Lieber noch ein zweites Spaßbad

"Was ich kann, ist unbezahlbar", lautete das Motto des Internationalen Jahres der Freiwilligen 2001. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Wie die SPD ihre Chancen verspielt, mit dem Thema der Bürgergesellschaft Profil zu gewinnen

Eine Auftragsstudie zum Potenzial der Freiwilligen in Deutschland, hundert Kongresse, Tausende von Einzelveranstaltungen und ein paar Festakte - das ist die Bilanz des "Internationalen Jahres der Freiwilligen" im abgelaufenen Jahr. Das Jahr endete am 5. Dezember, wie es Anfang 2001 begonnen hatte, mit festlichen Reden, mit feierlichem Schulterklopfen und mit der freudigen Verkündung phantastischer Studienergebnisse. Zahlen statt Bilanzen, hieß das wahre Motto.

Die zentrale Botschaft bestand darin, 22 Millionen Menschen in Deutschland seien ehrenamtlich aktiv. Tatsächlich ein Viertel der Deutschen betätigt sich aktiv in Vereinen und Verbänden, in Initiativen und Projekten? Praktiker von der Caritas bis zu den Sportverbänden schütteln den Kopf, wenn die Ergebnisse des "Freiwilligensurveys" von Infratest Burke im Auftrag des Familienministeriums gebetsmühlenartig verkündet werden. Denn wenn die Zahlen stimmen würden, wäre Deutschland internationale Spitze auf dem Feld des sozialen Engagements. Die Politik müsste in der Tat die blühenden Landschaften in der Gesellschaft der sozialen Wärme nur noch bestaunen. In Wirklichkeit zweifeln die Macher der Studie - genau wie die Praktiker - und andere Wissenschaftler an den geschönten Zahlen. Auf die methodischen Fehler, wissenschaftlichen Defizite und teilweise absurden Ergebnisse reagierte die Politik nicht mit dem Eingeständnis, dass Korrekturen notwendig seien, sondern bloß mit einem anderen "Wording". Anfangs wurde stets mit der Phantomzahl "34 Prozent ehrenamtlich Aktiver" operiert, welche die Marktforscher telefonisch ermittelt haben wollen. Nachdem man die Kritik und die Praxiserfahrungen zur Kenntnis nahm, entschied man sich für die neue absolute Zahl der Aktiven und landete bei "22 Millionen sozial aktiven Menschen". Der Deutschen Presse Agentur vertraute die zuständige Ministerin am 5. Dezember an, "über die beachtliche Zahl von 22 Millionen Menschen hinaus, die sich in Deutschland engagieren, gebe es noch einmal 20 Millionen, die dazu bereit seien. Dieses Potenzial müsse geweckt werden."

Paradiesische Perspektiven - doch die "Fakten" sind auf Sand gebaut. Das geben die Forscher von Infratest Burke sogar schriftlich zu Protokoll. Der Chef des Forscherteams, Bernhard von Rosenbladt, warnte unüberhörbar: Eine "steigende Zahl ehrenamtlich engagierter Personen in Deutschland steht im Widerspruch zu den Klagen aus dem Bereich der Verbände über eine sinkende Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement. Der Widerspruch lässt sich derzeit nicht eindeutig erklären und auflösen." Außerdem warnt der Umfrageprofi vor "methodischen Unsicherheiten in hohem Maße" und versucht den politischen Missbrauch der Ergebnisse zu stoppen: "Der Freiwilligensurvey 1999 kann vorerst nicht Grundlage von Trendaussagen sein."

Alle Warnungen wurden ignoriert

Doch alle Warnungen wurden von der Ministerialbürokratie und ihrem "wissenschaftlichen Beirat" ignoriert. Die gesamte Studie, die später auch für verschiedene Bundesländer und sogar in einem platten Wiederholungsgutachten für die Enquete-Kommission "bürgerschaftliches Engagement" erneut vermarktet wurde, beruht auf folgender Schlüsselfrage an die zufällig ausgewählte Stichprobe: "Es gibt vielfältige Möglichkeiten außerhalb von Beruf und Familie irgendwo mitzumachen, beispielsweise in einem Verein, einer Initiative, einem Projekt oder einer Selbsthilfegruppe. Ich nenne Ihnen verschiedene Bereiche, die dafür in Frage kommen. Bitte sagen sie mir, ob sie sich in einem oder mehreren dieser Bereiche aktiv beteiligen." Später räumen die Forscher in der Auswertung selbstkritisch ein: "Was die aktive Beteiligung in den einzelnen Bereichen konkret bedeutet, war hier nicht genauer zu untersuchen."

Um das Ausmaß der "Freiwilligkeit" zu erkunden, wählten die Auftragsforscher einen anderen Kunstgriff. Ihre Telefon-Frage lautet: "Sie sagten, Sie sind im Bereich XY aktiv. Haben Sie derzeit in diesem Bereich auch Aufgaben oder Arbeiten übernommen, die Sie freiwillig oder ehrenamtlich ausüben?" Die folgende Batterie von 15 positiv besetzten, aber völlig unscharfen Antwortvorgaben erweckt bei den Befragten das Gefühl der Erlösung, wenn sie auf wenigstens eine der semantisch positiv besetzten Vorgaben reagieren. Wer gibt schon gerne zu, nicht engagiert zu sein?

Die "methodische Sünde" sucht der Forscher von Rosenbladt gleich wieder mit einem "schwierigen Messproblem" zu entschuldigen: "Weil sich die Niveaufrage und die Strukturfrage des Ehrenamtes bzw. der Freiwilligkeit schwer erfassen" lasse. "Neben dem Messproblem gibt es ein Stichprobenproblem. Dieses führt in der Tendenz dazu, dass alle repräsentativen Umfragen das Niveau ehrenamtlichen bzw. freiwilligen Engagements vermutlich überhöht ausweisen."

So viel Distanz, so viel Skepsis, so viele handwerkliche Mängel. Doch das klein Gedruckte in den Werkstattberichten wollten die Ministerialbürokratie und "ihre" wissenschaftlichen Berater wohl nicht zur Kenntnis nehmen. Ende Dezember sollten die methodischen Mängel eigentlich im zuständigen Familienministerium diskutiert und revidiert werden. Doch Kritiker waren bei dieser von Teilen der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag erwirkten Fachtagung nicht erwünscht.
Eigentlich müsste man annehmen können, dass wenigstens im "wissenschaftlichen Sekretariat" der Enquete-Kommission zum bürgerschaftlichen Engagements die aktuellen Vergleichsdaten anderer Untersuchungen zur Kenntnis genommen werden. Zumindest den Wissenschaftlern der Oppositionsparteien könnte etwas auffallen. Aber auch hier wurde der politische Vorhang offenbar frühzeitig heruntergezogen - alle wurden auf die euphorische Sprachregelung "22 Millionen" eingeschworen. Sozusagen als Ersatz für die ausgebliebenen "nachhaltigen Impulse" im ungeliebten Politikfeld "Freiwilligenarbeit."

Eine aktuelle Studie der Stadt München hat ein Engagement-Potenzial von etwa 10 Prozent ausgemacht. Eine repräsentative Untersuchung des BAT-Freizeitforschungsinstituts ermittelte 1998, dass 6 Prozent der Befragten zwischen 14 und 74 Jahren ein Ehrenamt ausüben. Auch Detlef Oesterreich kommt in einer aktuellen, international angelegten Studie des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zu von Infratest Burke abweichenden Ergebnissen. Sein Fazit bezogen auf das Engagement-Potenzial: "Auch im Vergleich zu anderen reichen Industrieländern haben die deutschen Jugendlichen durchschnittlich eine geringere politische Beteiligungs- und Mitbestimmungsbereitschaft sowie ein geringeres sozialpolitisches Engagement" (Aus Politik und Zeitgeschichte vom 7.12.2001).

Die Wirklichkeit ist viel krasser

Roland Koch dagegen wies auf dem Fest für die Ehrenamtlichen in Hessen Mitte Dezember darauf hin, dass besonders beim Engagement der 25- bis 40-Jährigen große Lücken bestehen. Der Mobilisierungsschwund sei bedrohlich. Alle Studien zur zunehmenden Individualisierung der "flexiblen Menschen", alle Hinweise auf die Mitgliederauszehrung von Gewerkschaften, Kirchen, Parteien und Verbänden sprechen eine andere Sprache, als die "Jubelnden von Berlin." Oskar Niedermayer, Spezialist für Partizipationsforschung, kommt bei seiner Analyse der "Politischen Orientierungen und Verhaltensweisen der Deutschen" (Westdeutscher Verlag 2001) zu einem wesentlich niedrigeren Aktivitätsniveau als das forschende Ministerium. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Christine Bergmann sollte sich die internen Studien des SPD-Parteivorstands zum politischen Engagement in den Unterbezirken des SPD oder die ganz aktuellen Studien der IG Metall im Rahmen von deren "Zukunftsdebatte" in Ruhe vornehmen. Dort ist die unfrisierte Wahrheit zu lesen.

Die Ergebnisse dutzender Studien, die im krassen Kontrast zum bestellten "Freiwilligensurvey" stehen, veranlassen den Forscher von Rosenbladt wenigstens zur diplomatischen Distanznahme: "Eine derartige Streubreite der Ergebnisse ist für die sozialwissenschaftliche Profession kein akzeptabler Zustand, sondern Hinweis auf die noch fehlende Konsolidierung des Forschungsstands zum Thema Ehrenamt", schreibt er voll intellektueller Reue. All diese Einschränkungen halten die Politiker nicht davon ab, sich weiterhin der Euphorie der grossen Zahl hinzugeben.

Die Botschaft versickerte im Berliner Sumpf

Die Frankfurter PR-Agentur Ahrens und Behrent hatte für das Familienministerium eine geschickte und beeindruckende Kampagne entwickelt. Doch die Botschaft für die Freiwilligen "Was ich kann, ist unbezahlbar" versickerte schon bald im bürokratischen Berliner Sumpf. Vielleicht nicht zufällig. Denn die einzigen nennenswerten Beschlüsse auf dem Feld der "Ehrenamtspolitik" beziehen sich auf materielle Vorteile für zwei starke Lobbygruppen: Übungsleiter in Sportvereinen und Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr. Nur diese Gruppen, die bekanntlich über eine beachtliche Lobbykraft verfügen, werden künftig besser gestellt. Übungsleiter etwa sind in Zukunft bis zu einem Verdienst von 930 Mark und bei einer Tätigkeit von weniger als 15 Stunden nicht mehr beitrags- und meldepflichtig. Der Erfolg: Die Übungsleiter, die die Kampagne gegen das 690-Mark-Gesetz angeführt hatten, werden nun wie Selbständige behandelt. Finanzielle Privilegien genießen auch die Freiwilligen Feuerwehrleute. Aus ihrer Sicht ist der Fiskus aber immer noch zu sparsam; allen Ernstes wollen sie die gleiche "Besoldung" wie die Sportler vor Gericht erstreiten.

Aber warum sollen Sportler und Feuerwehrleute besser gestellt werden, als Freiwillige, die sich in der Hospizbewegung, bei amnesty international, pro asyl oder der Katholischen Jungen Gemeinde engagieren? Rot-grünen Politikern fällt auf diese Frage nur ein leises "Weiter so" ein. Das strukturelle Missverhältnis zwischen "altem" und "neuen" Ehrenamt wurde unter der neuen Regierung jedenfalls nochmals zementiert. Die Lobby rund um die Feuerwehren und Sportverbände bestimmt das rot-grüne Reformtempo in der Freiwilligenpolitik. Nur die Arbeiterwohlfahrt hat vor dieser "ungleichen Behandlung" und einer Politik gewarnt, die sich in "Steuerpauschalen und Rentenpunkten" erschöpft. Das Fünf-Punkte-Papier "Ehrenamt im Wandel" pünktlich zu den Festivitäten rund um dem 5. Dezember veröffentlicht, ist die einzige kritische Stellungnahme aus dem sozialdemokratischen Spektrum zur Politik der SPD-Fraktion. Die Kritiker dieser Politik in der SPD werden von den Vertretern des "aktivierenden Staates" bislang ausgebremst. Die CDU kommt mit dem ganz grossen Füllhorn: Sie fordert sogar "pauschale Aufwandsentschädigungen für alle ehrenamtlichen Tätigkeiten" und will "diese steuer- und sozialversicherungsfrei stellen." Die Grünen entwickeln auf diesem Feld keine eigenen Ideen und verschwenden ihre Energie lieber mit dem Blockieren des roten Partners. Die FDP schweigt sich aus und pflegt ihr egoistisches Phlegma, ganz nach dem Motto "Me, myself and I".

Wer aber das Politikfeld "Freiwilligenarbeit", das wesentlich von immateriellen Beweggründen getragen wird, politisch zentral mit materiellen Vorteilen für willkürlich ausgewählte Sektoren steuert, muss sich nicht wundern, wenn die Kernmotive für die gewünschten sozialen Aktivitäten diskreditiert werden. Schon fordert das Kolpingwerk, das ehrenamtliche Engagement solle wie eine Geldspende behandelt werden. Der Verband stellt sich vor, bis zu 3.800 Mark pauschal jährlich steuerlich anzuerkennen. Auch der Bundespräsident spricht sich für verstärkte steuerliche Anreize aus. Allein im Bundesfinanzministerium stellen sich die politischen Spitzen taub, wenn die Fachpolitiker der SPD immer wieder nach neuen Geldspritzen anfragen.

Die Macht der Lobbyisten aus den mächtigen (Wohlfahrts)-Verbänden führte dazu, dass sich die von der Öffentlichkeit weitgehend abgeschotteten Enquete-Kommission mehr mit teuren Rechtsgutachten als mit politischen Handlungs-Empfehlungen beschäftigte. Bislang wurden 39 Gutachten vergeben, fein nach Proporz. Fast alles, was in ihnen zu lesen ist, findet sich in jeder gut sortierten Bibliothek. Selbst nach Aussagen von Insidern des parlamentarischen Betriebs, handelt es sich hier um ein aufwendiges Informationsrecycling ohne kreative Impulse für die politische Gestaltung. Treffsicher wurden alle Fragen ausgeklammert, die wirklich neue Antworten erfordert hätten. Über die ungenügende demokratische Beteiligung der Ehrenamtlichen gibt es kein Gutachten, dafür eine dreiste Wiederholung zum Freiwilligensurvey: Die Forscher zitieren sich noch einmal selbst - Gutachterpolitik, wie sie zuletzt die Atomindustrie in dieser Perfektion beherrschte.

Selbst die Ergebnisse der 39 Gutachten werden der Öffentlichkeit vorenthalten, aus Angst, die skizzierten Schwachstellen würden auffallen, der Alibicharakter der Gutachten könnte offensichtlich werden. Der Umgang mit den Gutachten illustriert den Arbeitsstil einer Enquete-Kommission, die eigentlich ein Thema in die breite Öffentlichkeit tragen sollte. Stattdessen arbeitet sie im Stil einer "G10-Kommission". Bloß weiß niemand, welche Geheimnisse da eigentlich verraten werden könnten. Bis heute gibt es zwar Tonnen von Papier, hunderte Protokolle der "legitimatorischen Anhörungen" - aber immer noch keine politischen Handlungsempfehlungen, die über die steuerlichen Anreize für die lobbystarken Verbände hinausgehen.

Pseudo-Harmonie statt produktiver Konflikt

Kein Wunder, das die öffentliche Resonanz auf diese Politik des Minimalkonsenses minimal ausfällt. Die konkurrierenden Enquete-Kommissionen, die sich mit der Genpolitik und der Globalisierung beschäftigen, haben verstanden, dass man auch über inhaltliche Konflikte streiten und damit in der Öffentlichkeit Profil gewinnen kann. Vorhandene Konflikte werden nicht dadurch gelöst, das man sie ausklammert oder in Pseudo-Harmonie auflöst. Weder im Ministerium, noch in der Enquete-Kommission oder den beteiligten Fraktionen gibt es so etwas wie einen "Business Plan", der Auskunft darüber geben würde, wohin die Reise gehen könnte. Selbst wenn der Vorsitzende der Enquete-Kommission die Chance zur Bilanz in der größten deutschen Tageszeitung erhält, werden mehr Fragen gestellt, als Antworten gegeben. "Was sind die wichtigsten Erkenntnisse der Kommission?", wollte die Süddeutsche Zeitung wissen. Worauf der Vorsitzende Michael Bürsch die abgestimmte, zentrale Botschaft verkündet: "Der wichtigste Ausgangspunkt ist, dass wir 22 Millionen Menschen in Deutschland haben, die sich für andere engagieren" (SZ vom 5.12.2001).

Die Wirtschaft wird nicht mitgenommen

Dass auch die Bundesländer sich in ihrer "Freiwilligenpolitik" zu konkreter Arbeit verpflichten können, beweist Niedersachsen. Hier zumindest gibt es ein klar konturiertes Programm dafür, was zu leisten ist. Zwar ist auch hier ein "Übergewicht" zu Gunsten des "alten" Ehrenamtes feszustellen. Doch immerhin bemüht man sich, die Konzeptabstinenz zu unterbinden. In Nordrhein-Westfalen gibt es bemerkenswerte Fortschritte in der Förderung von Freiwilligeninitiativen. In Hessen unternimmt Ro-land Koch beachtliche Versuche, auch die "neue" Freiwilligenarbeit und die bundesweit vorbildliche Arbeit etwa in Kassel zu fördern. Hier jedenfalls geschieht mehr, als in manchen SPD-regierten Ländern. Ist es ein Zufall, dass sich viele Landtagsfraktionen der SPD weigern, in jedem Bundesland einen Zuständigen für das bürgerschaftliche Engagement im Parlament zu benennen?

Im "Jahr der Freiwilligen" ist es versäumt worden, die Wirtschaft verstärkt zu mehr Mitwirkung bei der Förderung der Freiwilligenarbeit zu überzeugen. Auf dem wichtigsten Feld hat man schlicht versagt. Deutschlands Unternehmen sind bei der Förderung von bürgerschaftlichem Engagement noch immer das Schlusslicht in Europa. Dieser negative Imagefaktor - der im Gegensatz zur öffentlichen Rhetorik steht - wäre ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die überfällige Neuorientierung gewesen. Die Position der Spitzenmanager in Industrie und in den maßgeblichen Verbänden ist eindeutig: So-lange Deutschland ein "Hochsteuerland" sei, könne niemand ein stärkeres finanzielles Engagement einfordern. Die Gegenthese hat die rot-grüne Regierung nie gewagt. Deshalb bleibt die wichtigste Ressource zur Optimierung der Rahmenbedingungen für soziale Aktivität ungenutzt. Reinhold Kopp, der Generalbevöllmächtigte von VW, hat den Vergleich mit den USA nachdrücklich abgelehnt. "Corporate Citizenship" sei kein auf Deutschland übertragbares Konzept. Doch niemand ist bereit, die Wirtschaft stärker zu fordern. Fast alle ihre Aktivitäten sind geschickte Marketingmaßnahmen mit begrenztem zeitlichen Horizont. Die Wirtschaft, das haben zahlreiche Konferenzen gezeigt, will sozial engagierte Mitarbeiter mit ausgeprägten Soft skills. Gleichzeitig will sie Leistungsträger mit hoher fachlicher Kompetenz. Diese idealen Mitarbeiter sollen aber ihre ganze Kraft ins Unternehmen und nicht etwa in eine wie auch immer definierte "gute Sache" stecken. Gefordert ist der "flexible Mensch": hochmobil, leistungsfähig und belastbar. Dieser ökonomische Zielkonflikt wurde aber nie konsequent diskutiert.

Im Jahr der Freiwilligen hätten Politiker aller Fraktionen das Postulat der Bürgergesellschaft ernst nehmen und dabei auch vom Beispiel der "Start ups" lernen können. Hätte man die skizzierten Politikfelder mit der beachtlichen "Start up"-Energie betrieben, sähe die Bilanz des Jahres ganz anders aus. Aber dieser Vergleich zeigt ja, dass die ökonomische Verwertungslogik die ideelle weit überschreitet.

Der Wettbewerb "Engagement unterstützende Infrastruktur in Kommunen" hat im Jahr 2001 bewiesen, dass gerade Initiativen der Kommunen sich auszahlen. Die Ergebnisse des Wettbewerbs lassen sich in einem einfachen Kernsatz reduzieren: Wo etwas angeschoben und initiiert wird, von München bis Parchim, da passiert auch etwas. Der Informations- und Beratungsbedarf auch für befristetes Engagement ist unschätzbar groß, das Bedürfnis nach Begleitung, Orientierung und Weiterbildung ist sehr intensiv. Und umgekehrt gilt: Wo die Kommunen ihr Geld lieber für ein zweites Spaßbad ausgeben und ihre Ressourcen anders steuern, liegt das Engagement-Potenzial auch weiterhin brach.

Am Beispiel der Freiwilligenagenturen lassen sich das Finanzierungsdilemma und die Einfallslosigkeit der Politik am eindeutigsten erklären. Fast alle Freiwilligen-Agenturen sind chronisch unterfinanziert und kämpfen mehr ums Überleben als um die Gewinnung neuer Mitarbeiter. Weil die etablierten Geldempfänger neue Konkurrenten bereits im Keim ersticken wollen, gibt es nur zwei Dutzend einigermaßen funktionierende Freiwilligenagenturen, die besonders nicht organisierte Aktive gewinnen könnten. Seit langer Zeit liegt der Vorschlag auf dem Tisch, dass die Kommunen - wie ein Dreigestirn - kombinierte Anlaufstellen fördern sollten: Freiwilligenagenturen, Kontaktstellen der Selbsthilfe und Seniorenbüros könnten unter einem Dach gemeinsam effektiver arbeiten. Das Kooperationsmodell ist pragmatisch und verspricht Erfolg. Doch die Lobby der Wohlfahrtsverbände kämpft gegen solche sozialpolitische Innovationen, und die Politik stützt - eingespult in die stillen Verhandlungsmechanismen der mächtigen Funktionäre - die bewährt-bequemen, eingefahrenen Strukturen.

Kommt Demokratie ohne Gesellschaft aus?

Eigentlich sollte der Einsatz für das "bürgerschaftliche Engagement" eingebettet sein in die gewünschte Stärkung einer demokratischen "Zivilgesellschaft" in Deutschland. Der Bundeskanzler hat in einigen knappen Reden die Vermutung geweckt, die Entfaltung der Zivilgesellschaft sei ein ernsthaftes Anliegen und diene sozusagen als "Überschrift" für die rot-grüne Regierung. Zusammen mit den Resolutionen der sozialdemokratischen Regierungen konnte die Leitidee der Zivilgesellschaft durchaus als Fortschreibung von Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen" gesehen werden. Die maßgeblichen Politiker vergaßen allerdings, dass die Idee der civil society lebensnotwendig auf ein praktisches Fundament konkreter Politikmaßnahmen angewiesen ist. Diese "Policy-Orientierung" wurde bislang zielstrebig vermieden. Und das, obwohl hier ein weites Feld sozialdemokratischer Identitäts- und Profilbildung angelegt ist. Ausgeschlagen werden etwa Chancen wie die positive Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Aktivitäten gegen rechtsextreme Übergriffe, aber auch die ernsthafte Auseinandersetzung mit den politischen Folgen der Globalisierung.

Die einmal formulierte Idee der Zivilgesellschaft war Ende 2001 - beim Fest für die Freiwilligen - schon nicht mehr auf der Agenda. Allein Wolfgang Thierse bemüht sich wirksam um die Profilierung des Themas: In seiner Rede "Auf dem Weg zur europäischen Zivilgesellschaft: Was kann bürgerschaftliches Engagement bewirken?" warnte er vor überzogenen Erwartungen. Je lebendiger die Prozesse der demokratischen Partizipation sind, desto mühsamer wird der "Prozess, über Austausch und Ausgleich zum Konsens zu kommen. Auch in Zukunft wird Demokratie ein erhebliches Maß an Frustrationstoleranz, Leidensfähigkeit und Enttäuschungsbereitschaft erfordern." Solche realistischen Hinweise fehlen meist in Festreden. Vielen Politikern halten sich lieber an ihre selbstgeschaffenes Phantom der 22 Millionen bürgerschaftlich engagierten Deutschen. Mit ihnen wollen sie im "aktivierenden Staat" arbeiten, ohne von ihrem Grundsatz abzuweichen, dass sich die Demokratie als Funktionssystem längst aus der Gesellschaft verabschiedet hat.

Politiker, die sich mit der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements beschäftigen, sind meist altem Denken verhaftet, wollen die gesetzten Grenzen des Verbändestaates Deutschland nicht überschreiten. Doch wer nicht weiß, wohin er will, kann auch keine neue Richtung angeben. Neben der stärkeren Forderung der Wirtschaft, wäre der Umbau beteiligungsfeindlicher Strukturen in Schulen, Krankenhäusern, Altenheimen und anderen öffentlichen Einrichtungen der strategische Ausgangspunkt, um mehr Bürger zur aktiven Mitwirkung in der Gesellschaft zu bewegen. Alle Orte, an denen sich Hilfsbedürftige und Hilfsbereite begegnen können, müssen beteiligungsfreundlicher gestaltet werden. Die Veränderung von herkömmlichen Strukturen etwa der "geschlossenen Institutionen", die Erfindung neuer Berufsbilder nach dem Vorbild amerikanischer community organizers, wären wichtige perspektivische Aufgaben. Die Umdefinition des amtlichen Verständnisses von Sozialarbeit ist überfällig. Nicht die fürsorgliche Belagerung von Klienten bestimmt das Gemeinwesen der Zukunft, sondern die Anstiftung von Eigenaktivität in enger Kooperation von Professionellen und freiwillig Engagierten.

Das alles sind auch Themen der Enquete-Kommission; möglicherweise sind hier wegweisende Vorschläge zu erwarten. Befristetes Engagement muss immer auch verknüpft werden mit demokratischer Teilhabe und persönlicher Weiterentwicklung. Insider wissen, dass die Demokratiefrage in den Verbänden zu den Tabufragen gehört. Die Enquete-Kommission dürfte diese Frage allerdings nicht ausklammern. Der Schlüsselbegriff der selbst ernannten Wissensgesellschaft heißt "Weiterbildung". Diese Ressource ließe sich auch bei den "Ehrenamtlichen" besser nutzen. Statt wenige Lobbygruppen mit Steuergeschenken zu bedienen, sollten diese Etats in die notwendige Strukturveränderung und die Weiterbildung investiert werden. In Holland können entsprechende Projekte besichtigt werden. Impulse in diese Richtung gibt es genug - allein Bereitschaft, sie aufzunehmen, ist unterentwickelt.


Es ist anzunehmen, dass auch der Abschlussbericht der Enquete-Kommission im Frühjahr 2002 "legitimatorischen Charakter" haben wird. Die bislang von den Fachpolitikern ausgeklammerten Fragen sagen mehr über die Chancen dieses Politikfelds als die auf den Minimalkonsens des Bestehenden reduzierten Forderungen der Parlamentarier. Aber am Ende wird man der staunenden Öffentlichkeit wieder mitteilen, dass 22 Millionen Menschen in Deutschland sozial engagiert sind und dass weitere 20 Millionen sich gerne engagieren würden. Die Faszination der grossen Zahl wirkt wie eine Droge, die zu einem langen Rausch des "Weiter so" einlädt.

Das Freiwilligen-Jahr 2001 war kaum zu Ende, da wurde schon das "Internationale Jahr der Berge" für 2002 ausgerufen. Das Verbraucher-Ministerium will Mitte Februar die entsprechende Kampagne unter dem Motto "Berge machen Sinn" starten. So viel Sinn war nie.

zurück zur Ausgabe