Madrid

Am Ende des Dritten Weges: Die Wähler spüren das Vakuum

Das Ergebnis der deutschen Bundestagswahl am 27. September 2009 wurde europaweit als durchschlagender Erfolg der Konservativen interpretiert. Für die Sozialdemokraten ist es die schlimmste Niederlage seit dem Zweiten Weltkrieg. Jetzt kann Angela Merkel ohne die SPD regieren und hat freie Hand für Steuersenkungen, Reformen des Arbeitsmarktes und eine unternehmerfreundliche Politik. Im Grunde haben die deutschen Wähler etwas Merkwürdiges getan: In einem Jahr, in dem Kapitalisten und Banker überall an den Pranger gestellt wurden, haben sie mit den Sozialdemokraten ausgerechnet diejenige Partei abgewählt, die sich für die Arbeitnehmer einsetzt. Stattdessen haben sie dafür gesorgt, dass Angela Merkel eine Koalition mit der wirtschaftsfreundlichen FDP eingehen kann.


Der Grund dafür, dass die SPD von links wie rechts vernichtend geschlagen wurde, liegt in der Wirtschaftspolitik. Als der Kapitalismus vor den größten Herausforderungen seit 75 Jahren stand und das Finanzsystem kurz vor dem Zusammenbruch war, haben die sozialdemokratischen Parteien Europas ebenso wie die übrigen linken Parteien keine überzeugenden Antworten auf die Fehler der rechten Parteien gefunden. Erst recht nicht haben sie von diesen Fehlern profitiert. Schon bei den Europawahlen im Juni hatten die europäischen Wähler linke Kandidaten abgestraft. So liegt Angela Merkels Sieg im Trend der anderen europäischen Länder wie Italien oder Frankreich; Großbritannien könnte in sechs Monaten folgen und ebenfalls eine konservative Regierung bekommen.


Auch in Spanien wird das Ergebnis der Bundestagswahl als die größte Krise der deutschen Sozialdemokratie seit Gründung der Bundesrepublik gedeutet. Ist es zugleich symptomatisch für eine allgemeine Krise der europäischen Sozialdemokratie? Sollten sich die spanischen Sozialisten deshalb also um ihre eigene Zukunft sorgen? Glücklicherweise haben die jüngsten sozialdemokratischen Siege in Portugal und Griechenland das Argument verwässert, Europa sei schlicht konservativ geworden. Unserer Meinung nach gibt es keinen generellen Trend zur Beharrung. Die Niederlage der SPD ist überwiegend spezifischen deutschen Umständen geschuldet.

Was die SPD versäumt hat

Zwar stimmt es, dass die SPD ihr schlechtestes Ergebnis aller Zeiten eingefahren hat. Aber auch die CDU hat so miserabel abgeschnitten wie seit 60 Jahren nicht mehr. Dass eine ehemalige Volkspartei ihre Mitglieder und ihre traditionelle Wählerbasis verliert, ist nicht gleichbedeutend mit einer Krise ihres ideenpolitischen Fundaments. Ebenso kann diese Entwicklung als Teil eines Trends aufgefasst werden, den Sozialwissenschaftler seit Jahren diagnostizieren, nämlich der Pluralisierung und Individualisierung der westlichen Gesellschaften sowie der wachsenden Parteienverdrossenheit.


Jenseits ihres schlechten Ergebnisses sollte den deutschen Sozialdemokraten vor allem zu denken geben, dass die Wähler einer Regierungskoalition mit den Liberalen den Weg bereitet haben. Schließlich verteidigt die FDP eben jene ökonomischen Konzepte, die gemeinhin als Ursache für die Krise der unkontrollierten Finanzmärkte gelten. Dennoch glauben viele Bürger, dass konservative Parteien die Wirtschaft besser steuern können als Sozialdemokraten. Rund 47 Prozent der befragten Wähler sahen die CDU bei diesem Thema als kompetent an, nur 21 Prozent die SPD. Andererseits: Wo 39 Prozent der Befragten angeben, die Wirtschaftspolitik sei ausschlaggebend für ihre Wahlentscheidung gewesen, und sie sich trotzdem für eigentlich diskreditierte wirtschaftspolitische Konzepte entscheiden, da haben es die Sozialdemokraten offensichtlich versäumt, eine attraktive und überzeugende Alternative anzubieten.  

Alarm bei Spaniens Sozialdemokraten?

Was bedeutet das nun für andere sozialdemokratische Parteien wie die spanische Partido Socialista Obrero Español (PSOE)? Sollten sie alarmiert sein? Über mindestens drei Faktoren, die einen wichtigen Einfluss auf das Ergebnis der Bundestagswahl hatten, brauchen sich die spanischen Sozialisten keine Sorgen zu machen:
Erstens wurden die ehemaligen Volksparteien durch die Transformation des deutschen Parteiensystems geschwächt, allen voran die SPD. Zwar hat Spanien in den vergangenen 30 Jahren ähnliche sozioökonomische Veränderungen durchgemacht wie Deutschland, wodurch auch dort traditionelle Parteibindungen gelockert wurden. Dennoch sind vergleichbare Verschiebungen im Parteiensystem nicht sehr wahrscheinlich. Das spanische Wahlsystem verhindert den Erfolg kleinerer Parteien auf nationaler Ebene, besonders durch den Zuschnitt der Wahlbezirke. Zudem gründen die größeren der kleinen Parteien – mit Ausnahme der  Izquierda Unida – ihre Erfolge darauf, dass sie sich für den Erhalt einer regionalen Identität einsetzen; sie erwarten auf der nationalen Ebene überhaupt keine Erfolge. Darüber hinaus gibt es in Spanien immer noch weniger Wechselwähler als anderswo. Die spanischen Wähler fragen sich eher, ob sie wählen gehen, nicht so sehr, wen sie wählen.


Zweitens mangelt es den spanischen Sozialisten weniger an neuen Gesichtern als der SPD. Als Zapatero die Partei übernahm und erneuerte, fand ein Generationswechsel statt. Dieses Problem hat in Spanien eher die konservative Partei.


Drittens leiden die deutschen Sozialdemokraten noch immer unter den unpopulären Reformen der Regierung Schröder. Erstaunlicherweise wird dieser Aspekt in den spanischen Medien kaum wahrgenommen oder auf das Phänomen der neuen Linkspartei reduziert. Dies könnte daran liegen, dass die Reformen der Agenda 2010 den deutschen Wohlfahrtsstaat auf ein Niveau zurückgeführt haben, das in Spanien noch gar nicht erreicht ist. Anders als die SPD braucht die PSOE die Rache des Wählers derzeit allerdings auch nicht zu fürchten: Premierminister Zapatero hat bis heute kein wichtiges Reformprojekt verwirklicht, das Einschnitte bei Sozialleistungen oder strengere Regeln für den Zugang zu Leistungen mit sich bringt.

Kein Leitbild, keine Emotionen

Doch auch wenn sich die deutsche und die spanische Situation in diesen drei Punkten unterscheiden, sollten sich die spanischen Sozialisten die Bundestagswahl vom 27. September zur Warnung gereichen lassen. Ein Jahrzehnt nach Tony Blairs und Gerhard Schröders „Drittem Weg“ ist in der europäischen Sozialdemokratie ein Vakuum entstanden, das die Wähler sehr wohl spüren. Kein Wunder, dass es sich in Wahlergebnissen niederschlägt.


Europäische Sozialdemokraten, deren Debatten das Paradigma des Dritten Weges zugrunde lag, stehen heute vor vielfältigen Problemen: Sie haben es versäumt, ein alternatives ökonomisches Leitbild zu entwickeln, das sich klar genug vom Leitbild der Konservativen abgrenzt. Sie haben es nicht geschafft, die Emotionen der Wähler anzusprechen. Sie können keine eindeutigen Antworten auf die neuen sozialen Risiken geben, die aus den alternden Gesellschaften, der Einwanderung, dem technologischen Wandel und der Globalisierung entstehen. Und sie haben es verpasst, ihren politischen Stil zu modernisieren.


Dennoch gibt es einen Weg nach vorn. Anfang Oktober haben die Fundacion Ideas (Madrid), das Center for American Progress (Washington) und die Heinrich-Böll-Stiftung (Berlin) in Madrid die „Global Progress Conference“ organisiert. Die Diskussionen dort haben gezeigt: Neue Ideen und die Bildung neuer, offenerer Koalitionen könnten es den sozialdemokratischen Parteien in Europa ermöglichen, wieder in die Offensive und an die Macht zu gelangen. Die Schlagwörter für neue Konzepte lauten „ethisches Wirtschaften“, „ökologische Erneuerung“, „dynamischer Staat“, „nachhaltige Sicherheitspolitik“ oder „ausgewogene Entwicklung“. Solche Kategorien erfassen die neue Wirklichkeit unserer Zeit und können die Lösungen bieten, auf die eine junge, prinzipiell progressiv eingestellte Generation wartet.

Aus dem Englischen von Michael Miebach 

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