Mehr Geschichte - aber ohne falsche Nostalgie

zu Norbert Seitz, Vorsicht, Dino-Falle!, Berliner Republik 6/2012

Norbert Seitz zeigt sich vorauseilend genervt vom Jubiläums-Getöse, das der deutschen Sozialdemokratie im Jahre 2013 bevorsteht und das mit dem Gedenken an August Bebels 100. Todestag und Willy Brandts 100. Geburtstag auch noch in gewissermaßen reflexive Echos auszubrechen droht. Man muss sich in der Tat auf ermüdende Rituale einstellen, da die Medien – mehr noch als das allgemeine Publikum – knappe Aufmerksamkeitszeitfenster nur mehr für runde Feiertage kurzzeitig zu öffnen vermögen. Dafür freilich mag gerade die historische Unbelecktheit immer unerfahrenerer Generationen von Redakteuren verantwortlich sein – also das glatte Gegenteil jener „Geschichtsbesessenheit“, die Seitz – unter anderem – der aus seiner Sicht traditionslastigen Partei unterstellt.

Man mag auch zu recht anzweifeln, ob denn die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) durch elf (!) Delegierte in Leipzig am 23. Mai 1863 angemessen als Geburtsstunde der deutschen Sozialdemokratie gefeiert und Ferdinand Lassalle als tauglicher Vorzeigesozialdemokrat der ersten Stunde herausgehoben werden darf. Ich habe damit meine Schwierigkeiten, sehe die wahren Wurzeln der Bewegung im Vormärz und in der Revolution von 1848. Das Auftreten des ADAV interpretiere ich eher als kurzfristigen Akt der Spaltung einer sich noch im pränatalen Zustand befindlichen Arbeiterbewegung, denn als den einer Stiftung. Lassalle war ein ziemlich skrupelloser politischer Ehrgeizling und Egomane, verfügte aber zumindest über eine Leidenschaftlichkeit, die uns die Menschen des 19. Jahrhunderts heute oft so fremd macht. Anders als der Parteimythos besagt, verkörperte der ADAV auch noch nicht das moderne Parteiprinzip, was er mangels eines allgemeinen Wahlrechts, für das er ja hauptsächlich werben sollte, auch gar nicht konnte. Diese Chance ergab sich erst nach 1867, und dann sollte sich zeigen, dass auch andere Gruppierungen das neue politische Spiel trefflich zu beherrschen lernen sollten. Stichwort August Bebel. Somit: Ja, ein rundes Datum, nicht viel mehr.

Aber das mag ja wenigstens einen Anlass bieten, sich tatsächlich tiefer mit der Geschichte der Sozialdemokratie zu beschäftigen, und sei es nur, um die Oberflächlichkeit der Jubiläumsfeierei zu erkennen. Das hat die Partei in der Hand, ebenso wie es die Macher der diversen Ausstellungen im Jubiläumsjahr in der Hand haben oder die Festredner in den einschlägigen Veranstaltungen. Es könnte sich bewahrheiten, dass die Partei ein „Mehr“ an Geschichte braucht und nicht ein „Weniger“, zumal wenn das, was vorhanden ist, doch eher einer Walhalla angestaubter Mythen gleicht als einer kritischen Auseinandersetzung mit einer Tradition, deren Länge und Kontinuität über viele gesellschaftliche Umbrüche hinweg in der deutschen Geschichte dennoch eine gewisse Achtung verdient hat.

„Hier wird es deutlich“, schreibt der gewiss nicht als Sozialdemokrat verdächtige Friedrich Nietzsche in der dritten unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, „wie notwendig der Mensch, neben der monumentalistischen und antiquarischen Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nötig hat, die kritische: und zwar auch diese wiederum im Dienste des Lebens. Er muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert, und endlich verurteilt; jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden – denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen die menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen.“

Auf drängende Fragen neue Antworten zu finden, wie Norbert Seitz der SPD zu Recht abverlangt, könnte sich somit gerade aus der Auseinandersetzung mit dem reichen historischen Erfahrungsschatz ergeben, über den keine andere politische Bewegung in Deutschland in auch nur vergleichbarem Maße verfügt. Dann würde exakt nicht jene „historische Krankheit“ grassieren, die Nietzsche dem ausgehenden 19. Jahrhundert diagnostizierte: „Das Übermaß von Historie hat die plastische Kraft des Lebens angegriffen, es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen.“

Doch es ist ja im Grunde nicht die zu befürchtende Überdosis an „Nostalgie und Rückwärtsgewandtheit“ im heraufziehenden Jahre 2013, die Seitz der Partei vorwirft. Ich bin mir gar nicht sicher, was er der SPD vorwirft, und nicht einmal davon überzeugt, dass er es selbst genau weiß. Zunächst stellt er ihre vermeintliche hohle Traditionsduselei an den Pranger, die aber doch eher „sentimental“ sei als wahrhaft historisch, ja sogar als Ausdruck einer mangelnden Verankerung in der Vergangenheit genommen werden müsse. Dann klagt er ihre „siegergeschichtliche Pose“ an, mit der sie – unter Verweis auf ihre schier endlose Tradition – jüngere politische Gruppierungen wie vor allem die Linkspartei als Rasselbande im historischen Kindergarten abstempele. Dann wiederum inkriminiert er die Vereinnahmung der „sozialliberalen Ära“ (sind zwölf Jahre nicht arg wenig für eine „Ära“?) durch SPD-nahe Historiker als „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ und lamentiert in den nachfolgenden Abschnitten fugenlos über den misanthropischen Charakterzug der SPD, hauptsächlich historische Niederlagen als geschichtliche Höhepunkte zu feiern – als Zeichen der Standhaftigkeit im Aussichtslosen oder zumindest des Triumphs der reinen Lehre im Angesicht politischer Pragmatismusexzesse. Mal macht sich die SPD des Umgangs mit ihrer Vergangenheit schuldig, mal ihrer Fehler bei der Mitgestaltung genau jener Vergangenheit. Wie hätten wir es denn gern, Herr Seitz? Können wir Sie einreihen in einen weiteren Traditionszug der Sozialdemokratie, der seinen Ursprung schon in den 1860er Jahren hatte, nämlich der Neigung der eigenen Mitglieder und Sympathisanten zum „Partei-Bashing“? Das ist wohlfeil und mit dem Mitgliedsbeitrag vielleicht auch teuer genug erkauft. Aber damit wird das historische Argument noch lange nicht richtig – und nicht einmal logisch.

Zumal das eigene historische Urteil vielleicht doch an der einen oder anderen Stelle einer tieferen Grundierung als der des Anekdotischen und des Ressentiments bedürfte, also auch eher einer offeneren, neugierigeren Beschäftigung mit der Geschichte, die Nietzsche in ihrer kritischen Variante als „Kraftquell“ ausgemacht hat. Ich teile die Skepsis, dass gerade das „Rekordjubiläumsjahr“ der Sozialdemokratie eine solche offenere und neugierigere Beschäftigung mit ihrer eigenen Geschichte anstoßen wird – zu hoffen wäre es ja. Aber das bedeutete ein „Mehr“ an Historie und nicht ein „Weniger“, einen Ausbruch aus der selbstverschuldeten historischen Unmündigkeit, die die Partei über weite Strecken ebenso kennzeichnet wie manche ihrer Kritiker und die sie vielleicht tatsächlich geneigt sein lässt, das Jubiläumsjahr einfach im historischen Blindflug abzufeiern.

Die deutsche Sozialdemokratie steht seit ihren Anfängen für die gesellschaftliche Emanzipation, für die Interessenvertretung derjenigen, die für die Gesellschaft arbeiten, für politische Aktivität der „einfachen Leute“, für Gerechtigkeit und Humanität. Sie hat von Beginn an politische Charaktere hervorgebracht, die leidenschaftlich für ihre Ideale gefochten haben und vielfach „eckig“ waren, wie Ignaz Auer einst über Johann Most urteilte. Davon haben wir vielleicht heute eher zu wenige als zu viele. Die Zahl der politischen Irrtümer und Fehler ist demgegenüber Legion. Aber aus der aktuellen Forschung weiß ich, dass zum Beispiel eine Bewertung der Weimarer Sozialdemokratie heute differenzierter ausfallen würde, als es der angestaubte Erinnerungsbestand der Partei hergibt oder das retrospektive historische Feindbild, von dem uns auch Seitz einen Ausschnitt anbietet. Das alles gehört zu der Geschichte der Bewegung und der Partei dazu. Schonungslos sollte sie sich dieser Geschichte öffnen, ohne falsche Nostalgie und ohne Scheuklappen. Norbert Seitz könnte sich dem anschließen. Trotz allem ist diese Geschichte bewegt und farbig, mit vielen überraschenden Facetten – und durchaus hin und wieder mit Anlass für Stolz.

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