Mut, Ehrlichkeit und Fortschritt



Ja, es treten junge Menschen ein in die SPD. Zu Dutzenden sogar. Warum? Weil die SPD irgendwie links ist und links sein irgendwie richtig. Das bezeugen schon die Selbstzuordnungen der Mitglieder des Online-Netzwerks „studiVZ“: Niemand bezeichnet sich dort selbst als „rechts“. Die SPD blickt auf eine große Geschichte zurück, sie steht historisch wie niemand sonst für soziale Gerechtigkeit und fortschrittliches Denken. Doch schon kommt das Aber: Die heutige SPD löst diese Erwartungen nicht ein. Statt pointierter Debatten merkwürdige Trägheit. Statt konkretem Einsatz für benachteiligte Gruppen ideologische Stellungskriege. Statt Zuversicht und Visionen Pessimismus und Nostalgie. Statt Fortschrittsversprechen Verteidigungshaltung. Und statt klarer Konzepte undurchsichtiges Hin und Her, schlimmer noch: Vor und Zurück. Deshalb treten zu wenig junge Menschen ein in die SPD. Sie bräuchte sie zu Hunderten.

Wo sind die Bilder einer besseren Welt?

Zu wenig Diskussion in der SPD? Das mutet widersinnig an, geradezu als contradictio in terminis. Und dennoch, eine ehrliche Auseinandersetzung über die Ziele und Mittel sozialdemokratischer Politik findet heute tatsächlich kaum statt. Die Debatte über das Grundsatzprogramm, obwohl breit angelegt und gut organisiert, konnte die Lücke nicht füllen. Im Gegenteil, sie zeigte eindeutig, dass sich innerparteilicher Streit eher an tagespolitischen Nickeligkeiten und Symbolbegriffen als an grundlegenden Fragen entzündet. Die Mehrheit der Mitglieder blieb bemerkenswert uninteressiert und unbeteiligt. Und auch mit der Verabschiedung des Programms, das ja tatsächlich überwiegend innovativ und begrüßenswert ist, scheint nicht mehr Klarheit über die Ausrichtung sozialdemokratischer Politik erreicht. Was bedeuten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität heute? Nicht ob diese Werte weiterhin aktuell sind, ist umstritten; sondern wie sie in konkrete Politik umgesetzt werden können. Die Frage stellt sich nach dem Hamburger Parteitag weiterhin.

Schuld daran, dass es an grundlegender Debatte fehlt, ist zum einen sicherlich das Spitzenpersonal. Wo sind sie, begeisterte und begeisternde Politiker, denen wir verzückt lauschen, wenn sie vor uns das Bild einer besseren Welt entwerfen? Politiker, an denen wir uns reiben, mit denen wir uns auseinandersetzen wollen? Zufrieden und seltsam gesättigt erscheinen sie uns, entrückt unter der Käseglocke Berlin, in der anscheinend andere, technischere Wahrheiten gelten als bei den „einfachen Bürgern“. Nur wenige sind bereit für grundsätzliche Diskussionen, bereit, ihre Positionen pointiert zu formulieren und für ihre Überzeugungen einzutreten. Auf Mehrheiten in Partei und Bevölkerung schielend, werden Stimmungen bedient, bessere Einsichten revidiert und Notwendigkeiten missachtet. Auch wenn sie für sich reklamieren, die Sprache der „kleinen Leute“ zu sprechen – Visionen entwerfen sie damit noch lange nicht.

Erfolg mit mutloser Vergangenheitspolitik?

So weit, so populär; es ist immer einfach und verspricht Applaus, auf „die da oben“ zu schimpfen. Viel dringlicher ist die Frage: Warum haben Spitzenpolitiker mit mutloser Vergangenheitsrhetorik Erfolg? Warum werden fortschrittliche Ideen abgestraft, ja gar nicht erst eingefordert? Wer sich mit diesen Fragen beschäftigt, gelangt zu dem – schon weit weniger populären – Eindruck, die Trägheit und Visionslosigkeit habe viel breitere Kreise in die SPD hinein gezogen, weit über ihr Spitzenpersonal hinaus. Basisbeschimpfung ist immer heikel, gerade in Zeiten, in denen man froh sein muss über jedes Mitglied, das noch nicht ausgetreten ist. Peer Steinbrück hat das nach seinem in der Tat unglücklichen Ausspruch über die „Heulsusen“ in der Partei zu spüren bekommen. Dennoch, wahr bleibt wahr: Die SPD scheint auf allen Ebenen mehrheitlich aus Funktionären zu bestehen, die zwar erfolgreich sind im Mikrokosmos der Partei, vom Lebensgefühl der meisten Bürger aber meilenweit entfernt. Pessimismus und Vergangenheitsverherrlichung beherrschen vielerorts die innerparteiliche Szenerie. Wer ist schon gewillt, seine vor 30 Jahren bei den Jusos erworbene Überzeugung an heutigen Wirklichkeiten zu messen? Leider nur wenige. Wobei es noch nicht einmal das Schlimmste wäre, wenn man sich an diesen Überzeugungen wirklich reiben könnte. Doch diese werden allzu oft begleitet von einer bequemen Opferhaltung, der zufolge die SPD von „denen da oben“ ohnehin in die falsche Richtung gelenkt werde, ohne dass die Mitglieder gefragt würden. Frisch eingetretene, motivierte und diskussionswillige Neumitglieder stürzt solche Larmoyanz in die Verzweiflung.

Diese Erfahrungen, könnte man einwenden, gehören für junge Menschen in der Politik nun einmal dazu, sie seien halt der Beginn des Marathons. Schon meint man ältere Genossen schmunzeln zu hören: „Das haben wir damals auch durchgestanden ...“ Mag sein. Grundstürzend neu ist aber, dass die Altersstruktur der SPD zum inhaltlichen Problem wird. Es ist verständlich, dass mit Neuorientierungen immer auch Ängste verbunden sind, wenn alte Wahrheiten plötzlich zu Ungewissheiten werden. Es ist ebenso verständlich, wenn heute 55-Jährige „ihren“ Sozialstaat, an den sie geglaubt und für den sie gearbeitet haben, mit allen Mitteln verteidigen. Problematisch werden diese Haltungen nur dann, wenn niemand mehr da ist, der neuen Wind bringt, neue Debatten erzwingt, die schwerfällige Tante SPD an neue Realitäten und Lebensstile heranführt. Die innerparteiliche Diskussion beschränkt sich seit Jahren darauf, sich geliebter Wahrheiten stets aufs Neue zu vergewissern – auch wenn damit der Kontakt zur Zukunft verloren geht. Nostalgie und Verklärung des Gewesenen tragen möglicherweise dazu bei, dass ältere Sozialdemokraten ihrer Partei treu bleiben. Wer aber darüber hinaus junge Menschen zum Eintritt in die SPD bewegen will, muss ihnen schon deutlich sagen können, was Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität heute und in Zukunft konkret bedeuten. Der Verweis auf das gute alte Wir-stehen-auf-der-richtigen-Seite-Gefühl der Willy-Ära mag da und dort begleitend helfen, wird aber niemals ausschlaggebend sein.

Mehr als die Verteidigung des Status quo

Genau dieser Diskussion geht die SPD aber seit Jahren aus dem Weg. Die Debatte um das Grundsatzprogramm zeigte, wie schwer es der SPD fällt, sich der Zukunft zu stellen. Erfolge feierte Kurt Beck jüngst nicht mit einer „linkeren“, sondern mit einer defensiven, vorsichtigeren Rhetorik: Ein bisschen was muss sich leider verändern, aber keine Angst, zu viel wird es nicht sein. Das Ende der Zumutungen! Und die Mehrheit der SPD folgt ihm – glücklich. Aber lassen sich damit auch Menschen außerhalb der SPD erreichen? Sind die Bürger tatsächlich so verängstigt und passiv, wie Beck uns glauben machen will? Haben viele nicht längst verstanden, dass Veränderungen nötig sind? Fordern sie nicht bloß (und legitimerweise) Auskunft darüber, wohin die Reise gehen soll? Erwarten nicht junge Menschen, die in die SPD einzutreten überlegen, verständlicherweise mehr als die Verteidigung des Status quo?

Die Mission ist noch längst nicht erfüllt

Ja, es ist unbequem und verunsichernd, sich auf neue Wirklichkeiten einzulassen – aber es ist absolut unverständlich, dieser Notwendigkeit so lange auszuweichen, bis Politik nur noch Sachzwänge nachvollziehen kann. Der Sozialstaat steht unter Druck wie nie zuvor, stellen wir uns doch der Debatte, statt die Herausforderungen wegzuleugnen! Bereits die Formulierungen des „Bremer Entwurfs“ schienen offenbar so bedrohlich, dass sie sogleich wieder relativiert werden mussten. Die SPD, die immer eine Partei des Fortschritts war, wählbar für diejenigen Bürger, die sich ihren Aufstieg erkämpfen und die Gesellschaft verbessern wollten, ist zu einer konservativen Kraft geworden. Dabei ist ihre historische Mission längst noch nicht erfüllt. Soziale Gerechtigkeit im Sinne von Aufstiegschancen bleibt ganzen gesellschaftlichen Gruppen verwehrt. Sozialhilfekarrieren, Prekariat, Kinderarmut: die Diagnosen sind bekannt, überzeugende politische Strategien dagegen eher weniger.

Die SPD trägt Mitschuld an dieser Situation, weil sie zu spät begonnen hat, sich um neue Lösungsansätze zu bemühen. Viele der einstmaligen Rezepte haben sich als unwirksam erwiesen. Trotzdem gelingt es fortschrittlichen Kräften in der SPD nicht, ihre in der Sache überzeugenden Konzepte innerparteilich mehrheitsfähig zu machen, in die öffentliche Debatte einzubringen und im politischen Alltagsgeschäft zu verwirklichen. Stattdessen erleben wir, wie Sozialdemokraten in „gute“ und „schlechte“ Linke eingeteilt werden – wobei zu den „Guten“ die gehören, die mit aller Kraft den Sozialstaat der bundesrepublikanischen Gründerzeit verteidigen und zu den „Schlechten“ jene, die sich an die Realitäten der Gegenwart heranwagen.

Die Kräfte der Beharrung in der SPD sind stark, stärker wohl als fortschrittliche Stimmen. Kaum wird die Idee des vorsorgenden Sozialstaates formuliert, ertönt der empörte Aufschrei: „Was wird aus der Nachsorge?“ Kaum werden Erfolge der Agenda-Politik unübersehbar, werden Maßnahmen zurückgenommen – pardon: „weiterentwickelt“. Kaum diskutieren wir die Zukunft der sozialen Demokratie, schallt uns entgegen: „Und wo bleibt der demokratische Sozialismus?“ Aber was genau bedeutet Linkssein heute? Besteht es nicht aus mehr als dem Verteidigen von Signalwörtern? Ist es nicht gerade der „Mut zur Zukunft“, den Willy Brandt eingefordert hat? In der Zeit vom 30. August schrieb Bernd Ulrich sehr treffend, dass sich leider immer diejenigen als besonders links fühlen, die nichts dazugelernt haben: „Links sein bedeutet aber, sich immer wieder neu auf die Wirklichkeit einzulassen, trotz ihrer Widersprüche, ihrer schmerzlichen Lebendigkeit und ideologischen Sperrigkeit.“ Ulrich spielte damit auf die neue PDS/Linkspartei an, doch auch der Mehrheit der SPD ist es zurzeit offenkundig wichtiger, ihren heiligen Kühen zu huldigen, sie gleichsam entrückt von realpolitischen Niederungen in einer Glasvitrine auszustellen, wegzusperren, aber damit auch – kaltzustellen. Die viel beschriebene heimliche Sehnsucht nach Opposition wurzelt genau hier, wo die reine Lehre wichtiger ist als konkrete Verbesserungen.

Die Fortschrittlichen sind oft nicht viel besser

Aber – leider, wie man sagen muss – ist es auch um die fortschrittlicher Denkenden in der SPD nicht viel besser bestellt. Zwar scheinen einige unter ihnen erkannt zu haben, dass Politik immer auch etwas mit Lernbereitschaft, Weiterentwicklung, Adaption an neue Umstände zu tun hat. Die meisten von ihnen äußern ihren Veränderungswillen allerdings derart ziel- und prinzipienlos, dass man nur den Kopf schütteln und fragen möchte: „Ja, aber wohin soll es denn überhaupt gehen?“ Wo die eine Seite zu fixiert auf die Opfer der Gesellschaft starrt, sie alimentieren will statt auf eine Verbesserung ihrer Situation zu drängen, und die SPD damit zu einer Klientelpartei für Benachteiligte degradiert, da gibt die andere Seite diese Opfer vorschnell auf – der ständige Appell, sich an die leistungsfähige Mitte der Gesellschaft zu wenden, legt davon beredtes Zeugnis ab.

Opfer versus Aufsteiger? Das führt in die Irre

Diese künstliche Gegensätzlichkeit von Opfern versus Aufsteigern führt grundsätzlich in die Irre und trägt nur dazu bei, in der Sache richtige Ideen zu diskreditieren. In zwanzig Jahren, wenn der Gedanke der sozialen Vorsorge politische Realität geworden sein mag, wird es für Menschen vielleicht einmal die Wahl geben, ob sie Opfer sein oder aber Leistung erbringen wollen. Diese Wahl haben viele heute aber nicht. Wessen Eltern und Großeltern bereits Sozialhilfe erhalten haben, der hat schlechtere Startbedingungen als das Kind aus dem Professorenhaushalt. Von beiden die gleiche individuelle Leistung zu fordern, wird der Realität nicht gerecht.

Wir wollen alle Menschen zu Aufsteigern machen – aber dafür brauchen sie gleiche Startbedingungen. Und natürlich müssen wir bis in die Mitte hinein wählbar sein – von Bürgern allerdings, die soziale Gerechtigkeit als Gut wertschätzen, auch wenn sie selbst nicht unmittelbar davon profitieren. Um die Wählerstimmen der solidarischen Mitte kämpfen und Politik für die Ausgegrenzten machen – nur mit beidem zugleich kann die SPD erfolgreich sein. Nur so kann sie den Menschen Sicherheit geben im Prozess gesellschaftlicher Umbrüche, die wir in Zukunft unweigerlich erleben werden.

Um Sicherheit geben zu können, muss die SPD allerdings zunächst einmal selbst-sicher sein. Das oft zitierte „Vermittlungsproblem“ ist nicht nur ein solches; es scheint tatsächlich ein allgemein akzeptierter Rahmen zu fehlen, in dem sich Politik bewegen, ein Ziel, zu dem sie führen soll, und klare Tabus, die es zu verteidigen gilt – egal, was da komme. Dabei sind bereits viele gute Ideen und richtige Ansätze im Gespräch. Damit sie politische Durchschlagkraft bekommen, müssen sie jedoch viel grundsätzlicher verortet, müssen sie in der Logik von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gedacht werden.

Nehmen wir nur den vorsorgenden Sozialstaat. Zwar scheint es innerparteilich notwendig gewesen zu sein, die „Nachsorge“ stets im gleichen Atemzug mitzunennen, um das Konzept innerparteilich mehrheitsfähig zu machen. Jetzt aber steht es im Grundsatzprogramm, jetzt kann die Sozialdemokratie offensiv dafür eintreten! Der vorsorgende Sozialstaat ist ein Instrument zur Verwirklichung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität für alle Bürger, ganz gleich aus welchem Milieu sie stammen, welches Geschlecht sie haben oder in welcher Familienform sie leben. Nur wenn die Debatte so grundsätzlich geführt wird, kann es zur echten Auseinandersetzung darüber kommen, ob es gerecht ist, Arbeitslose mit Transferleistungen ruhig zu stellen, statt den Schwerpunkt auf Unterstützung bei der Arbeitssuche zu legen; ob es solidarisch ist, immer höhere Aufwendungen für die Rente von immer weniger Sozialversicherten bezahlen zu lassen; ob es der Freiheit dient, das Kindergeld zu erhöhen, statt in Infrastruktur zu investieren, die den Eltern echte Wahlfreiheit zwischen Beruf, Familie und Beidem zusammen gibt.

Keine Rücksicht auf anachronistische Tabus

Junge Menschen innerhalb und außerhalb der SPD wollen diese Diskussion führen, unabhängig vom Klein-Klein der Tagespolitik und doch nah an der Realität. Und zwar ohne Rücksicht auf anachronistisch gewordene Tabus und „heilige Kühe“. Das Ergebnis wäre eine SPD, die mutig Verantwortung übernimmt. Die klare Ansagen macht, was Grundlagen und Ziele ihrer Politik angeht. Die offensiv für ihre Politik wirbt. Und die sich ehrlich mit den Widersprüchen unserer Zeit auseinandersetzt. Einer solchen SPD würde der Dialog mit Menschen jeder Altersklasse nicht mehr so schwer fallen – und junge Menschen würden zu Tausenden kommen.

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