Letzte Ausfahrt Kerneuropa?

Die EU ist strukturell nicht im Stande, das liberale Binnenmarktprojekt durch für alle Mitglieder gültige Steuer- und Sozialstandards zu ergänzen. Deshalb sollte sich eine Gruppe von Willigen zu einem sozialen Kerneuropa zusammentun

Der EU-Gipfel im Juni 2007 am Ende der deutschen Ratspräsidentschaft hat auf erschreckende Weise die politische Handlungsunfähigkeit Europas verdeutlicht. Zwar konnte man sich auf der Tagung des Europäischen Rates nach zähen Diskussionen um Quadratwurzeln und doppelte Mehrheiten letztlich auf ein Mandat zur Ausarbeitung eines Reformvertrages verständigen. Doch diese Einigung täuscht nur mühsam über ein grundlegendes Dilemma der Europäischen Union hinweg: ihr institutionelles Unvermögen, das liberale Binnenmarktprojekt durch gleichrangige sozial- und steuerpolitische Standards zu flankieren, um die Mitgliedsstaaten vor einem ruinösen Systemwettbewerb zu bewahren. Da man zur Errichtung solcher Standards das Einverständnis aller Mitgliedsstaaten bräuchte, diese Einstimmigkeit aufgrund der unterschiedlichen sozioökonomischen Interessenlagen der einzelnen Länder jedoch sehr unwahrscheinlich ist, sollte sich die politische Öffentlichkeit stärker mit Alternativen zu der bislang einheitlich voranschreitenden Integration Europas auseinandersetzen, wie sie beispielsweise das Konzept eines „Kerneuropa“ bietet – trotz der negativen Konnotation, die diesem Konzept oftmals beigemessen wird.

So könnte eine kleinere Gruppe von Mitgliedsstaaten in sozialen Fragen gemeinsam voranschreiten und das Solidaritätsprinzip gegenüber dem Prinzip der freien Märkte stärken, womit gleichzeitig ein positives Europabild transportiert würde. Um das wahrscheinlich am häufigsten vorgetragene Argument gegen Kerneuropa vorwegzunehmen: Es geht nicht darum, einzelne Mitgliedsländer auszugrenzen, sondern stärker integrationswillige Staaten enger zusammenzubringen und ihnen die Möglichkeit einer „Verstärkten Zusammenarbeit“ zu geben. Ein solches Kerneuropa könnte auch auf diejenigen Staaten eine hohe Anziehungskraft ausüben, die an dieser Zusammenarbeit zunächst nicht partizipieren möchten.

Bislang ist der europäische Integrationsprozess von einer asymmetrischen Entwicklung gekennzeichnet, die sich gut mit dem wirtschaftswissenschaftlichen Konzept von „positiver“ und „negativer“ Integration charakterisieren lässt: Einerseits ist es den EU-Mitgliedsländern seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Zuge der „negativen Integration“ gelungen, durch den Abbau tarifärer wie nicht-tarifärer Handelshindernisse und Wettbewerbsbeschränkungen die vier Marktfreiheiten der europäischen Gründungsverträge zu verwirklichen. So entstand der gemeinsame Binnenmarkt mit dem freien Austausch von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen. Demgegenüber hinkt andererseits die „positive Integration“, also die Schaffung eines gemeinsamen wirtschafts- und finanzpolitisch regulierenden Rahmens, deutlich hinterher.

Bleibt die Sozialpolitik nationalstaatlich?

Der vornehmlich wirtschaftspolitisch ausgerichteten Integration Europas ist keine vergleichbare Integration der Sozial- und Steuersysteme entgegengestellt worden, die als regulierendes Korrektiv grenzüberschreitender Märkte wirken könnte. Das oft zitierte „Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell“ existiert nicht als solches, sondern stellt bestenfalls einen metaphorischen Kompromiss der ordnungspolitischen Wunschvorstellungen vornehmlich der westeuropäischen Mitgliedsländer dar, deren soziale Sicherungssysteme sich besonders seit Beginn des golden age of capitalism der sechziger und siebziger Jahre hinsichtlich ihrer Organisationsformen und ihrer Finanzierungsgrundlagen sehr unterschiedlich entwickelt haben. Skeptiker meinen, die ausgeprägte Heterogenität der europäischen Wohlfahrtsstaaten mache eine Regulierung beziehungsweise Harmonisierung auf europäischer Ebene unmöglich. Eine ausschließlich nationalstaatliche Kompetenzzuweisung in sozial- und steuerpolitischen Fragen sei deshalb auch weiterhin alternativlos, zumal die Bandbreite unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Regelungen mit jeder Erweiterung der EU größer geworden sei: Wesentliche Variationen existierten zwar bereits vor den EU-Osterweiterungen im Mai 2004 und im Januar 2007, bestehende Verteilungskonflikte und Interessendivergenzen wurden durch die Aufnahme der zwölf Staaten Mittel- und Südosteuropas jedoch weiter verschärft.

Als ursächlich für die ungleichzeitige Entwicklung von positiver und negativer Integration kann die unterschiedliche institutionelle Verankerung beider Politikbereiche angesehen werden. Die Verwirklichung der vier Marktfreiheiten verfolgen die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof auf Basis des supranationalen Rechts. Entscheidungen im Ministerrat werden in diesem Bereich fast ausschließlich mit qualifizierter Mehrheit getroffen, was Blockademöglichkeiten einzelner Mitgliedsstaaten erschwert.

Es bleibt beim Prinzip der Einstimmigkeit

Ein einheitlicher politischer Ordnungsrahmen, der gleichsam zur „wohlfahrtspolitischen“ Korrektur des Marktes in der Lage wäre, ist bis auf Einzelbereiche allerdings in den europäischen Verträgen nicht vorgesehen. Somit fallen entsprechende Regelungen in den Bereich der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, die dem Einstimmigkeitsprinzip beziehungsweise der einheitlichen Umsetzung bestimmter Vereinbarungen zwischen den Mitgliedsstaaten unterliegt. Die Interessenheterogenität der 27 EU-Mitgliedsstaaten verhindert jedoch eine einstimmige Einigung auf weitergehende Maßnahmen – vor allem in den Bereichen, in denen einzelne Länder von fehlender gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierung und einem Festhalten am Status quo profitieren. Deshalb sind die bisherigen sozialpolitischen Kompetenzen der EU stark unterentwickelt, woran auch die Ratifizierung des Reformvertrages nur wenig ändern würde. Dieser im Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnete Vertrag hebt zwar die soziale Dimension Europas hervor, hält jedoch in Kernbereichen europäischer Sozialpolitik an der Einstimmigkeit fest und steigert somit gerade nicht die sozialpolitische Handlungsfähigkeit der Union.

Harmonisierung? Unwahrscheinlich!

Die internationale wie innereuropäische Mobilität des Kapitals, der weder auf europäischer noch auf nationalstaatlicher Ebene ein wirksames Korrektiv zur Seite gestellt werden kann, führt schon heute zu einer Standortkonkurrenz um Investitionen und Arbeitsplätze, wie sie nicht zuletzt in einem Wettbewerb um niedrige Unternehmenssteuern zum Ausdruck kommt. Dieser Wettbewerb lässt sich an dem vergleichsweise hohen Steuersatzdifferential der EU-Staaten bei der Gewinnbesteuerung von Kapitalgesellschaften festmachen. Ein Wert, der sich durch die EU-Erweiterungen im Mai 2004 und im Januar 2007 weiter erhöht hat. Eine Harmonisierung dieses Steuersatzes liefe dem Eigeninteresse derjenigen Mitgliedsländer zuwider, die dadurch Einbußen gegenüber dem Status quo erleiden würden, was aufgrund des Erfordernisses einer einstimmigen Entscheidung des Ministerrats eine Harmonisierung unwahrscheinlich macht.

Dieser Umstand verstärkt die Gefahr eines ökonomisch motivierten Systemwettbewerbs, der zu sozialregulativen Abwärtsspiralen im Sinne eines race to the bottom führen kann: Der Binnenmarkt setzt die EU-Mitgliedsstaaten sehr starken Zwängen aus, die mobilen Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit durch niedrige Steuersätze zu entlasten, was in zahlreichen Ländern bereits zu einer Senkung der entsprechenden Steuersätze geführt hat und wohl weiter führen wird, so dass die finanzielle Basis für wohlfahrtsstaatliche Leistungen schwindet. Neben Steuersätzen sind in diesem Wettbewerb weitere Standortfaktoren wie Lohnhöhe und Produktivität von entscheidender Bedeutung, weshalb ein umso stärkerer Wettbewerb zwischen den Steuer- und Sozialsystemen einzelner Länder zu erwarten ist, je ähnlicher diese Systeme aufgebaut sind.

Mindeststandards oder Vereinheitlichung?

In den achtziger Jahren hoffte die Europäische Kommission, mittels des gemeinsamen Binnenmarktes auch eine Angleichung der nationalen Sozial- und Steuersysteme zu erreichen. Nach Vorstellung des damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors sollte infolge des freien Austausches von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen der Druck auf die nationalen Sozialsysteme so groß werden, dass sich die zwölf damaligen Mitgliedsstaaten der Einigung auf sozial- und steuerpolitische Mindeststandards mittelfristig nicht mehr würden entziehen können. Wohlgemerkt: Zu dieser Zeit waren Mindeststandards in der Diskussion, keine Vereinheitlichung. Dem „harten“ Wirtschaftsrecht sollte ein ebenso harter sozialrechtlicher Rahmen gegeben werden – wenn schon nicht gleichzeitig, dann eben sukzessive. Leider ging diese Rechnung nicht ganz auf. Der Druck auf die Nationalstaaten stieg zwar so stark an, dass man mittlerweile einen deutlichen Verlust ihrer Handlungsfähigkeit attestieren kann, doch konnte man sich bisher nicht dazu durchringen, gemeinschaftliche steuer- und sozialpolitische Standards zu setzen, um diesen Verlust auf europäischer Ebene zu kompensieren.

Die asymmetrische Integrationsdynamik steht im deutlichen Widerspruch zu dem Gedanken der Solidargemeinschaft. Diesem Ideal kommt nicht nur eine konstitutive Bedeutung für die europäische Sozialdemokratie zu. Als normatives Konzept stellt es für die europäische Bevölkerungsmehrheit den gewünschten wirtschafts- und sozialpolitischen Ordnungsrahmen dar, wie bei den Referenden zur EU-Verfassung deutlich wurde: Anders als viele Beobachter erwartet hatten, wurde das Vertragswerk im Frühjahr 2005 zunächst nicht von europaskeptischen Ländern abgelehnt. Vielmehr waren es die Franzosen und Niederländer, die den Ratifizierungsprozess stoppten – bislang eher Befürworter des europäischen Integrationsprozesses und somit auch des Verfassungsentwurfs. Die Diskussionen im Vorfeld der Referenden in beiden Ländern machten allerdings deutlich, dass die mehrheitliche Ablehnung der Verfassungsvorlage nicht aus einer prinzipiellen Skepsis gegenüber Europa resultierte, sondern vornehmlich der mangelnden sozialpolitischen Komponente eines vielfach als zu wirtschaftsliberal empfundenen Regelungswerkes geschuldet war.

Wie sehen die Alternativen aus?

Welche Alternativen eröffnen sich jedoch für Europas zukünftige Entwicklung, wenn sich der Gedanke des sozialen Europas aufgrund der institutionellen Entscheidungsblockaden nicht für alle EU-Staaten gleichzeitig in die Tat umsetzen lässt? Innerhalb des bestehenden Institutionengefüges der EU scheint ein Kerneuropa die beste Gestaltungsoption zu sein. Demzufolge vertieft ein fester Kern von Mitgliedsländern seine Integrationsbemühungen auf bestimmten Politikfeldern wie beispielsweise der Sozial- oder der Steuerpolitik und übernimmt damit eine Art europäische Führungsrolle. Sehr wichtig ist, dass dieser Kern für weitere Mitgliedsstaaten grundsätzlich offen bleibt, um den Eindruck eines Zwei-Klassen-Europas zu vermeiden. Gleichzeitig wird jedoch auch kein Staat verpflichtet, sich dem voranschreitenden Kern einzelner Mitgliedsstaaten anzuschließen. Allerdings könnte es die prinzipielle Offenheit mittelfristig ermöglichen, die europäische Rechtseinheit wiederherzustellen, sofern die Staaten außerhalb des Kerns zu einem späteren Zeitpunkt nachziehen möchten.

Methode „Verstärkte Zusammenarbeit“

Ein gemeinsames Voranschreiten einzelner EU-Länder könnte etwa über die Methode der „Verstärkten Zusammenarbeit“ erfolgen, die im europäischen Vertragswerk bereits heute vorgesehen ist: Damit verlören die Mitgliedsstaaten, die sich beispielsweise einer Steuerharmonisierung oder einer Einführung von EU-weiten sozialen Mindeststandards bislang entgegenstellen, ihre Vetomacht im Ministerrat. Auf diese Weise würden wiederum die an dem Projekt „Kerneuropa“ beteiligten EU-Mitgliedsstaaten eine positive Gestaltungsoption erhalten, in deren Folge eine Dynamisierung des Integrationsprozesses und eine Sogwirkung auf weitere Länder zu erwarten ist, wie sie bereits bei der Einführung des Euro, bei den Schengener Verträgen oder im Anfangsstadium der Europäischen Sozialcharta zu beobachten waren. Das Voranschreiten des europäischen Integrationsprozesses hinge nicht mehr von den Ländern ab, die eine engere politische Union verhindern wollen. Die stärker integrationswilligen Staaten könnten innerhalb des bestehenden institutionellen Rahmens intensiver zusammenarbeiten, ohne die anderen Mitgliedsländer auf Dauer auszuschließen.

Mit ihrem Hamburger Grundsatzprogramm hat die SPD sich für dieses Integrationsmodell erstmals geöffnet. Unter der Überschrift „Das demokratische Europa“ heißt es dort: „Die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einer echten Demokratie darf nicht am Unwillen einzelner Staaten oder ihrer Regierungen scheitern. Sie kann deshalb die Form einer verstärkten Zusammenarbeit einiger Mitgliedsstaaten annehmen. Diese Zusammenarbeit muss für alle Mitgliedsstaaten offen bleiben.“

Das Integrationsmodell eines Kerneuropas eröffnet die Möglichkeit, den sozialpolitischen Herausforderungen des europäischen Integrationsprozesses auf positiv gestaltende Weise zu begegnen und Maßnahmen der „positiven Integration“ zu verwirklichen. So könnte der Systemwettbewerb zwischen den partizipierenden Ländern unterbunden und der europaweite gesellschaftliche Konsens hinsichtlich sozial- und wohlfahrtspolitischer Ordnungsvorstellungen auch institutionell abgesichert werden.

Sicher gibt es hinsichtlich eines Kerneuropas viele berechtigte Einwände. Doch sollten diese nicht dazu führen, differenzierte Konzepte für die weitere europäische Integration aus Prinzip abzulehnen. Ein Fortdauern der bisherigen Entwicklungsdynamik mit ihrer wirtschaftspolitischen Schlagseite würde nur einer weiteren Erosion nationalstaatlicher Handlungsfähigkeit Vorschub leisten. Wenn die EU-Mitgliedsländer weiter auf zusätzlichen Handlungs- und Problemdruck warten, könnte der richtige Zeitpunkt für Erfolg versprechende politische Initiativen zugunsten einer sozialen Ausgestaltung des europäischen Integrationsprozesses endgültig verstreichen.

Wie üblich wies bereits Willy den Weg

Gerade der europäischen Sozialdemokratie sollte die vorbehaltlose Diskussion über realistische Wege zur Verwirklichung eines sozialen Europas ein wichtiges Anliegen sein. Denn nur über Europa kann es gelingen, der Vorstellung eines handlungsfähigen, gestaltenden Staates noch gerecht zu werden, der die soziale Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger gewährleistet. Das Voranschreiten der EU sollte nicht länger von denjenigen Regierungen abhängig sein, die die Entstehung einer wirklichen politischen Union verhindern wollen. Insofern ist das Konzept einer „Abstufung der Integration“, das ursprünglich im November 1974 von Willy Brandt in die politische Debatte eingebracht wurde, ein genuin sozialdemokratisches Modell mit beachtlichem Potenzial.

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