Mehr Demokratie für Europa - aber wie?

Lange Zeit war es eine gängige Weisheit des deutschen Politikbetriebs, dass zwischen der relativen Unpopularität der Europäischen Union und ihrem »Demokratiedefizit« ein innerer Zusammenhang bestehe. Zwar preisen ehemalige Anhänger dieser These inzwischen die Vorteile des Intergouvernementalismus Marke »Merkozy«. Doch es bleibt dabei: Europa muss sich demokratischer organisieren, um die Europäer besser zu erreichen. Hier steht, wie es ganz praktisch gehen könnte.

Die Rede vom „Demokratiedefizit“ in der Europäischen Union ist mittlerweile nicht mehr nur unter Politologen, sondern auch unter Politikern gängige Münze. An der Bereitschaft, daraus endlich Konsequenzen zu ziehen und einer weiteren Delegitimierung des Integrationsprojekts entgegenzuwirken, mangelt es den europäischen Staatenlenkern aber wie ehedem. Dies gilt auch – und gerade – für die Deutschen. Wie ernst man es hierzulande mit der Demokratie meint, zeigten die Reaktionen der Bundesregierung, als der griechische Premierminister Giorgos Papandreou über die seinem Land auferlegten Souveränitätsverzichte das Volk anrufen wollte. Bekanntlich musste das Referendum auf Druck der EU abgeblasen werden und Papandreou den Hut nehmen. Und noch vor wenigen Wochen empfahl Finanzminister Wolfgang Schäuble den Griechen, die für April geplanten Parlamentswahlen besser zu verschieben, was eine geharnischte Reaktion des griechischen Staatspräsidenten Karolos Papoulias nach sich zog. Dass Deutschland vor dem Beschluss über das erste Rettungspaket auf seine eigene Souveränität vehement gepocht hatte, indem Angela Merkel nicht ohne Plazet des Bundestages nach Brüssel fahren durfte, wurde geflissentlich verdrängt.

Seitdem die EU im Zuge der Osterweiterung ihre Mitgliederschaft fast verdoppelt hat, ist der Trend zum Intergouvernementalismus unübersehbar. Der Vertrag von Lissabon trägt dem durch das neu geschaffene Amt eines permanenten Ratspräsidenten Rechnung, das zurzeit mit dem Belgier Herman van Rompuy besetzt ist. Während die Deutschen – zumindest offiziell – am Gleichgewicht der intergouvernementalen und supranationalen Institutionen festhalten, ist für die Franzosen die Vorstellung einer vertieften Integration von jeher gleichbedeutend gewesen mit einer Zusammenarbeit der Staaten auf Ebene der Regierungen. Die Führungsrolle des deutsch-französischen Tandems („Merkozy“) bei der Euro-Rettung, die von den kleineren EU-Staaten eher murrend als widerstrebend hingenommen wurde, hat dazu geführt, dass die Fürsprecher der zwischenstaatlichen Methode mittlerweile auch in der Bundesrepublik immer mehr Boden gewinnen.

Warum Europas supranationale Institutionen gestärkt werden müssen

Die zuletzt genannte Position wird heute nicht nur vom euroskeptischen Flügel der bayerischen CSU vertreten, sondern bezeichnenderweise auch vom früheren Außenminister Joschka Fischer. Dieser betrachtet die Schaffung der supranationalen Strukturen sogar als Fehler, den die Eurozone nicht wiederholen dürfe. Denn die Erfahrung zeige, dass „weder EU-Kommission noch Europaparlament über die notwendige demokratische Legitimation in den nationalen Öffentlichkeiten verfügen, die für jede Demokratie unerlässlich ist“, so Fischer in der Süddeutschen Zeitung. Das Demokratiedefizit des intergouvernementalen Modells möchte Fischer durch die Einrichtung einer neuen „Eurokammer“ beheben, die aus entsandten Mitgliedern der nationalen Parlamente zusammengesetzt ist. Als „echtes parlamentarisches Kontroll- und Entscheidungsorgan“ an der Seite der Staats- und Regierungschefs würde dieses an die Stelle des heutigen, direkt gewählten Europäischen Parlaments treten.

Dass ein solches Modell in der Praxis große Probleme aufwirft, liegt auf der Hand. Denn so wenig die Staats- und Regierungschefs eine effektive Regierungszusammenarbeit herstellen können, wenn sie sich zwei- oder dreimal im Halbjahr turnusmäßig treffen, so unerfindlich bleibt, wie die Parlamentarier es schaffen sollen, neben ihrem Job als nationale Abgeordnete auch noch die europäischen Gesetzgebungsprozesse zu überwachen und mitzugestalten. Darüber hinaus ist die Eurozone schon heute zu groß, als dass sie auf der Basis einstimmig getroffener Entscheidungen funktionieren könnte, die das Modell der Regierungszusammenarbeit voraussetzt. Treten weitere Staaten hinzu, was ja das erklärte Ziel der „Avantgarde“-Konzeptionen ist, würde der dann notwendige Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen das demokratische Defizit dramatisch verschärfen.

Die Antwort auf das europäische Regierungsproblem liegt nicht in der Preisgabe, sondern in der Stärkung der supranationalen Institutionen. Dies bedeutet erstens, dass die neuen fiskal- und wirtschaftspolitischen Zuständigkeiten bei der Kommission angesiedelt werden, wie es deren Präsident José Manuel Barroso gefordert hat. Genauer gesagt müssten sie demselben Entscheidungsverfahren unterworfen werden wie die Regulierung des Binnenmarktes, die bis heute den Kern der Gemeinschaftspolitiken umschreibt. Demnach geht die Initiative für eine Verordnung oder Richtlinie von der Kommission aus; der Beschluss erfolgt durch die Vertreter der nationalen Regierungen im Rat; das Parlament muss zustimmen, entscheidet also gleichberechtigt mit.

Zweitens muss das Parlament in seiner institutionellen Position weiter gestärkt werden. Dies bedeutet nicht nur, dass dessen oberster Repräsentant bei den Beratungen im Europäischen Rat künftig mit am Tisch sitzt, wie es der selbstbewusst auftretende neue Parlamentspräsident Martin Schulz von den Staats- und Regierungschefs kürzlich verlangt hat. Anzustreben ist vielmehr die volle gesetzgeberische Gleichstellung mit dem Rat. Das heißt zum einen, dass es keine Bereiche mehr geben darf, in denen der Rat einstimmig entscheidet. Zum anderen müsste das Europäische Parlament auch das Beschlussrecht über die Gesetze erhalten, das bisher ausschließlich dem Rat zusteht – nur so kann es den Status einer bloßen „zweiten“ Kammer überwinden. Außerdem wird man ihm das Recht der Gesetzesinitiative nicht länger vorenthalten dürfen, das heute allein bei der Kommission liegt.

Drittens – und das ist besonders wichtig – muss die demokratische Verantwortlichkeit der supranationalen Institutionen hergestellt werden. Dies erfordert europäische Wahlen, in denen die Unionsbürger über das Regierungspersonal und die Grundrichtung der Regierungspolitik in der EU entscheiden. Die heutigen Wahlen zum Europäischen Parlament erfüllen diese Bedingung nicht, weil sie mit der Bestellung der europäischen Regierung allenfalls lose verknüpft sind. Der Lissabon-Vertrag bestimmt zwar, dass bei der Nominierung des Kommissionspräsidenten, über die der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit befindet, die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament „zu berücksichtigen“ seien. Das Parlament konnte die darin liegenden institutionellen Möglichkeiten bislang aber nicht ausschöpfen, weil sich die dort vertretenen Parteien stets weigerten, mit einem europaweiten Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten anzutreten. Die Wahlen zum Europäischen Parlament blieben deshalb ganz der nationalen Sphäre verhaftet und dienten Parteien und Wählern vor allem zu innenpolitischen Zwecken.

Jürgen Habermas und Europas transnationale Öffentlichkeit

Während Joschka Fischer seiner früheren Position abgeschworen hat und eine Abkehr vom supranationalen Leitbild empfiehlt, hält Jürgen Habermas in seinem neuen Buch Zur Verfassung Europas an der Vorstellung fest, eine Verstärkung der Demokratie auf der supranationalen Ebene sei nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich. Dem intergouvernementalen Weg, den Merkel und Sarkozy bei der Lösung der Schuldenkrise eingeschlagen haben (und den auch Fischer favorisiert), stellt er das Modell einer europäischen Föderation entgegen, der zunächst aber nur ein kleinerer Kreis besonders integrationswilliger Mitglieder angehören könne. Der Schlüssel der Demokratisierung liegt laut Habermas in der Herstellung einer transnationalen, europäischen Öffentlichkeit. Dazu seien auf der einen Seite Verhaltensänderungen geboten – etwa vonseiten der Medien, die über europäische Themen gegenwärtig viel zu wenig berichteten. Auf der anderen Seite müssten Institutionen geschaffen werden, die eine Europäisierung der auf Wahlen bezogenen Willensbildung ermöglichten. Dabei sei – so Habermas – Fantasie gefragt.

Habermas’ eigene Vorschläge bleiben gemessen daran relativ konventionell. Anknüpfend an die Idee einer zwischen Unionsbürgern und Mitgliedsstaaten geteilten Souveränität propagiert er die Ausgestaltung des europäischen Gesetzgebers als paritätisches Zweikammersystem. Abweichend von einem „normalen“ Bundesstaat seien lediglich die Stellung der Kommission, die sowohl vom Parlament als auch vom Rat abhänge und beiden Organen gegenüber verantwortlich sei, sowie die Existenz des Europäischen Rates als übergeordnetem Leitungsorgan, an dem offenbar auch Habermas nicht rütteln möchte. Äußerst vage bleibt der Philosoph bei der institutionellen Kernfrage der Demokratisierung, wie nämlich Parlaments- und Regierungswahlen miteinander zu verkoppeln seien. Hier orientiert er sich wie die meisten Befürworter einer supranationalen Demokratisierung am parlamentarischen System, das uns aus dem nationalstaatlichen Kontext vertraut ist. Darauf deutet zum einen sein Hinweis auf die Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber dem Parlament hin, aber auch die Forderung nach einer Transnationalisierung der Wahlen zum Europäischen Parlament, die mit der Schaffung eines einheitlichen Wahlrechts und einer „gewissen“ Europäisierung des bestehenden Parteiensystems einhergehen müsse.

Viviane Reding und die Logik des parlamentarischen Systems

Wesentlich konkretere Vorstellungen von der Weiterentwicklung der EU zu einem parlamentarischen System hegt die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Viviane Reding. In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schlägt sie erstens eine institutionelle Aufwertung der Kommission vor, deren Präsident künftig gleichzeitig die Funktion des Ratspräsidenten wahrnehmen solle. Der bestehende Lissabon-Vertrag lasse eine solche Konstellation ausdrücklich zu. Diese würde der so genannten „Doppelhut-Lösung“ entsprechen, die man dort für das Amt des Außenbeauftragten gefunden hat. Zweitens fordert Reding das Alleinrecht des Parlaments, die Kommission zu wählen. Die Staats- und Regierungschefs wären bei deren Bestellung damit künftig „außen vor“ und die Kommission ausschließlich der direkt gewählten Kammer verantwortlich – so wie im parlamentarischen System üblich. Im Gegenzug müsse der Kommissionspräsident die Befugnis erhalten, das Europaparlament gegebenenfalls aufzulösen. Der aus Luxemburg stammenden Kommissarin schwebt also ein Regierungssystem vor, das auf dem Gegenüber von regierender Mehrheit und Opposition basiert.

Ob ein solches Modell auf EU-Ebene tatsächlich funktionieren würde, ist fraglich. Angesichts der Vielparteienstruktur des Europäischen Parlaments wäre die Bildung einer Regierungskoalition hier vermutlich noch schwieriger als in den nationalen parlamentarischen Demokratien, in denen vergleichbare Vielparteiensysteme existieren. Daran würde auch ein Auflösungsrecht nichts ändern. Die auf dem Gegenüber von

Regierung und Opposition beruhende Logik des parlamentarischen Systems setzt organisatorisch und ideologisch festgefügte Fraktionen voraus, was an die Europäisierung der bisher nur locker verbundenen nationalen Parteien in der EU hohe Anforderungen stellt. Die Bildung einer kleinen Gewinnerkoalition aus bürgerlichen oder linken Parteien erscheint vor diesem Hintergrund kaum vorstellbar. Wahrscheinlicher ist, dass die beiden großen Parteienfamilien im Europäischen Parlament – Christdemokraten/Konservative und Sozialdemokraten – ihre bisherige Zusammenarbeit in eine förmliche Koalition überführen würden. Die Bürger könnten dann bei Wahlen nur noch darüber entscheiden, welche der Parteien als stärkste Kraft das Amt des Kommissionspräsidenten besetzen darf. Dies wäre verglichen mit dem heutigen Zustand ein bescheidener Fortschritt.

Sinnvoller wäre es, den Bürgern das Recht zu geben, den Kommissionspräsidenten direkt zu wählen. Dies käme einem Wechsel vom parlamentarischen zum präsidentiellen Regierungsmodell gleich. Ein solches System würde das Parlament nicht zur Bildung einer förmlichen Regierungskoalition zwingen, die die Kommission bestellt und im Amt hält. Die Fraktionen könnten also wie bisher unterschiedliche legislative Abstimmungskoalitionen eingehen und dadurch ihre Macht im Gesetzgebungsprozess ausspielen. Diese Macht würden sie bei einer Fusionierung der Gewalten notgedrungen einbüßen.

Direktwahl des Kommissionspräsidenten – ein radikaler Reformschritt?

Auf den ersten Blick sieht es so aus, dass die Direktwahl des Kommissionspräsidenten ein radikalerer Reformschritt sei als die von den Befürwortern des parlamentarischen Wegs empfohlene Wahl durch das Europaparlament. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass sie der gewaltentrennenden Grundstruktur des bestehenden europäischen Entscheidungssystems ziemlich genau entspricht. Ihre Einführung würde weder die gleichzeitige Schaffung eines Auflösungsrechts noch eine Neuregelung beim Misstrauensvotum gegen die Kommission erforderlich machen, das bisher eine Zweidrittelmehrheit im Europäischen Parlament voraussetzt. Fraglich wäre lediglich, ob das Parlament sein heutiges Recht, die einzelnen Kommissionsmitglieder beziehungsweise die Gesamtkommission vor ihrem Amtsantritt zu bestätigen, auch bei einer Direktwahl behalten könnte.

Dies führt zu den Problemen der näheren Ausgestaltung des Vorschlags, für die sich auch die Befürworter der präsidentiellen Strategie bisher nur mäßig interessiert haben. Was die Nominierung der Kandidaten angeht, läge diese bei einer Direktwahl genauso in der Hand der europäischen Parteien wie bei einer Wahl durch das Parlament. Der von Kritikern gelegentlich erhobene Einwand, die Direktwahl würde zu einer Majorisierung der kleinen Staaten durch die großen führen, trifft daher auch auf das parlamentarische Modell zu. Der Einwand ist ohnehin falsch, da es für die Auswahl der Kandidaten vor allem auf deren Siegchancen ankommt. Dass kleine Länder imstande sind, namhafte und ausgewiesene Kandidaten hervorzubringen, lässt sich an Politikern wie Guy Verhofstadt oder Jean-Claude Juncker ablesen, die wiederholt für höchste europäische Ämter gehandelt wurden. Auch die Nominierungsregeln sprechen nicht für eine automatische Bevorzugung der Großen. Hier könnte womöglich das genaue Gegenteil eintreten und ein Kandidat aus einem kleinen Land lachender Dritter sein, wenn sich die nationalen Parteiorganisationen der großen Länder im parteiinternen Auswahlverfahren wechselseitig blockieren.

Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob der Präsident in einem ein- oder zweistufigen Verfahren gewählt werden soll. Das zweistufige Verfahren ist demokratisch sauberer, weil es sicherstellt, dass der siegreiche Kandidat in der Stichwahl über die absolute Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen verfügt. Der Nachteil liegt in einer (vermutlich) geringeren Wahlbeteiligung, weil die Wähler dann innerhalb kurzer Frist zweimal zu den europäischen Urnen gerufen werden müssten. Hält man am Erfordernis der absoluten Mehrheit fest, empfiehlt es sich, den ersten Wahlgang mit den Wahlen zum Europäischen Parlament zusammenzulegen. Diese würden damit von der höheren Mobilisierungswirkung der Direktwahl automatisch mit profitieren.

Als nächstes stellt sich die Frage nach der Bestellung der Gesamtkommission beziehungsweise der Auswahl der einzelnen Kommissare. Eine Möglichkeit läge darin, dies dem Kommissionspräsidenten zu überlassen; dadurch würde seine institutionelle Position stark aufgewertet. Es wäre mit Blick auf die Direktwahl zwar konsequent, änderte aber nichts daran, dass der Kommissionspräsident bei der Auswahl seines Teams auf Vorschläge aus den Mitgliedsstaaten angewiesen bliebe. Dies gilt zumal, wenn man an dem heutigen Prinzip festhält, dass alle Mitgliedsstaaten in der Kommission gleichberechtigt vertreten sein sollen – ein Prinzip, das deren Funktionsfähigkeit in einer Gemeinschaft von 27 oder mehr Mitgliedern zwangsläufig beeinträchtigt. Vier Probleme müssen also gleichzeitig gelöst werden: Wie groß soll und darf die Kommission sein? Wie kann eine angemessene Vertretung möglichst aller Mitgliedsstaaten in der Kommission gewährleistet werden? Wer wählt die Kommissare aus? Und wer entscheidet, welcher Kommissar welches Ressort übernimmt?

Wir wissen aus der Organisationsforschung, dass ein gut funktionierendes Gremium die Zahl von 15 Mitgliedern nicht überschreiten sollte. Um das Proporzproblem zu lösen, könnte man deshalb jedem Kommissionsmitglied einen Stellvertreter zugesellen. Zieht man den direkt gewählten Präsidenten ab, stünden so insgesamt 28 (zwei mal 14) Posten zur Verfügung, die zu besetzen sind; kein Land müsste leer ausgehen. Schwieriger ist die Verteilung der 14 Kommissarsposten. Weil die großen Länder auf ihren Vertretungsanspruch kaum verzichten werden, drohen unweigerlich Konflikte. Diese ließen sich vielleicht vermeiden, wenn man die Verteilung – statt sie mühsam auszuhandeln – im Rahmen einer „gewichteten Lotterie“ auslost, wie es der Politikwissenschaftler Hubertus Buchstein vorgeschlagen hat. Die Gewichtung folgt dabei dem Prinzip der degressiven Proportionalität, das der Sitzverteilung im Europäischen Parlament zugrundeliegt; dieses Prinzip bewirkt eine leichte Unterrepräsentation der großen und eine starke Überrepräsentation der kleinen Länder. Seine Übertragung auf das Losverfahren würde bedeuten, dass die großen Länder mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Kommission vertreten wären. Gleichzeitig hätten aber auch die kleinen Länder eine faire Vertretungschance. Fiele das Los auf sie, könnte man sie nicht mehr mit den unwichtigsten Ressorts abspeisen. Andernfalls stünde ihnen zumindest ein Stellvertreterposten zu.

Der direkt gewählte Präsident sollte Kommissionsmitglieder benennen können

Auch im Rahmen der Proporzregel kann der Kommissionspräsident über die Ernennung der Kommissare und ihrer Stellvertreter nicht allein entscheiden. Die Mitgliedsstaaten behalten das Recht, entsprechende Kandidaten zu nominieren. So wie es heute geregelt ist, bleibt das Nominierungsverfahren allerdings in doppelter Hinsicht unbefriedigend. Denn der Kommissionspräsident kann sich einem Vorschlag faktisch nicht verweigern, er muss also die Kandidaten akzeptieren, die ihm die Mitgliedsstaaten „vorsetzen“. Die im Verfassungskonvent ursprünglich vorgesehene Lösung, ihn unter drei Vorschlägen auswählen zu lassen, wäre sinnvoller gewesen. Außerdem liegt das Nominierungsrecht allein bei den nationalen Regierungen. Dies führt dazu, dass die parteipolitische Zusammensetzung der Kommission heute mehr oder weniger derjenigen des Rates entspricht. Wenn der Kommissionspräsident direkt gewählt wird, dann sollte er aber auch das Mandat haben, gerade solche Personen in seine Mannschaft aufzunehmen, die gleichgerichtete politische Ziele verfolgen.

Beide Probleme ließen sich beheben, wenn die Wähler das Recht hätten, die nationalen Kandidaten für die Kommission ebenfalls direkt zu wählen. Damit gäbe es nicht nur einen zusätzlichen Anreiz, sich an den Europawahlen zu beteiligen. Auch fiele es den Parteien vermutlich leichter, für einen Spitzenkandidaten aus einem anderen Land zu trommeln, wenn diesem ein Kandidat aus dem eigenen Land zur Seite stünde.

Konkret könnte das Verfahren wie folgt aussehen: Jeder Mitgliedsstaat wählt drei Personen, die dem Kommissionspräsidenten als Kandidaten für die Kommission vorgeschlagen werden. Die Nominierung der Personen erfolgt durch die nationalen Parteien in Abstimmung mit ihren europäischen Dachverbänden. Die Wahl findet gleichzeitig mit der Wahl des Kommissionspräsidenten und den Wahlen zum Europaparlament statt. Gewählt sind die Personen mit den meisten Stimmen. Nachdem die Auslosung erfolgt ist und feststeht, welches Land einen Kommissar stellen darf, ernennt der Kommissionspräsident die Mitglieder der Kommission und deren Stellvertreter aus dem Kreis der gewählten Kandidaten. Auch die Ressortzuteilung und die Bestimmung eines Vizepräsidenten kann er nach eigenem Ermessen vornehmen. Dass von den gewählten Kandidaten am Ende zwei Drittel leer ausgehen, wäre in Kauf zu nehmen, weil der Kommissionspräsident nur so über den nötigen Spielraum bei der Zusammenstellung seines Teams verfügt.

Verschiebung der Gewichte im Machtviereck

Ein schwer zu lösendes Problem in jedem präsidentiellen System ist die Nachfolgeregelung, falls der Kommissionspräsident durch Rücktritt, Absetzung oder Tod vorzeitig aus dem Amt scheidet. Hier könnte man entweder dem amerikanischen Vorbild folgen, wo der Vizepräsident für den Rest der Wahlperiode automatisch in das höchste Amt aufrückt. Oder man lässt den Kommissionspräsidenten und die Kommissare komplett neu wählen. Letzteres wäre im Falle der EU insofern konsequenter, als der Vizepräsident der Kommission im Unterschied zu seinem amerikanischen Pendant nicht auf dem Ticket des Präsidenten mitgewählt wird. Findet die Wahl nur für den Rest der Amtsperiode statt, könnte dann allerdings die missliche Situation auftreten, dass ein gerade erst gewählter Präsident sich schon nach kurzer Zeit erneut den Wählern stellen müsste. Als Ausweg bietet sich eine differenzierte Lösung an: Bei einem Ausscheiden bis zur Mitte der Amtszeit findet eine Neuwahl statt, bei einem späteren Ausscheiden greift die Nachfolgeregelung. Weniger zweckmäßig erscheint die Neuwahl einzelner Kommissare. Hier könnte bei einem vorzeitigen Ausscheiden der Stellvertreter nachrücken und die Regierung des Landes, aus dem der ausgeschiedene Kommissar stammt, im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten einen neuen Stellvertreter bestimmen.

Die legitimatorische Aufwertung, die das Amt des Kommissionspräsidenten durch eine Direktwahl erführe, würde die Gewichte im Machtviereck von Ministerrat, Parlament, Europäischem Rat und Kommission in Richtung der letzteren verschieben. Dies wäre noch nicht gleichbedeutend mit dem Wandel der Europäischen Union hin zu einer Mehrheitsdemokratie, da auch ein direkt gewählter Chef der europäischen Exekutive auf Dauer kaum gegen den Willen des Parlaments und der mitgliedsstaatlichen Regierungen regieren könnte. Wenn die Wahl des Kommissionspräsidenten zugleich eine politische Richtungsentscheidung sein soll, müssen diesem allerdings ausreichend Möglichkeiten an die Hand gegeben werden, um die Agenda der Gesetzgebung zu bestimmen. Schon heute hat die Kommission eine Art Vetobefugnis im Rechtsetzungsprozess, indem sie eine von ihr eingebrachte Vorlage jederzeit zurücknehmen kann. Darüber hinaus würde die Führungsrolle des Exekutivchefs gestärkt, wenn man das Amt – wie von Viviane Reding vorgeschlagen – mit dem Amt des permanenten Ratspräsidenten zusammenlegt. Vor allem aber bräuchte die Union auf mittlere und lange Sicht die Zuständigkeiten, die eine Wahl zwischen politischen Alternativen erst ermöglichen. Sie müsste zum Beispiel über ein deutlich höheres Budget verfügen und die Vergemeinschaftung der Außen-, Verteidigungs- und Einwanderungspolitik vorantreiben. Mit anderen Worten: Die Überwindung des Demokratiedefizits bedingt den Übergang der bisher überwiegend „negativen“ zur „positiven“ Integration.

Eine solche Integrationsvertiefung ist auch dann möglich, wenn nicht alle Staaten mitmachen. Die Direktwahl würde sogar dazu beitragen, die jeweiligen in- und out-groups stärker zu verklammern. Wenn die Kommission Entscheidungen fällt, die ausschließlich die Eurozone betreffen, wirken dabei ja auch die politischen Vertreter und Wähler der Länder mit, die dem Euro nicht angehören. Die supranationale Kommission unterscheidet sich darin von der intergouvernementalen Logik des Europäischen Rats und des Ministerrates, in denen die differenzierte Integration auch institutionell zum Ausdruck kommt. Eine Mittelstellung nimmt das Europäische Parlament ein. Ob die Abgeordneten aus den nicht beteiligten Staaten in diesem Fall berechtigt wären, an Abstimmungen teilzunehmen, die nur die Eurozone betreffen, ist eine bislang noch ungeklärte Frage. Von den Debatten ausschließen sollte man sie jedenfalls nicht. Auch im Europäischen Rat und im Rat der Finanzmister könnte man die Nicht-Mitglieder mit beratender Stimme aufnehmen, wie Polen es gerade fordert.

Bleibt die Frage nach den Verwirklichungschancen. Skeptiker meinen, dass Europa in der aktuellen Situation, in der die Zeichen eher auf Renationalisierung stehen und EU-kritische Populisten starken Zulauf erfahren, alles andere brauche als eine neue Verfassungsdiskussion. Nach der schweren Geburt des Lissabon-Vertrags scheint es in der Tat kaum vorstellbar, dass die Staats- und Regierungschefs in absehbarer Zukunft eine vergleichbare Kraftanstrengung auf sich nehmen könnten. Was für die Regierungen gilt, muss aber nicht unbedingt für Parteien, Medien oder andere zivilgesellschaftliche Akteure gelten – weder auf der nationalen noch auf der europäischen Ebene. So hat zum Beispiel die CDU auf ihrem Parteitag im vergangenen November die Forderung nach Einführung der Direktwahl in ihr Programm aufgenommen. Damit ist sie der SPD zumindest in diesem Punkt voraus, die am hergebrachten parlamentarischen Weg festhalten und das Demokratiedefizit lieber durch nationale Volksabstimmungen zur Europapolitik bekämpfen möchte. Die Parteien sollten keine Scheu haben, einen solchen Ideenwettbewerb um die künftige institutionelle Gestalt der Europäischen Union anzustoßen. Die Europawahlen in zwei Jahren böten eine gute Gelegenheit.


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