Mehr Demokratie in die Demokratie

Unser Demokratiemodell fördert die Passivität und den Rückzug ins Private. Darunter leidet das Gemeinwesen. Progressive Politik muss alles tun, um Bürgerinnen und Bürger zum Mitmachen zu bewegen.

„18 Prozent der Bundesbürger würden Sarrazin-Partei wählen“ – diese Schlagzeile war Anfang September sinngemäß auf allen Zeitungscovern zu lesen, nachdem dieselben Zeitungen Sarrazin davor zu nationaler Popularität hochgeschrieben hatten. 18 Prozent für seine Anti-Moslem-Thesen. Aber man muss nicht viel an potenzieller Motivforschung betreiben, um zu wissen, dass es bei solchem Zuspruch nie allein um die konkreten Forderungen geht, sondern um ein ganzes populistisches Bündel: Darum, dass „es endlich einmal einer sagt“ (und dieses „es“ kann dann mal dies, mal das sein), dass er es „denen“ reinsagt (den politischen Eliten), dass da einer quer zum herrschenden Diskurs agiert und zum Angebot an hergebrachten politischen Parteien, von denen man dann gerne sagt, dass sie „die normalen Bürger gar nicht mehr repräsentieren“. Man kennt diese Muster aus vielen europäischen Ländern. Man sollte sie als Symptome deuten und fragen, was sie uns sagen über den Zustand unserer Demokratien.

Alle paar Jahre wählen wir in Deutschland, wie in allen westlichen Demokratien, das nationale Parlament  – und dazwischen gibt’s noch ein paar andere Urnengänge, lokale, auf Länderebene. Auf den Stimmzetteln finden sich dann Parteinamen und daneben runde Kringel, in die wir ein Kreuz machen dürfen. Manche kreuzen eine Partei an, um den Regierungen einen „Denkzettel“ zu verpassen. Wieder andere machen ihr Kreuz bei einer Partei, die sie zwar nicht begeistert, die sie aber wählen, um den Wahlsieg einer anderen Partei zu verhindern, die sie noch viel unsympathischer finden. Der Großteil der Wähler schleppt sich eher lustlos ins Wahllokal. Und eine signifikante Minderheit tut nicht einmal das. Immer mehr Wähler bleiben einfach daheim.

Das liberale, repräsentative Politikmodell hat eine Reihe von Vorteilen. Erstens: Es ist relativ simpel und funktioniert auch mit einem weitgehend entpolitisierten Publikum. Die Wähler gehen alle paar Jahre zur Wahlurne und bestimmen die Zusammensetzung des Parlaments. Die so gewählten Abgeordneten nehmen den Bürgern das weitere Trockenbrot der Demokratie ab. Zweitens: Der Zorn, die Wut, ja, auch die niedrigen Instinkte von Menschen werden neutralisiert, da die Despotie des „gesunden Menschenverstandes“ durch Vermittlung, Delegation und parlamentarische Verfahren entschärft ist. Drittens: Moderne Gesellschaften sind komplex und deshalb hat die Politik oft knifflige Detailfragen zu klären. Im liberalen, repräsentativen Demokratiemodell treffen Bürger Richtungsentscheidungen, die komplizierten Gesetzgebungsfragen werden ihnen aber von professionellen Politikern abgenommen.

„Die relativ niedrigen Anforderungen, die im Rahmen des liberalen Demokratieverständnisses an das Funktionieren des politischen Systems gestellt werden, führen zu einer Zufriedenheit, die uns blind machen kann für ein neuartiges Phänomen, das ich als ‚Postdemokratie‘ bezeichnen möchte“, schreibt Colin Crouch, Politikprofessor in Coventry, in seinem Buch Postdemokratie. „Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt.“ Langeweile, Frustration, Desillusionierung macht sich bei den Bürgern breit, das Gefühl, dass sie das alles eigentlich nichts angeht. „Postdemokratie heißt nicht, dass wir keine Demokratie mehr haben“, rückt Crouch im Gespräch etwaige Missverständnisse zurecht. „Postdemokratie heißt: Wir haben Demokratie, wir haben die Institutionen, aber eigentlich interessieren sie niemanden mehr so richtig. Die Bürger wählen, aber eigentlich wissen viele nicht, wen sie wirklich wählen sollen. Die Demokratie existiert weiter, aber jenseits davon hat die Demokratie ihre vitalen Energien verloren.“

„Politikverdrossenheit“ ist ein Wort, das uns schon lange verfolgt. Es ist ein hilfloser, irreführender Begriff, der zudem eine gefährliche Schlagseite hat. Er unterstellt, dass sich die Menschen für Politik einfach nicht interessieren. Deswegen ist er auch sehr beliebt bei älteren Politfunktionären, die sich in ihren Parteihinterzimmern verbarrikadieren und dort achselzuckend feststellen, dass „die jungen Leute heute einfach von Politik nichts mehr wissen wollen“ – ein Urteil, zu dem der Parteifunktionär natürlich nur kommen kann, weil er seine Gremiensäle nie verlässt und weil er tagtäglich dafür sorgt, dass seine Parteien für politische junge Leute maximal unattraktiv werden.

Und die Politik reagiert auf dieses Problem mit Mitteln, die die Problematik noch verschärfen: Wenn sich die Bürger schon nicht mehr für die Parteien, ihre Konzepte, für die „Weltanschauung“, die sie vertreten, begeistern lassen, dann muss man sie eben mit Werbung und PR umgarnen. So gewinnen Werbeagenturen, Meinungsforschungsinstitute, Markenartikler und Spin-Doctoren immer mehr Einfluss auf die Politik. Man versucht eingängige, zugkräftige Slogans zu erfinden, die 20-Sekunden-Soundbites möglichst nicht übersteigen sollen, damit sie in der Erinnerung des Publikums hängen bleiben; kontroverse Themen, die weitere Wähler abschrecken könnten, sollen oft tunlichst vermieden werden. Man darf die politisch entwöhnten Bürger schließlich nicht überfordern, so die implizite Logik dieses Denkens – aber oft unterfordert man damit die Bürger, die sich mit Recht für dumm verkauft vorkommen.

Die Nachteile der mageren Demokratie

Unser Demokratiemodell – und das, was aus ihm geworden ist – ist nach den Worten des amerikanischen Politikwissenschaftlers Benjamin Barber deshalb eine „magere Demokratie“, keine „starke Demokratie“, sie fördere die Indifferenz noch, die sie allenthalben beklagt. Eine Krisenspirale dreht sich, ein Teufelskreis: Weil die Parteien die Bürger nicht mehr anzusprechen vermögen, verfallen diese in Desinteresse, weshalb sich immer weniger Bürger in diesen Parteien engagieren, weshalb das politische Personal immer unattraktiver wird und blanke Karrieristen in diesen Parteien ein immer leichteres Spiel haben – weshalb sich noch mehr Menschen angewidert von den Parteien abwenden. All das höhlt aber nicht nur die Demokratie aus, die Gemeinwesen selbst werden weniger lebenswert. Gewiss ist Engagement in und für Parteien nur eine der Möglichkeiten, sich mit anderen gemeinsam für etwas einzusetzen. Aber in aller Regel gehen Entpolitisierung und der Rückzug ins Private miteinander einher. Es ist ja nicht so, dass, nur weil sich weniger Menschen in Parteien engagieren, umso mehr in der Nachbarschaftshilfe oder in der Freiwilligen Feuerwehr mittun. Verlieren die Parteien an Mitgliedern, geht meist auch das bürgerschaftliche Engagement als solches zurück, der gesellschaftliche Zusammenhalt erodiert, die Bürger fühlen sich vereinzelt und empfinden, dass sie in ihrem Gemeinwesen keine Möglichkeit zur Mitgestaltung haben. Jüngste Forschungen haben auch ergeben, dass es einen starken Zusammenhang zwischen dem Anteil von Parteimitgliedern unter den Wahlberechtigten und der Effektivität von Regierungen gibt. Das heißt, in Ländern, in denen sich weniger Menschen Parteien verbunden fühlen, wird schlechter regiert: Schlägt den Politikern Ressentiment entgegen, oder können sie sich nur auf sehr labile Mehrheiten stützen, hängen sie ihr Fähnchen öfter in den Wind. Die vermeiden kontroverse, aber notwendige Entscheidungen, und wenn aus Parteien alles Leben weicht, kommen windige, nur am Eigennutz orientierte Personen viel leichter in ihnen hoch. Politisch desinteressierte Bürger führen zu schlechterer Politik, Entpolitisierung führt zu Korruption.

„Postdemokratie“ beschreibt für Colin Crouch nämlich nicht zuletzt einen Zustand, in dem „die Repräsentanten mächtiger Interessengruppen, die nur für eine kleine Minderheit sprechen, weit aktiver sind als die Mehrheit der Bürger, wenn es darum geht, das politische System für die eigenen Ziele einzuspannen“. Wenn die „normalen Bürger“ sich nicht mehr artikulieren – die Unternehmen tun das sehr wohl. Nur manchmal führt das zu einem „Skandal!“-Aufschrei wie im Winter 2010, als Guido Westerwelles FDP durchsetzte, dass im Zuge des „Wachstumsbeschleunigungsgesetzes“ (was für ein Orwell’sches Wort!) der Mehrwertsteuersatz für Hotelübernachtungen von 19 auf 7 Prozent gesenkt wurde. Ein für die Allgemeinheit teures und nutzloses Steuergeschenk an die Klientel der Partei und deren Lobbys. Von einem Hotelunternehmer hatte die Partei innerhalb eines Jahres 1,1 Millionen Euro Spenden erhalten und zeigte sich entsprechend erkenntlich.

Wie Regierungen „dumm“ gemacht werden

Für die Gewinner des Neoliberalismus sind entpolitisierte Bürger genau das, was sie brauchen. Es gehört zu den schönen Widersprüchen der neoliberalen Doktrin, dass sie wie eine tibetanische Gebetsmühle stets verkündet, „der Staat“, „die Regierungen“ sollten sich aus „der Wirtschaft“ raushalten – keineswegs folgt für sie aber daraus, dass sich „die Wirtschaft“ aus „dem Staat“ raushalten soll. Täglich dringen wirtschaftsnahe Lobbyisten auf ihnen genehme Gesetze, in den Ministerien geben sie sich die Klinken in die Hand. „Semi-permeabel“ werde, so Crouch, die Grenze zwischen Wirtschaft und Politik. „Die Wirtschaft sollte die Möglichkeit haben, sich nach Belieben in die Politik einzumischen – aber nicht umgekehrt“ – das sei es, was die neoliberalen Propagandisten wirklich wollen. Wenn man den Staat nur lange und massiv verschlankt, in Ministerien Aufnahmestopps verhängt und es für gut ausgebildete junge Leute unattraktiv macht, im öffentlichen Dienst anzuheuern, fehlt in den Regierungsstellen bald tatsächlich das Know-how für die komplexe Steuerung moderner Gesellschaften. Die neoliberale Behauptung, dass Regierungen dumm, „die Märkte“ aber allwissend seien, wird so tatsächlich „wahr“. Der Regierung fehlen dann Kompetenzen, die sie aus der Wirtschaft zukaufen muss. Der gerne als Shooting-Star apostrophierte CSU-Mann Karl-Theodor zu Guttenberg hat in seiner Zeit als Wirtschaftsminister sogar das heikle Bankenrettungsgesetz von der internationalen Anwaltskanzlei Linklaters schreiben lassen. Man muss nur einen Klick im Internet machen, um auf die Homepage der Firma zu kommen. Dort heißt es: „Die führenden großen Unternehmen der Welt und die wichtigsten Finanzinstitutionen vertrauen Linklaters bei ihren juristischen Herausforderungen.“ Im Klartext: Der Wirtschaftsminister hat eine Anwaltkanzlei mit der Abfassung eines Gesetzes betraut, das direkt die Interessen deren wichtigster Kunden berührt. Man muss sich nicht wundern, wenn sie den Auftrag zu deren vollster Zufriedenheit erledigt.

Der Staat wird auf eine Weise von Wirtschaftsinteressen gekapert, dass man ohne viel Übertreibung von „Government Inc.“ – von der „Regierung GmbH“ – sprechen kann. Unser Wirtschaftssystem ist in den letzten Jahren zum Klepto-Kapitalismus verkommen.

Passivität der Bürger, ihr Rückzug ins Private, ihr Desinteresse an der Politik und ihr Verdruss über die Politiker auf der einen Seite – und die Plünderung des Staates durch Wirtschaftsmächte auf der anderen Seite: Die Machtlosigkeit der Bürger und die Übermacht von Wirtschaftsinteressen hängen eng zusammen. Wenn wir unsere Gesellschaften verbessern wollen, müssen wir unsere Demokratie funktionstüchtiger machen. Schon vor zehn Jahren erklärte Tony Blairs intellektueller Stichwortgeber, der Soziologe Anthony Giddens: „Was wir brauchen, ist eine zweite Welle der Demokratisierung – oder, wie ich das nenne, die Demokratisierung der Demokratie.“  Und er hat damit völlig recht.

Keine echte Demokratie ohne echte Wahlmöglichkeiten

Es wäre schon etwas getan, wenn die großen Parteien der demokratischen Linken ihre Fantasie vom „Konsens der Mitte“ aufgäben und ein klar konturiertes Gegenmodell zum neoliberalen Einheitsdenken formulierten – so in etwa lautet die These der belgisch-britischen Philosophin Chantal Mouffe. Oder, wie Tony Judt das formulierte: „Eine Demokratie des permanenten Konsenses wird nicht lange eine Demokratie bleiben.“ Wenn die Bürger wieder erkennen können, wofür die Parteien der demokratischen Linken stehen, wenn diese ihnen eine erkennbare Alternative anböten, dann gäbe es, salopp gesagt, nicht nur Wahlen – sondern sogar Wahlen mit einer echten Wahlmöglichkeit.

Wir brauchen auch mehr partizipatorische Elemente in unserem demokratischen System. Parteien müssen sich öffnen, und sie müssen den Bürgern das Gefühl geben, dass ihre Stimme zählt. Wenn der allgemeine Passivismus überwunden werden soll, muss in Kernfragen der Politik lebendige Mitbestimmung ermöglicht werden. Ein Exempel, das jeder kennt, sind natürlich die Nominierungsprozesse der Parteien vor den Präsidentschaftswahlen in den USA. Wenn hier Kandidaten zu überzeugen vermögen, können sie hunderttausende Bürger zu den Versammlungen und Diskussionen in Rathäusern und Gemeindesälen locken und Millionen Bürger zu ihrer Stimmabgabe motivieren. Ein anderes berühmtes Exempel ist die südbrasilianische Stadt Porto Alegre, wo die Einwohner an den Haushaltsbeschlüssen beteiligt sind. Im Rahmen des orçamento participativo legen die Bürger die Prioritäten der Politik fest und bestimmen verbindlich mit, wofür das Geld, das im Budget der Stadt ist, verwendet werden soll. Das spanische Rubí eifert diesem Modell mittlerweile nach, und auch in deutschen Städten werden gemäßigtere Varianten des „Bürgerhaushalts“ ausprobiert – in Emsdetten etwa, in Hamm, in Hilden, in Castrop-Rauxel. In Köln wurde probeweise unter dem Motto: „Deine Stadt – Dein Geld“ den Bürgern die Möglichkeit gegeben, Vorschläge für die Budgetposten „Bildung“ und „Umweltschutz“ einzureichen. 10.000 Bürger haben sich auf irgendeine Weise beteiligt und 1.254 konkrete Vorschläge unterbreitet. Von den Bürgern wurden daraufhin die Vorschläge gereiht. Jene 100 Vorschläge, die in den Augen der Bürger am umsetzungswürdigsten erschienen, wurden der Kommunalpolitik unterbreitet. Laut einer Zwischenbilanz wurden tatsächlich rund 80 Prozent dieser Ideen umgesetzt.

Viele Bürger sind sich sicher, dass der Staat ein bürokratisches Monstrum ist, das ihnen ihr Geld in Form von Steuerzahlungen und Abgaben abknöpft und unproduktiv in irgendwelchen dunklen Kanälen verschwinden lässt. „Wer den Staat als Monster sieht, geht davon aus, dass das ganze gute Geld ... in schwarzen Löchern von Bürokratie und Politikerdiäten verschwindet“, schreibt Peter Bofinger, der deutsche Wirtschaftsprofessor und Wirtschaftsweise. Neokonservative und neoliberale Propagandisten wollen natürlich, dass die Bürger den Staat genauso abschätzig beurteilen. Sieht man sich aber genau an, wofür der Staat das Geld aufwendet, „dann findet man eigentlich kaum Positionen, bei denen man das Gefühl hat, dass das Geld nicht für die Bürger, sondern für den Staat ausgegeben wird“. Doch der Staat muss für die Bürger wesentlich transparenter werden, wenn der antipolitische Verdruss bekämpft werden soll. Bofinger: „Die Menschen müssen in einfacher Weise nachvollziehen können, wofür ihre Steuern und Abgaben ausgegeben werden. Jeder Bürger sollte zudem für sich selbst nicht nur wissen, wie viel Geld er dem Staat gibt, sondern zugleich auch, was er an Transfers vom Staat erhält.“

Viele Bürger, vor allem in unterprivilegierten Wohnbezirken, haben das Gefühl, dass sich im Grunde niemand für sie interessiert. In ihren Vierteln ballen sich die sozialen Probleme, oft ziehen hier jene Migrantengruppen ein, die materiell sehr schlecht gestellt sind, die die Sprache kaum sprechen, am Arbeitsmarkt keine Chance haben – und deren Kinder schon mit erheblichen Nachteilen ins Leben starten. Wer es sich von den alteingesessenen Bürgern leisten kann, zieht weg – zurück bleiben die Armen, schlecht Ausgebildeten, Chancenlosen beider Gruppen, der Migranten und der Alteingesessenen. Zwischen den verschiedenen Gruppen von Unterprivilegierten kommt es oft zu Konflikten. Alle zusammen fühlen sich mit ihren Problemen alleingelassen. Früher haben die großen Parteien der demokratischen Linken in solchen Vierteln für sozialen Zusammenhalt gesorgt: die Sozialdemokraten, aber auch – etwa in Italien oder Frankreich – die Kommunisten. Man organisierte die Unterprivilegierten, gab ihnen damit auch die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Diese lokalen Organisationen waren für die Menschen auch so etwas wie „Heimat“, Gruppen von Gleichgesinnten, in deren Kreis sie sich wohl und mit ihren Problemen nicht alleingelassen fühlten.

Die lassen sich hier nie sehen“

Oft übten die örtlichen Parteifunktionäre eine – mal subtile, mal offene – soziale Kontrolle aus. Natürlich hatte das auch eine autoritäre, paternalistische Schlagseite. Nicht selten benahmen sich diese Funktionäre wie kleine Lokal-Diktatoren, Mini-Apparatschiks, was viele Leute abstieß. Man denke nur an die karikaturhafte, aber nicht ganz realitätsferne TV-Figur des kommunistischen Dorfbürgermeisters in „Don Camillo und Peppone“. Früher hat man diesen Funktionären womöglich vorgehalten: „Die wollen überall ihre Finger drin haben.“ Heute setzt es gegenüber der Politik dagegen einen ganz anderen Vorwurf: „Die lassen sich hier nie sehen.“ Und: „Die interessieren sich nicht für uns.“

Vieles vom Verdruss und dem Ressentiment gegen die Politik speist sich aus diesem Gefühl, dass sich die Politik in den Augen vieler Menschen für uns gar nicht mehr interessiert. Dem kann man nur begegnen, wenn man vor Ort präsent ist. Und zwar nicht, indem man versucht, mit Sozialarbeit die Probleme zu verwalten. Ein viel besseres Konzept ist es, Gemeinwesenarbeit nach dem Vorbild des amerikanischen community organizing zu betreiben. Aber was ist das genau, „Gemeinwesenarbeit“? „Die Menschen finden, dass ihnen niemand zuhört“, sagt Renate Schnee, die das Stadtteilzentrum „Bassena“ am Schöpfwerk leitet, einer Wohnblockanlage im Süden Wiens. Sie sind wütend und zornig, gewöhnen sich aber auch sehr schnell an ihre benachteiligte Lebenssituation. Anders als „normale“ Sozialarbeit, versucht Renate Schnee aber nicht nur Konflikte zu schlichten und die Bürger in ihrem Elend zu „betreuen“. Sie will sie dazu bringen, sich zusammenzutun.

Es gibt natürlich nicht nur ein einziges Modell für Gemeinwesenarbeit. Auch die Ziele können variieren: Man kann sich für den Stadtteil einsetzen, oder Migranten eines bestimmten Viertels gegen Rassismus aktivieren, alle Unterprivilegierten zusammenbringen, damit sie in die Lage kommen, ihre Stimme zu erheben, oder die Unterprivilegierten und die Bessergestellten zusammenführen, um sich gemeinsam dafür einzusetzen, ihre Wohngegend lebenswerter zu machen und für alle bessere Bedingungen für ein gutes Leben zu erreichen. Aber welchen Weg man auch immer wählt: Leitmotiv progressiver Politik muss einfach sein, dass sie sich für die Bürger nützlich macht. „Zur Hölle mit der Wohltätigkeit“, formulierte Saul Alinsky, ein Chicagoer Bürgerrechtler, der das Konzept des community organizing entwickelt hat. „Man kriegt nur etwas, wenn man stark genug ist – also muss man sich organisieren.“ Alinskys Konzept, dass progressive Politik die Bürger in Grasswurzelgruppen organisieren muss („Hinterhof-Nachbarschafts-Rat“ hieß seine Dachorganisation), hat noch immer großen Einfluss auf linksliberale Politiker in den USA: Hillary Clinton hat 1969 ihre Abschlussarbeit am College über Alinsky geschrieben, und Barack Obama arbeitete in den neunziger Jahren selbst als community organizer in Chicago – bevor er in die Politik wechselte. Noch die Art, wie er seinen Wahlkampf organisierte, zehrte signifikant von diesen Erfahrungen.

„Weiter so“ und scheitern – oder „sich ändern“ und wieder Tritt fassen

Als Außenseiter war Obama darauf angewiesen, dass sich hunderttausende Aktivisten für ihn einsetzen. Schon sehr früh hat seine Wahlkampagne begonnen, Graswurzelaktivisten dazu zu motivieren, sich selbst im Wahlkampf zu engagieren – ihre eigenen „Pro-Obama“-Gruppen zu gründen. Da Obama nicht über jene Menge finanzkräftiger Unterstützer verfügte wie etwa seine innerparteiliche Rivalin, war er auch auf Kleinspenden von Millionen Bürgern angewiesen. Und gerade diese bescherten ihm einen Spendenrekord – er war am Ende der finanziell bestausgestattete Präsidentschaftskandidat der amerikanischen Geschichte. Gewiss: Barack Obama ist als Charismatiker eine Ausnahmeerscheinung unter den zeitgenössischen progressiven Politikern, nach acht Jahren Bush-Ära war das Land zudem polarisiert und viele Menschen brannten auf einen Neubeginn. Aber seine Wahlkampagne zeigte, was heute möglich ist.

Obama hat die Möglichkeiten des Internets genutzt wie kein Politiker zuvor – und auch wie keine politische Kampagne seither. Mit der Hilfe von Chris Hughes, einem der Gründer von Facebook, wurde die Obama-Website als „Social Network“ organisiert. Jeder konnte mitmachen bei „MyBarackObama.com“, seine eigenen Veranstaltungen eintragen, seine Freunde einladen und sein „eigenes Ding“ für Obama machen. Obamas Wahlkampfmanager gerierten sich dabei auch überhaupt nicht wie Kontroll-Freaks, im Gegenteil. Man freute sich, wenn jemand etwas für den Kandidaten tat – und fragte nicht misstrauisch, ob der oder die denn auf Linie sei, wie das bei vielen bürokratisierten Apparatparteien der Fall ist. Natürlich ist das nicht ohne Risiko. So „enthüllte“ der rechte TV-Sender Fox News, dass in einem Büro freiwilliger Obama-Helfer in Houston eine Che-Guevara-Fahne hänge – damit glaubte man den Kandidaten als gefährlichen Kommunisten enttarnt zu haben. „Das ist ein Büro Freiwilliger“, so das Statement der Kampagnenleitung, „nichts, worüber wir die Kontrolle haben.“ Im Internet gebe es eben auch „eine Menge Mist“, sagte Obamas Chefstratege David Axelrod damals, „aber es ist vor allem eine mächtige Kraft zur Demokratisierung“. Von Beginn an hat die Obama-Kampagne alles daran gesetzt, so viele E-Mail-Adressen wie möglich zu sammeln, um aus ideellen Unterstützern aktive Wahlhelfer und Spender zu machen. Die großen Massenveranstaltungen mit Obama, etwa in Fußballstadien mit 70.000 oder mehr Besuchern, hatten nicht zuletzt den Zweck, dass man bei allen Ausgängen Wahlhelfer postieren konnte, die die Bürger um ihre E-Mail-Adressen fragen konnten.

Das Web 2.0 hat als „Mitmach-Netz“ ein Potenzial für eine Demokratisierung der Demokratie, deren Bedeutung noch gar nicht richtig begriffen worden ist. Auch progressiven Parteien fehlt oft ein elementares Verständnis für den Geist dieses neuen Mediums. So glauben sie oft, es wäre für sie schon etwas gewonnen, wenn sie mäßig interaktive Websites wie klassische One-Way-Medien nutzen können, mittels derer sie ihre PR-Botschaften ausschicken und die sie nach dem gewohnten hierarchischen Top-Down-Führungsstil kontrollieren können.

Progressive Politik muss vor allem die Bürger, die passiv und wütend am Rand stehen, ansprechen, sie muss sich um sie bemühen, sie muss sich für sie nützlich machen und sie ermächtigen, ihre Stimme zu erheben. Wenn sie den Verdruss über „den Staat“ bekämpfen will, muss sie die Bürger aktiv in die Politik einbeziehen, ihnen neue Partizipationsmöglichkeiten eröffnen. Sie hat eine Bringschuld und sie muss alle Kanäle nützen. Und sie braucht einen langen Atem, auch wenn sich anfangs nur wenige beteiligen. Der Staat und das Regieren selbst müssen transparenter werden, damit die Bürger sehen, wofür die Regierung ihr Steuergeld ausgibt. Die Parteienfinanzierung sollte so geregelt werden, dass der Einfluss mächtiger Lobbygruppen beschränkt und umgekehrt der Einfluss der normalen Bürger gestärkt wird. Die staatliche Parteienförderung soll sich nicht nur – wie bisher etwa in Deutschland und Österreich – an den Wahlergebnissen orientieren, die Parteien sollten auch einen bestimmten Betrag an Förderung für jedes ordentliche Parteimitglied erhalten. Das würde den Anreiz für Parteien erhöhen, so viele Mitglieder wie möglich zu werben und damit ein lebendiges demokratisches Innenleben von Parteien begünstigen. Die Parteien der demokratischen Linken müssen zudem ihre introvertierte Orientierung auf ihr Binnenleben aufgeben und sich so öffnen, dass sie selbst zu Mitmach-Parteien werden. Tun sie das nicht und fahren fort wie bisher, werden sie schwächer und schwächer werden. Um das so deutlich wie möglich zu sagen: Sie haben nicht die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten – weiter so funktionieren oder anders funktionieren. Sie haben nur die Wahl zwischen „Weiter so“ und scheitern oder „sich ändern“ und wieder Tritt fassen. Und sie müssen den Bürgern sagen, wo sie hin wollen und ihnen eine klar konturierte Alternative zum Einheitsbrei bieten. Nur so ist es möglich, die Demokratie wieder mit Leben zu füllen. «

Die hier vorgestellten Überlegungen führt Robert Misik in seinem neuen Buch aus, das in diesen Tagen erscheint: Robert Misik, Anleitung zur Weltverbesserung: Das machen wir doch mit links, Berlin: Aufbau Verlag 2010


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