Mehr Partizipation wagen

Will die SPD eine Volkspartei bleiben, muss sie mehr Menschen an ihrer Willensbildung und ihren Entscheidungen beteiligen. Im Idealfall entstünde eine offene Debattenkultur - und die Partei wird wieder vorbildlich

Die deutsche Sozialdemokratie befindet sich in einer existenziellen Krise. Seit 1998 hat sie die Hälfte ihrer Wähler und ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Nur noch weniger als ein Viertel der Wähler hat am 27. September der SPD das Vertrauen ausgesprochen. Dass eine Zeit in der Opposition allein hilft, sich zu regenerieren, ist keinesfalls ausgemacht. Die marginalisierten sozialdemokratischen Kräfte in Frankreich oder Italien sollten ein mahnendes Beispiel sein.


Um die Funktionsfähigkeit von Fraktion und Partei zu gewährleisten, hat die SPD-Führung in rasantem Tempo eine personelle Umstrukturierung vorgenommen. Ein Genosse aus Albersdorf machte seinem Ärger darüber mit einem Leserbrief im Spiegel Luft: „Die Basis der Partei hatte wieder einmal keine Chance, in Personalfragen irgendetwas mitzubestimmen. Die ‚Großköpfigen‘ machten schnell alles unter sich aus. Da fragt sich ein alter ‚Parteisoldat‘ (seit 47 Jahren SPD-Mitglied) der Basis: ‚Bin ich denn nur noch dazu gut, durch den Ort zu laufen und Wahlwerbung zu verteilen?‘“


In dieser Äußerung steckt ein hohes Maß an Verbitterung, das ganz offensichtlich nicht erst aus den jüngsten Personalentscheidungen resultiert. Während der elfjährigen Regierungszeit im Bund wurden wichtige Richtungsentscheidungen ohne Beteiligung der Partei vollzogen. Die Agenda 2010, so folgerichtig sie auch war, ist ein Beispiel dafür. Sie wurde erst auf dem Sonderparteitag im Juni 2003 nachträglich legitimiert. Vielleicht hätte die Agenda 2010 durch eine größere Beteiligung der Basis ein anderes Gesicht bekommen, doch wäre der Partei manche kräftezehrende Diskussion im Nachhinein erspart geblieben.


Der amerikanische Sozialwissenschaftler Ruy Teixeira macht die hierarchischen Strukturen und das hierarchische Denken sozialdemokratischer Reformpolitiker für den Niedergang der europäischen Linken mitverantwortlich. Seit den Erfolgen von Gerhard Schröder und Tony Blair hätten sich die Kommunikationsstrukturen und damit der Demokratiebedarf in den Parteien radikal verändert. Sein Fazit lautet: Es braucht eine neue Beziehung zwischen dem Machtzentrum der Parteien und den Parteimitgliedern und Freiwilligen vor Ort. Dabei spielen auch die lokalen Parteifunktionäre eine entscheidende Rolle.

Das innerparteiliche Feuer ist erloschen

Laut dem Politikwissenschaftler Peter Lösche wurde der Zusammenhalt von Parteien in der Vergangenheit dadurch gewährleistet, dass vor allem die Parteifunktionäre hoch motiviert waren, am Parteileben aktiv teilzunehmen und auch inhaltlich-programmatisch mitzuwirken. Es bestand so etwas wie eine Dialektik von Konflikt und Konsens zwischen Gebietsverbänden, Gruppen und Flügeln, die eine Großpartei wie die SPD zusammen und lebendig hielt. Demgegenüber stehen heute eine wachsende Apathie, sinkende Mitgliederzahlen und Nachwuchssorgen. Der Journalist Heribert Prantl fasst die Probleme der SPD in einem Satz zusammen: „Das innerparteiliche Feuer ist erloschen.“ Sein Rat lautet: „Solidarität und Demokratie wagen.“


Die Auswirkungen von Partizipation auf Gruppen und Organisationen sind in der Organisationspsychologie gut erforscht und vielfach belegt. Dabei wurden verschiedene positive Effekte identifiziert. Zunächst einmal beeinflusst Partizipation die Akzeptanz von Entscheidungen. Wenn Menschen Einfluss auf eine Entscheidung besitzen, entwickelt sich ein Gefühl der Teilhabe, das die spätere Motivation erhöht, die gemeinsam getroffene Entscheidung auch nach außen zu vertreten. Mitglieder, die an dem Entscheidungsprozess beteiligt werden, erhalten ein stärkeres Verständnis dafür, warum eine Alternative abgelehnt und eine andere bevorzugt wurde. Ihr Wissen über das Problem wird vergrößert, gleichzeitig werden die Befürchtungen und Ängste gegenüber der ursprünglich nicht favorisierten Alternative reduziert. So akzeptieren letztlich auch die ursprünglichen Gegner die Entscheidung und sind eher bereit, sie zu unterstützen.

Wer mitmachen kann, fühlt sich respektiert

Aber auch über die direkte Entscheidungsakzeptanz hinaus hat Partizipation nachhaltige Effekte. Die Möglichkeit, die eigene Meinung vor wichtigen Entscheidungen ausdrücken zu können, erhöht auf lange Sicht die Zufriedenheit der Organisationsmitglieder. Menschen empfinden, dass sie durch Partizipation mit mehr Respekt und Würde behandelt werden. Diese höhere Zufriedenheit führt zu einer stärkeren Bindung an die Organisation. Man fühlt sich einer Partei und deren Zielen stärker verpflichtet, was auch die Motivation erhöhen dürfte, an Infoständen oder Ortsvereinssitzungen teilzunehmen.


Besonders positive Auswirkungen hat Partizipation aber auch auf den Wissensaustausch und damit auf die Qualität politischer Entscheidungen. Innerhalb einer Gruppe ist potenziell immer mehr Wissen verfügbar als bei einzelnen Entscheidern, weil jedes Mitglied einen einmaligen Wissens- und Erfahrungshintergrund besitzt. Partizipation und offene Diskussionen können unterschiedliche Informationsquellen und Ideen aktivieren. Partizipation fördert die Produktion und den Austausch von Informationen, wodurch der Gruppe für die Entscheidung mehr Wissen zur Verfügung steht. Gerade über die Basis und die Parteifunktionäre, die täglich mit den Bürgern in Kontakt kommen, kann die SPD die gesellschaftlichen Veränderungen aufnehmen und auf diese reagieren. Sie wird dadurch intellektuell stimuliert und trocknet nicht aus. Dafür müssen sich diese Wahrnehmungen aber von unten nach oben entfalten können.


Autoritäres Verhalten verhindert nicht nur die beschriebenen aufbauenden Wirkungen der Partizipation, sondern provoziert zusätzliche negative Effekte. Zwei Reaktionen sind von besonderer Relevanz. Sind Menschen einem System ausgesetzt, das ihnen autoritär begegnet, so reagiert ein Teil darauf mit Reaktanz, das heißt mit Kampf. Es entstehen Misstrauen und Wut, und anstatt die Organisation zu stützen, werden sie und ihre Repräsentanten bekämpft. Diese Auseinandersetzung kann offen, aber auch verdeckt geschehen. So werden heimlich Intrigen geplant oder es wird die nächste Gelegenheit abgewartet, um der Wut wirkungsvoll Ausdruck zu verleihen. Klassisch werden Sachkonflikte zu Beziehungskonflikten. Am Ende ist man nicht mehr an dem eigentlichen Thema interessiert, sondern nur noch daran, wie man dem Gegenüber besonders großen Schaden zufügen kann. Vermutlich können die meisten Parteifunktionäre für diese Erkenntnis aus der Organisationspsychologie Beispiele aus eigener Erfahrung nennen.

Innerparteiliche Demokratie macht attraktiv

Die zweite mögliche Reaktion auf autoritäres Verhalten sind Rückzug, Flucht und langfristig Hilflosigkeit, sprich Fatalismus und Apathie. Entscheidend für diese Reaktion ist, ob man meint, an der Situation noch etwas ändern zu können. Tausende von Parteimitgliedern haben sich in den vergangenen Jahren zurückgezogen und sind ausgetreten. Nicht wenige haben so dokumentiert, dass sie keine Einflussmöglichkeiten mehr sehen.


Wie kann wieder mehr Partizipation gewagt werden? Zum einen, indem sich die SPD an Beispiele aus der Vergangenheit erinnert und diese weiterdenkt. Zum anderen müssen dafür neue Instrumente entwickelt werden. Die Parteimitglieder an Personalentscheidungen für die Bundesebene zu beteiligen, ist kein ganz neuer Gedanke. Nach dem Rücktritt Björn Engholms vom Parteivorsitz 1993 wurden die Mitglieder befragt, um faktisch den Nachfolger für den SPD-Vorsitz zu bestimmen. Sie hatten die Wahl zwischen Rudolf Scharping, Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul. Der Parteivorstand empfahl dem außerordentlichen Bundesparteitag daraufhin den Gewinner des Mitgliedervotums Rudolf Scharping als Kandidaten. Dass sich damals 56 Prozent der Parteimitglieder beteiligten, war ein großer Mobilisierungserfolg. Während die Anzahl der Neumitglieder seit 1989 rapide zurückgegangen war, konnte 1993 wieder ein deutlicher Zuwachs verzeichnet werden. Dies ist ein Indiz dafür, dass innerparteiliche Demokratie die Partei auch für Außenstehende interessanter macht.

Warum mehr direkte Demokratie sein muss

Auch in den Wahlkreisen hat sich die Mitgliederbeteiligung bei Personalentscheidungen bewährt. Beispielsweise haben sich in einigen Berliner Wahlkreisen potenzielle Kandidaten für die Bundestagswahl den Parteimitgliedern vorgestellt. Im Anschluss wurde darüber in den Ortsvereinen diskutiert. Auf diese Weise hatten die Delegierten für die Nominierungskonferenzen ein repräsentatives Stimmungsbild „ihrer“ Basis.


Zudem gibt es ein äußerst positives Beispiel der Mitgliederbeteiligung auf programmatischer Ebene: die Entstehung des Hamburger Programms. Der vom Parteivorstand vorgelegte Bremer Entwurf war ein Diskussionsangebot an die Mitglieder der SPD und an die Gesellschaft. Auf jeder Ebene der Partei fanden Diskussionen über den Entwurf statt. Das Willy-Brandt-Haus organisierte einen Dialog, bei dem verschiedene Mitglieder der Parteispitze bundesweit mit den Genossen vor Ort diskutierten.


Darüber hinaus erhielt jedes Mitglied die Möglichkeit, sich zum Bremer Entwurf im Zuge einer Mitgliederbefragung online oder postalisch zu äußern. Rund 40.000 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nahmen dieses Angebot an. Auffällig ist die überdurchschnittlich hohe Beteiligung von unter 35-Jährigen, die rund 18 Prozent der Teilnehmer ausmachten, während sie nur 9 Prozent aller Mitglieder stellten. Auffällig ist auch, dass mehr als die Hälfte der Teilnehmer kein Amt in der Partei ausübte, was ein Indiz dafür ist, dass gerade die einfachen Mitglieder für Formen der direkten Partizipation ansprechbar sind. Der große Aufwand hat sich ausgezahlt, sowohl was die Beteiligung als auch die Akzeptanz des Ergebnisses angeht: Das Hamburger Programm wird generations- und flügelübergreifend gelobt.


Die SPD sollte Vorreiter bei der Weiterentwicklung von Elementen direkter Demokratie werden. Diese Instrumente sollte sie mit einer größeren Öffnung nach Außen verbinden. Der radikalste Schritt wäre es, Vorwahlen einzuführen wie in den Vereinigten Staaten. Der designierte Parteivorsitzende Sigmar Gabriel hat hierfür bereits Sympathie erkennen lassen. Gegenüber der Neuen Presse sagte er im Juni 2008: „Wir müssen die Partei öffnen, für Quereinsteiger, auch für Nicht-Parteimitglieder. Stellen Sie sich mal vor, wir würden den nächsten SPD-Spitzenkandidaten in Niedersachsen durch Vorwahlen nach amerikanischem Vorbild küren – was dann hier los wäre.“ Der kritische Aspekt eines solches Verfahrens liegt allerdings darin, dass die Parteimitgliedschaft durch eine Öffnung gegenüber der Gesellschaft nicht abgewertet werden darf. Um dem vorzubeugen, könnten die Stimmen der Mitglieder höher gewertet werden als die der Nichtmitglieder. Grundsätzlich dürften Vorwahlen zu einem größeren Interesse an der Partei und damit zu neuen Mitgliedern führen.


Denkbar wäre auch, dass Landtags- und Bundestagskandidaten einige Monate vor anstehenden Wahlen „Wählerbeiräte“ ins Leben rufen. Diese könnten sich paritätisch aus Partei- und Nicht-Parteimitgliedern zusammensetzen und zum Beispiel an der Erarbeitung eines lokalen Wahlprogramms mitwirken. Die Ortsvereine eines Wahlkreises würden Mitglieder in den Wählerbeirat entsenden. Jedes Mitglied wäre seinerseits aufgerufen, eine Bürgerin oder einen Bürger aus dem Wahlkreis, der oder die Nicht-Parteimitglied ist, für den Wählerbeirat zu gewinnen. Der Wahlkreiskandidat könnte so auf einen großen Fundus an Kompetenz zurückgreifen und sowohl Parteimitglieder als auch Nichtmitglieder an seinem Wahlkampf beteiligen.


Darüber hinaus bietet das Internet neue Partizipationsmöglichkeiten, die besonders jüngere Mitglieder und Nichtmitglieder ansprechen. Zum Beispiel könnte ein modernes System des Wissensmanagements aufgebaut werden: Interessierte Mitglieder tragen ihre Expertise und ihre Kontaktdaten in das System ein. Das Programm identifiziert automatisch die Personen, die an ähnlichen Themen arbeiten und vernetzt diese miteinander. So könnte der Landrat aus dem Saarland auf den Bürgermeister aus Brandenburg aufmerksam werden, der sich gerade mit einem ähnlichen Problem der lokalen Kulturförderung beschäftigt. Gleichzeitig könnte die Parteizentrale, wenn sie an einem spezifischen Thema arbeitet, direkt die Experten an der Basis kontaktieren.

Wer eine Stimme hat, will auch gehört werden

Außerdem wäre es einfach, parteiinterne Blogs zu speziellen Themen ins Leben zu rufen, die von Mitarbeitern des Willy-Brandt-Hauses moderiert werden und zum direkten Kontakt zwischen Zentrale und Partei führen. Als Gastblogger könnten sich immer wieder Abgeordnete und andere Vertreter der Partei einschalten. Das aktive Management von Wissen und Ideen ist auch in einer Großorganisation wie der SPD möglich. Es fördert die Partizipation, belebt die Partei und kann ihr neue Erkenntnisse liefern. All diese Partizipationsformen dürfen jedoch nicht von oben nach unten verordnet werden. Sie müssen mit den Parteimitgliedern diskutiert werden. Und diese müssen sich ihrerseits für neue Ideen und die Einbindung von Nichtmitgliedern öffnen.


Es gibt also viele gute Gründe, mehr Partizipation zu wagen. Partizipation kann für eine größere Akzeptanz von Entscheidungen sorgen, für höhere Zufriedenheit, für mehr Wissen aller Beteiligten – und sie kann die Partei für Nichtmitglieder attraktiver machen. Im Idealfall entstünde eine offene, konstruktive Diskussionskultur, mit der die SPD wieder ein gesellschaftliches Vorbild werden könnte. Aus Parteikreisen ist zu vernehmen, dass im Leitantrag für den bevorstehenden Bundesparteitag basisdemokratische Elemente wie Mitgliederbegehren aufgewertet werden sollen. Auch soll die projektbezogene Mitarbeit von Nichtmitgliedern ermöglicht werden. Dies wäre der richtige Weg. Will die SPD Volkspartei und moderne Mitgliederpartei sein, muss sie gleichermaßen für Nichtmitglieder wie Mitglieder attraktiver werden. Der erste Schritt wäre, der Basis wieder eine Stimme zu geben. Der zweite wäre, ihr dann auch zuzuhören. 

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