Mit dem Laptop durch die Zone

Die junge Autorin Jana Hensel meint, dass den Ostdeutschen nur ihre melancholische Geschichte bleibt

Es gab einmal eine Zeit, da war Bayern ein strukturschwaches Bundesland, wo die Bauern Lederhosen trugen und arm und rückständig waren. Dann kam die neue Zeit, da bewirtschafteten sie nicht mehr nur ihre ärmlichen Höfe, sondern lernten, was man mit einem Laptop anfängt. Damit waren sie so erfolgreich in Deutschland und in der Welt, wie der frühere Ministerpräsident Edmund Stoiber sagen würde, dass fortan „Laptop und Lederhosen“ zusammengehörten. Das Bild eines Bundeslandes wurde geprägt, in dem sich Globalisierung und Heimatverbundenheit paarten. Dieser Mix, so die PR-Strategen von der CSU, sollte die neue bayerische Identität ausmachen.


Inzwischen regiert die CSU nicht mehr uneingeschränkt in Bayern, und Edmund Stoiber ist in den Ruhestand gegangen. Aber mit der Idee von „Laptop und Lederhosen“ ist der CSU eine Identitätsbeschreibung gelungen, mit der sich auch die Jüngeren in Bayern identifizieren können. Selbst wenn sie Grün wählen, würden viele von ihnen in Tracht auf dem Oktoberfest erscheinen. Bayerisch sein ist heute nicht mehr peinlich, ostdeutsch sein dagegen schon.


Achtung Zone: Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten heißt Jana Hensels neues Buch. Ihr Anliegen ist es, den Osten zu befreien von der Norm des westdeutsch bestimmten Blicks. Der Osten hat keine eigene Sprache und in den Medien werden immer nur die Erwartungen des Westens bedient. Wenn Ostdeutsche sprechen, sollen sie entweder von der Grausamkeit der Diktatur oder aus dem Anekdotenschatz der Nische erzählen. Dabei ginge es darum, so Hensel, sich jetzt erstmals selbst zu finden, frei von falschen Hoffnungen, aber auch frei von einem verklärten Blick auf die untergegangene DDR. Das neue Buch von Jana Hensel könnte also die Sprachlosigkeit des Ostens überwinden und die Ambivalenzen des Umbruchs einfangen, um das Anderssein der Ostdeutschen zu erklären.

Eine Schicksalsgemeinschaft von Verlierern

Doch Hensel hat auf der Suche nach einer neuen ostdeutschen Identität ihren Blick alleine auf die ostdeutschen Lederhosen gerichtet. Ob es im Osten keine Laptops gibt oder die Autorin sie bloß nicht gesucht hat, bleibt ungeklärt. So erscheint die ehemalige DDR bei Jana Hensel wie eine geschlossene Schicksalsgemeinschaft von Verlierern. So viel Schonungslosigkeit ist beeindruckend, doch fällt die Wundenschau an manchen Stellen so barock aus wie in bayerischen Dorfkirchen, wo das Blut aus dem gekreuzigten Heiland tropft.


Jana Hensel trifft für ihr Buch ostdeutsche Arbeiter, die 1993 in Bischofferode erfolglos gegen die Schließung ihres Werks protestierten. Sie schreibt eine Hommage an zwei große ostdeutsche Schauspieler (Ulrich Mühe und Jenny Gröllmann), die früh und gramvoll über ihre ungeklärten Stasi- und anderen Verstrickungen gestorben sind. Und sie besucht Rostock-Lichtenhagen, den Ort der Anschläge auf ein Asylbewerberheim 1992. Bei dieser Auswahl von Geschehnissen entsteht fast zwingend eine Chronologie der Melancholie.


Doch ist der Osten eine Zone großer Traurigkeit? Bei Jana Hensel ist die Geschichte alles, was den Ostdeutschen bleibt: der Stolz ihrer Arbeiterklasse, der Ruhm ihrer Künstler, und, so ließe sich diese Reihe fortsetzen, die Medaillen ihrer Sportler. Alles Vergangenheit.


Während man also liest und sich in dieser deprimierenden ost-westdeutschen Gegenwart zurechtzufinden versucht, stellt man sich unweigerlich die Autorin vor, wie sie jung und mobil auf ihrem Laptop all diese traurigen Geschichten schreibt, um sich gleich nach der Arbeit auf dem Ökomarkt am Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg ihr Bio-Gemüse zu kaufen, später in einer Community des World Wide Web zu surfen und abends ihrem zweijährigen Sohn die „Kleine Raupe Nimmersatt“ vorzulesen, einen westdeutschen Kinderbuchklassiker, den heute auch im Osten jeder lesen darf. Warum will man ihr diese Traurigkeit, diese Melancholie, mit der sie schreibt, nicht so richtig abnehmen, warum scheint diese Haltung nicht zu passen?


Ihr Bestseller Zonenkinder kam noch daher wie der Tanz auf den Ruinen des untergegangenen Riesenreiches, das sich von Wladiwostok bis Marienborn erstreckte, und es tanzten die Jungen, denen die „Gnade der späten Geburt“ zuteil geworden war. Warum hat diese Generation, die jung genug war, um sich nicht in der Diktatur zu verstricken und zu verletzen, der alle Möglichkeiten offen standen, warum haben die Zonenkinder aufgehört zu tanzen, jetzt wo sie erwachsener geworden sind? Ist es die weltweite Wirtschaftskrise, sind es die Schwierigkeiten, Kinder, Karriere und Partnerschaft zusammenzubringen, oder ist es mehr als das?


Eine Ahnung davon, wie sehr das Schicksal der Eltern die Kinder in den Bann schlägt, gibt Jana Hensel in ihrem letzten Kapitel, dem einzigen, das der eigenen Generation gewidmet ist. Sie beschreibt darin ihre weitgehend erfolglose Suche nach den Kindern von Stasi-IMs. „Ein kritisches Gespräch über die Vergangenheit, sei es über die Staatssicherheit oder über anderes, hat es nach dem Fall der Mauer zwischen den Generationen kaum gegeben. ... Vielleicht entsteht ja deshalb die Melancholie, die mir an den ‚Kindern‘ meiner Generation und an mir selbst oft aufgefallen ist.“


Friedrich Schorlemmer mochte das Buch, als die Autorin neulich auf einer Tagung zur DDR-Geschichte in Helmstedt vorab daraus vorlas. Er schwärmte von der „Hälfte des Lebens“, der Hölderlin-Verfilmung der DEFA Mitte der achtziger Jahre, mit der Ulrich Mühe und Jenny Gröllmann in der DDR bekannt wurden. Schorlemmer, der Wittenberger Pfarrer und Kenner der ostdeutschen Seele, ist kein trauriger Mensch, eher schon ein Rebell, dazu ist er viel zu sehr seinem Wittenberger Vorbild Martin Luther verbunden. Aber dass er sich von dem Buch angesprochen fühlt, ist sicher kein Zufall.


Hensel gibt der Generation ihrer Eltern, zu der der Oppositionelle Friedrich Schorlemmer genauso wie der Kali-Kumpel in Bischofferode gehört, die Geschichte von Mühe und Gröllmann zurück, weil im Westen kaum jemand Lust hat, die Konfliktlinien so genau nachzuzeichnen oder gar die „Hälfte des Lebens“ gesehen hat. Damit gibt die Autorin auch sich selbst diese Geschichte zurück, denn es ist die Geschichte ihrer Herkunft.


Sie schreibt diese traurig-melancholischen Geschichten nicht nur für sich selbst, sondern stellvertretend für die Generation ihrer Eltern, die bis heute kaum dazu kamen, über die untergegangene DDR zu trauern, weil sie nach 1989 stets nach vorn blickten, um endlich auch materiell im Westen anzukommen. Wer dagegen Zeit zum Trauern hatte, weil er arbeitslos zu Hause saß und nicht mehr gebraucht wurde, beweinte oft bloß den verloren gegangenen schönen Mief der Nische.

Es gibt ein Leben nach der Zone

Das Gefühl des Verlusts findet sich bei den Ostalgikern genauso wie bei manchen aus der globalisierten Bohème vom Prenzlauer Berg. Wenn die Jungen und die Alten heute zurückblicken, wissen sie nicht, wie sie über den verlorenen Staat reden oder gar trauern sollen, der einerseits eine brutale Diktatur und andererseits eine gemütliche Nische war. Wie sollen die Zonenkinder wiederum ihren Kindern von diesem untergegangenen Land erzählen, das in der Öffentlichkeit Unrechtsstaat genannt wird, mit dem sich in der privaten Erinnerung aber auch schöne Momente verbinden?


Jana Hensel stellt sich dem Dilemma, selbstbewusst ostdeutsch zu sein. Sie selbst steht nicht auf der Verliererseite und klingt doch so melancholisch, als könne sie nicht begreifen, warum ihre Eltern sie fortgeschickt haben, warum der Staat ihrer Kindheit verschwinden musste, damit es gerade ihr einmal besser gehen solle. Ein bisschen klingt das wie bei „Hänsel und Gretel“, wo die Eltern aus schierer Not ihre Kinder allein im Wald aussetzen. Dabei wird Hänsel fast von der Hexe gefressen, aber am Ende rettet ihn die List seiner Schwester und die Kinder finden mit goldenen Schätzen aus dem Hexenhaus und dem tiefen Wald heraus.


Auch Hänsel und Gretel sind Zonenkinder. Aber sie sind eben ganz gut allein zurechtgekommen, als sie ihren Mut zusammennahmen. Sie hörten auf, ihrer verlorenen Kindheit nachzutrauern und dem, was ihnen ihre Eltern alles nicht geben konnten. Auch wer aus dem Osten kommt, muss nicht für alle Ewigkeiten an seine brüchige Herkunft gekettet und damit zur Melancholie verdammt sein. Es gibt ein Leben nach der Zone. 


Jana Hensel, Achtung Zone: Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten, München: Piper-Verlag 2009, 176 Seiten, 14,95 Euro

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