bundesratsmanövern nicht mehr so leicht über den Tisch ziehen können. Überhaupt: Die zweiten Legislaturperioden sind für alle Regierungskoalitionen immer unschöne Jahre. Der Schwung und Reiz, das Pathos des Anfangs sind vorbei. Das Depot an Gemeinsamkeiten, das die Parteien ursprünglich zusammengeführt hatte, ist am Ende der ersten Legislaturperiode meist schon aufgebraucht. Es bleibt dann oft nur das, was im ersten Versuch nicht recht ging, weil die Widerstände zu groß, die Feinde zu viele, die Gegner zu mächtig, die eigenen Freunde zu verzagt oder gleichgültig waren. Deshalb tut man sich in den zweiten Legislaturperioden mit den zurückgestellten, oft ungeliebten Projekten erst recht schwer, da einiges Personal bereits verschlissen, etliche konzeptionelle Energie schon erloschen ist.


Überdies werden die schlauen und ehrgeizigen Köpfe aus der zweiten Garnitur der Regierungsfraktionen die Witterung für eine Konstellation jenseits des gegenwärtigen Regierungsbündnisses aufnehmen. Die Grünen nach Fischer werden mit den Schwarzen nach Stoiber gerne ab und an ein paar Flaschen Wein leeren und einige Pizzas verzehren. Man wird sich näher kommen, das eine oder andere verabreden. Und bei den Sozialdemokraten werden einige der jungen Leute hin und wieder zusammen mit den Netteren unter den sonst kaum goutierbaren jungen Freidemokraten im Neumeyerschen Onyx am Prenzlauer Berg ein paar Cocktails trinken, derweil der Kanzler von Zeit zu Zeit vertrauten Journalisten großkoalitionäre Erwägungen zuraunen dürfte. So wird es wohl kommen. Und das ist auch ganz richtig so. Es ist das Salz in der Suppe ehrgeiziger Parlamentarier, die nach Spielräumen suchen, neue Bewegungsräume schaffen müssen. Eher war es ein irritierendes Defizit der vergangenen Jahren, ein Mangel an Kreativität und Verwegenheit, dass die politische Eliten übervorsichtig in ihren Lagern verharrten, nicht neu sondierten - oder gar neu sortierten, was sich gesellschaftlich und sozialkulturell zumindest an einige Stellen schon neu zu fügen begann.

Ganz einfach wird es für die Jungen nicht

So sind wir also bei den politischen Eliten, bei den Parlamentariern, deren junger sozialdemokratischer Teil die Berliner Republik herausgibt. Es wird viel auf sie ankommen für die Zukunft der Sozialdemokratie Aber sie werden es nicht einfach haben. Denn die Regierungsmehrheit ist knapp. Das ist für den Kanzler durchaus kein Nachteil. Denn knappe Mehrheiten disziplinieren - auch das ist nach der Wahl oft gesagt worden, gerade von den "bewährten Fuhrmännern" der Sozialdemokratie. So ist es. Und eben das ist das Problem. Denn natürlich werden der Kanzler, sein Fraktionschef und die Parlamentarischen Geschäftsführer auf unbedingte Geschlossenheit dringen, auf straffe Zentralisierung, auf möglichst widerspruchslosen Ge-horsam. Es wird noch schwieriger, Gegenpositio-nen einzunehmen, Eigensinn zu zeigen, abweichende Pfade einzuschlagen. Indes: Kreative Eliten müssen gerade solche Wege gehen - jedenfalls von Fall zu Fall. Sie müssen auch große Kontroversen und Kräche austragen und aushalten, müssen sich vom Mainstream unterscheiden, zuweilen auch einsam und bedrückend isoliert dastehen, sich in einigen Fragen neu exponieren und profilieren, selbst wenn der Rest der Mannschaft und der oberste Gruppenführer vor Empörung schäumen.

Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die rot-grünen Schlachtrösser der vergangenen Jahre, die Herren Schily, Fischer und Schröder, als störrische Rebellen nach oben kamen, am Ende vieler Kabalen, Undiszipliniertheiten und Eigenwilligkeiten. Nicht Ein- und Unterordnung, berechenbare Subordination und verlässliche Gleichförmigkeit kennzeichnen ihre Karrieren. Ein bisschen Mut und Verwegenheit sollten junge sozialdemokratische Abgeordnete daher trotz knapper Regierungsmehrheit in den nächsten Jahren schon zeigen. Denn ohne Mut und Verwegenheit werden sie, nun ja, die Sozialdemokratie und die Regierung der Republik im Berliner Haifischbecken in zehn Jahren eben nicht führen können.

Wozu eigentlich noch das Parlament?

Nochmals: Einfach wird das alles nicht. Denn gerade die hochmoderne Mediengesellschaft fördert einen neoautoritären Zug in der Politik. Parteien und Fraktionen müssen heute strikt geschlossen agieren, alle Kontroversen und Zwistigkeiten eliminieren. Sonst gelten sie in der schrillen Kommentarlage von RTL bis zur Süddeutschen als chaotisch, zerstritten, nicht regierungsfähig. Deshalb verstummen Parteien und Fraktionen. Das wiederum beschleunigt aber ihren Bedeutungsverlust, mindert den Respekt, den sie bei den Wahlbürgern genießen. Denn interessant, gar spannend und fesselnd ist die politische Debatte an ihrem ursprünglich dafür vorgesehenen Orten nicht mehr. Die von oben kujonierten Abgeordneten verziehen sich - in einem bis zur Ära Schmidt unbekannten Ausmaß - in die Detailarbeit ihrer Ausschüsse; an den großen Kontroversen der Republik beteiligen sie sich kaum noch. Die fulminanten, mitreißenden, hoch erregten Feldschlachten im Parlament um die Kernfragen der Nation fallen aus oder werden als "Sachgespräche" in die verschlossene Kleinräumigkeit expertokratisch zusammengesetzter Kommissionen verlegt. Doch "eine Demokratie ohne Redekunst ist im Verdorren", wusste schon der große Verfassungspatriot Dolf Sternberger. "Wie sollen die Leute an politische Entscheidungen teilnehmen können, wenn die Politiker nicht beredt sind? Ein Parlament aus Spezialisten wäre am Ende nichts als eine Nachahmung der Bürokratie."


Es geht um nicht weniger als um die auch künftige Legitimität der parlamentarischen Demokratie. Denn so selbstverständlich ist die nicht. Moderne Kooperationsdemokratien werden immer mehr zu Verhandlungsdemokratien. Deren Absprachen aber finden immer mehr in intransparenten Räumen jenseits des Parlaments und seiner Kontrollmöglichkeiten statt. So sollten dann zumindest die Voraussetzungen und Ergebnisse der verhandlungsdemokratischen Arrangements wieder in die offene, harte und intellektuell angemessen inspirierte Debatte im parlamentarischen Raum hinein verlagert werden. Sonst werden irgendwann nicht nur die Verdrossenen und Frustrierten am Rand, sondern auch kluge, reflexive und partizipationsorientierte Menschen in der Mitte der Republik fragen, wozu man das Parlament denn eigentlich noch brauche.

Irgendetwas ist ins Rutschen gekommen

Wahrscheinlich ist diese skeptische Frage nach der Legitimität und Wirksamkeit der parlamentarischen Demokratie in naher Zukunft sogar unvermeidlich. Denn irgendetwas ist in der Tat ins Rutschen gekommen. Gelungene parlamentarische Demokratien lösten in ihrer Entstehungeschichte Aufruhr, Revolten und Revolutionen, den Einsatz von Gewalt als Mittel politischer Veränderungen ab. In funktionsfähigen parlamentarischen Demokratien war Gewalt nicht mehr nötig, vor allem nicht mehr legitim. Schließlich hatten die Staatsbürger mit der Demokratie wirksame Instrumente zu Verfügung, um Einfluss zu nehmen, Kontrolle auszuüben, den Wandel friedlich zu vollziehen: das Stimmrecht, repräsentativ zusammengesetzte Vertretungskörperschaften, durch Mehrheitsbeschluss gebildete Regierungen. Doch seit einem oder zwei Jahrzehnten entziehen sich - wie wir alle wissen, aber kaum jemals auf die Konsequenzen hin gründlich zu Ende diskutieren - mehr und mehr Weichenstellung der Ökonomie und der Ökologie dem nationalen Raum und daher den Festsetzungs-, Interventions- und Kontrollmöglichkeiten der Parlamente. Wesentliche Entscheidungen, die die nationalen Gesellschaften in ihren Auswirkungen treffen, tief prägen und weitreichend durchpflügen, fallen nicht mehr im Berliner Reichstag, auch nicht in den Parlamenten (oder Regierungen) in Paris, Rom, London, Moskau, Washington.


Irgendwann - man kann da sehr sicher sein - werden junge Menschen in jungen Bewegungen die Frage nach der Legitimität von Mitteln jenseits der Verfahrensregeln einer unzuständig gewordenen parlamentarischen Demokratie neu aufwerfen - und dies dann gewiss mit größerem Recht als die exaltierten Stoßtrupps der 1970er Jahre. Gerade deshalb kommt es darauf an, dass sich junge sozialdemokratische Parlamentarier nicht pausbäckig mit der politischen Entleerung des Parlamentarismus abfinden, sondern mit einiger, auch aggressiver Energie den parlamentarischen Raum erweitern, den parlamentarischen Ort der Kontrolle, Entscheidung und - keineswegs zuletzt - der offenen Kontroverse dehnen, weiten, strecken. Wir alle lieben ja Franz Müntefering - aber nicht immerzu muss der Helm enger geschnallt, muss zackig in Reih und Glied marschiert werden, wenn der "Zuchtmeister" das künftig verlangt.


Gleichwohl: Es wird in den nächsten vier Jahren viel von Disziplin die Rede sein. Von Geschlossenheit. Vom Dem-Kanzler-den-Rücken-Freihalten. Von neuen Räumen für Disput und Partizipation wird man weniger gern reden, wird das bei den harten Politprofis gewiss sowieso als verblasenen Idealismus abtun. Dabei basiert Rot-Grün, basiert auch die neuerliche Mehrheit von 2002 auf dieser Kollektiverfahrung von Disput und Partizipation - allerdings zurückliegender Jahre. Als Rot-Grün im Sommer dieses Wahljahres schon fast darniederlag, aktivierten sich noch einmal die Kraftpotentiale und kulturellen Mentalitäten der siebziger und frühen achtziger Jahre. Man hatte geradezu ein Déjà-vu-Erlebnis, als die verschiedenen rot-grünen Unterstützerkreise aus Sport, Kultur, Unterhaltung und Wissenschaft im August und September ihre Anzeigen schalteten - fast alles Leute, die schon 1972 für Willy gekämpft und 1980 Strauß gestoppt hatten, von Lothar Emmerich bis Jürgen Habermas, von Wolfgang Völz bis Günter Grass, von Katja Epstein bis Walter Jens, von Ilja Richter bis Ulrich Beck, von Senta Berger bis Johann Baptist Metz, von Marius Müller-Westernhagen bis Peter Schneider. Und immer so weiter.

Das Siebziger-Revival im Wahlkampf

Ein Revival der siebziger Jahre fand da statt. Und das gerade war es ja, was die schon müden Heerscharen der ersten bundesrepublikanischen Partizipationsgeneration rund sechs Wochen vor der Wahl ganz urplötzlich reaktivierte. Schröder war vielleicht nicht ihr Held, doch Stoiber war eindeutig der Feind. Die Partizipationsgeneration von einst machte nach längerer Auszeit wenigstens ein paar Wochen lang wieder mit, verteidigte dabei trotzig die eigene politische Sozialisation, Wertewelt und Kultur gegen die vermeintlich drohende Gefahr der "Schwarzen". Das war im Übrigen der im Grunde konservative Mentalitätskern des Wahlsieges von Rot-Grün von 2002. Eine neue Mitte, ein neues Establishment der linkslibertären Küsschen-auf-die-Wange-Geber sah die eigenen Lebensformen, die eigenen kulturellen Errungenschaften durch den "reaktionären Bayern" bedroht - und schlug im letzten Moment nach einer lange währenden Phase ästhetisierend-nörgelnder Reserve heftig zurück. Derweil blieben tief im Westen der Republik diejenigen, die es sozial nicht in die grünrote Neuemittelschichtschickeria geschafft hatten, in keineswegs unerheblichen Teilen den Urnen fern - oder konvertierten zur Union.


So schöpfte Rot-Grün in den dramatischen Schlusswochen des Wahlkampfes noch einmal bemerkenswert erfolgreich aus alten Quellen. Rot-Grün remobilisierte die (neuakademische) Beteiligungskohorte der sozialliberalen Jahre. Aber man wird nicht für alle Zeit aus alten Depots zehren können. Ein paar neue Vorräte müssen schon angelegt, einige Bewegungs- und Energiequellen neu erschlossen werden. Insofern haben sich junge Sozialdemokraten einer neuen Generation auch um neue Beteiligungsformen zu kümmern. Denn nur aktive Beteiligung am Politischen bindet und prägt über den Tag hinaus. Potential und Kompetenz dafür gibt es, wie Partizipationsforscher mit eindrucksvollen Belegen zu betonen nicht müde werden, in der Gesellschaft genug, aber die Politik vermeidet es seit gut zwanzig Jahren, dieses Potential ernsthaft institutionell - mit neuen Räumen, neuen Formen und natürlich auch neuen Risiken - einzubeziehen. Das ist auch bei den Sozialdemokraten nicht anders. Hier hatten all die Netzwerke, die in den letzten Jahren bundesgeschäftsmäßig ausgerufen worden sind, ganz überwiegend die Funktion, medialen Wirbel auszulösen, nicht aber schwierige, konfliktreiche, schwer steuerbare Beteiligungsstrukturen dauerhaft zu etablieren und in die Meinungsbildungsprozesse der Partei einzufügen. Doch wenn Menschen sich nicht beteiligen, obwohl sie dazu von Kompetenz und Intellektualität in der Lage wären, verlegen sie sich auf schlecht gelaunte Nörgelei, auf zynische oder resignative Distanz. Dann wird das rot-grüne Vorfeld mit der Zeit verdorren.

Ohne Sinn ist alles nichts

Natürlich: Menschen beteiligen sich nur, wenn sie darin einen Sinn sehen, wenn ihre Aktivitäten einen Sinn ergeben. Sinn ist der Ausgangspunkt und Antriebsstoff für Engagement, Anstrengungen, Zuwendung, ja für Selbstlosigkeit und Solidarität. Früher haben das die Parteien sehr genau gewusst, haben daher ihren Sinn- und Überzeugungskern außerordentlich pfleglich behandelt. Heute sind es bemerkenswerterweise eher privatwirtschaftlich tätige Markt- und Zukunftsforschungsinstitute, die auf die - im Übrigen sogar noch gewachsene - Bedeutung von Sinn hinweisen. Modernen Gesellschaften verschlingen und verbrauchen die traditionellen Sinnreserven, doch zugleich wächst gerade in ihnen aufgrund ihrer rhapsodischen und fragmentarischen Sozialbeziehungen der Bedarf nach Sinn und Identität. Allein, die Parteien die das alles - nochmals - schon einmal sehr genau wussten, gehen heute mit der Sinnfrage ganz nonchalant und schnoddrig um, die Sozialdemokraten keineswegs zuletzt. In den Parteien dröhnen und dominieren die Nur-Pragmatiker, auch da stehen die Sozialdemokraten nicht hinten an.


Eben das hätte sie 2002 um ein Haar die Macht gekostet. Weil die modernen sozialdemokratischen Pragmatiker über eine eindeutige Sinnperspektive ihres Tuns nicht verfügen, wechselten sie im 14-Tage-Turnus ihre Formeln, Parolen und Metaphern. Monatelang waren die eigenen Anhänger verwirrt und deaktiviert. Das Plakat- und Spotmarketing der sinnentleerten Pragmatiker mag "professionell" gewesen sein, aber Richtung und Begründung, Perspektiven, Ziel und Zukunftsbild der eigenen Politik blieben unklar. Auch der Kanzler half da nicht weiter. Er ist ein begnadeter Situationist, der Gelegenheiten früh, vor allem: früher als andere wittert und beherzt nutzt - einen Begründungsbogen über seine pointilistische Politik spannen oder Sinnperspektiven darüber wölben kann er hingegen nicht. So griff er dann gut zwei Monate vor dem Wahltag in die alten Sinntöpfe, spielte auf der Klaviatur traditionsreicher sozialdemokratischer Friedenssehnsüchte und sozialer Gerechtigkeitsgefühle. Erst dadurch transferierten sich seine demoskopische Popularitätswerte in sozialdemokratische Zustimmungsraten und bauten schließlich die Kanzlermehrheit auf.

Ewig wird es nicht mehr so weitergehen

Doch ewig wird das Spiel so nicht weitergehen. Ewig werden die sinnentleerten Neopragmatiker des sozialdemokratischen Managements nicht in Notsituationen auf die sonst verachteten Sinnreserven der sonst verachteten alten Sozialdemokratie zurückgreifen können. Die überlieferten Sinnströme versiegen einfach mit der Zeit. Man wird also - und auch hier sind die jungen Sozialdemokraten gefordert - über neue Muster von Sinn und Identitäten nachdenken müssen, die die eigenen Anhänger überzeugen und in Bewegung setzen können. Man wird es sich jedenfalls nicht mehr gefallen lassen dürfen, dass sozialdemokratische Programmdebatten kühl von oben herab für ein ganzes Wahljahr ausgesetzt werden, wie es der Kanzler auf dem Parteitag 2001 widerspruchslos dekretiert hat. Die Grünen, wenngleich ebenfalls keine allzu diskursive Partei mehr, haben es schließlich anders gemacht, haben zu Beginn des Wahljahres ihr neues Programm öffentlich diskutiert und am Ende verabschiedet. Geschadet hat ihnen das bekanntlich nicht. Es ist immer das gleiche Problem: Die Sozialdemokraten fürchten seit den neunziger Jahren die Kontroverse, den Streit, den großen Konflikt. Dabei würde das offenkundig erwartete Chaos sowieso nicht ausbrechen, weil die Energie und Leidenschaft für die furiose innerparteiliche Auseinandersetzungen in der SPD längst fehlen.

Heraus aus Ödnis und Erstarrung

Im übrigen aber: Konflikte bergen und produzieren stets das Sozial- und Normenkapital von morgen, binden und prägen Beteiligte und Mitwirkende auch über lange Zeiträume. Zur Zeit jedoch lebt die Sozialdemokratie ganz überwiegend aus dem Normenkapital, aus den Loyalitäten und Bindungsbezügen der Vergangenheit, aus der Konfliktära des Sozialliberalismus. Will sie auch in 12 Jahren noch erfolgreich Wahlkämpfe führen, dann wird sie heute durch eine gewiss nicht ganz einfache Phase der Dispute, der Partizipation und der Sinnerneuerung hindurchgehen müssen.


Es gibt schon merkwürdige Ungleichzeitigkeiten. Vor gut dreißig Jahren reideologisierte sich die Republik - eigentlich ganz ohne vernünftigen Grund. Denn die Gesellschaft war ohnehin bereits im Fluss, war schon vor den außerparlamentarischen Bewegtheiten gut vorangekommen auf dem Weg zu mehr Toleranz und Liberalität, Vielfalt, Offenheit und sozialer Emanzipation. Heute dagegen gehört es zum guten Ton, Pragmatiker zu sein, über Visionen ironisch zu reden, über Programme Witzchen zu machen, Verächter von radikalen Entwürfen und fundamentalistischen Einstellungen zu sein. Doch im Unterschied zu den siebziger Jahren sind die Probleme der Gesellschaft inzwischen in der Tat fundamental, dramatisch, von historischem Ausmaß.

Kein Situationist und Nur-Pragmatiker ohne Perspektive und Prioritäten wird sie lösen können. Deshalb wäre es gegenwärtig nicht schlecht, wenn ein entschlossener Führungsnachwuchs den selbstgenügsamen und ziellosen Pragmatismus hinter sich ließe und die radikale Leidenschaft, unerbittliche Konsequenz und konzeptionelle Zielorientierung aufbrächte, die man braucht, um die bislang sedierten Stimmbürger aufzurütteln und von einem schwierigen politischen Weg zu überzeugen. Gewiss, aus dem ideologischen Überschwang der 1970er Jahre konnte nur ein vernünftiger, nüchterner Pragmatiker herausführen. Doch um aus der Ödnis und Erstarrung des zielentleerten Pragmatismus wieder herauszukommen, brauchen wir es heute wieder ein paar Politiker mit Phantasie und analytischer Schärfe, mit weitem Zukunftsblick, kühnem Mut und reformerischer Radikalität. Wir werden sehen, ob es diesen Typus in der Nach-Schröder-Generation gibt. Wenn nicht, dann wird es in der Tat schwierig für die Sozialdemokratie in Deutschland.

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