Leistung + Gleichheit = Erfolg

Was Deutschland vom finnischen Dreisatz in der Schulpolitik lernen kann: Es ist sehr wohl möglich, gleichzeitig Spitzenschüler sowie ein leistungsstarkes Mittelfeld hervorzubringen und Bildungserfolg von der sozialen Herkunft der Kinder abzukoppeln

Ohne Spikes geht gar nichts auf diesen finnischen Wegen. Das Auto schlittert Stunde um Stunde eine eisige Reifenspur entlang, wühlt sich durch die Schneewüste. Der Horizont inszeniert sich minutenlang in prächtig leuchtenden Farben, bevor es wieder stockdunkel wird. Hinter dem Polarkreis vergehen ganze Stunden so, das Wagenthermometer stürzt auf minus 28 Grad ab. Da tauchen nahe der Grenze zu Russland in der Kommune Inari endlich wieder ein Dutzend Holzhäuschen im Scheinwerferlicht auf. Hier wohnen sie also auch: Europas Musterschüler.

Die jungen Finnen sind in Mathematik Weltklasse. Ihre Lesekompetenz reicht weit über die deutscher Schüler hinaus. Und in den Pisa-Studien 2000, 2003 und 2006 führten sie auch in den Naturwissenschaften.

Die Spur in den hohen Norden hat ein Finne in der hunderte Kilometer entfernten Hauptstadt Helsinki gelegt. Olli-Pekka Heinonen führte das Unterrichtsministerium in den neunziger Jahren, also bevor das Land im Dezember 2001 zum ersten Mal zum Pisa-Sieger gekürt wurde. Es war die stürmische Zeit, in der die Finnen im Eiltempo die Informationsgesellschaft aufbauten. Indem sie ihr Land der tausend Seen und Wälder mit einem Netz aus Forschungsinstituten, Start-up- und Hightech-Unternehmen überzogen, retteten sie sich aus einer schweren Wirtschaftskrise. Heinonen war damals Ende 20, Mitglied der konservativen Partei (KOK). Heute ist er Fernsehdirektor bei der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt YLE. „Es ist eine Grundidee der Finnen, das Bildungsniveau im ganzen Land zu heben“, sagt er.

Ein Lob der Elite stimmt kein Finne an

Seine Worte wählt er bedächtig, sachlich und klar – so wie alle seine Landsleute, wenn sie über das Schulwesen und den Bildungserfolg ihrer Schüler sprechen. Niemand hebt hervor, dass die Schüler bei Pisa nicht nur wiederholt den höchsten Durchschnittswert erzielen, sondern auch in besonders hoher Zahl die höchsten Kompetenzstufen erreichen: So ist die Gruppe der leistungsstärksten finnischen Jugendlichen in den Naturwissenschaften laut der Vergleichsstudie aus dem Jahr 2006 noch immer doppelt so groß wie in Deutschland. Doch ein Lob auf die Elite mag kein Finne anstimmen.

So etwas passe eben nicht zur finnischen Philosophie, beginnt Heinonen zu erklären. Die Fingerspitzen seiner rechten Hand prallen auf die der linken, kleben aneinander, als wollten sie ein Dach bilden. Oder ein Dreieck: „Du brauchst Gleichheit, um ein hohes Leistungsniveau zu erreichen.“ Finnland sei ein kleines Land, das jedem den Aufstieg durch Bildung ermöglichen wolle: der kleinen Tochter des Nokia-Bosses in der pulsierenden Metropole Helsinki ebenso wie dem Sohn eines Rentierzüchters in den morastigen Sümpfen Lapplands. „Wir müssen die Fähigkeiten jedes Einzelnen ausschöpfen, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können“, sagt Heinonen. Finnland könne es sich schlicht nicht leisten, auch nur einen jungen Menschen zu verlieren.

Leistung + Gleichheit = Erfolg: Wer diese finnische Philosophie verstehen will, muss in den hohen Norden reisen, zu den weit verstreuten Holzhäuschen und kleinen Bauernhöfen wie in Inari. Wo sich am Horizont Knallblau, Rosé und Blutorange miteinander verbünden, besteht unter den Politikern in Bildungsfragen Konsens. Wie im gesamten Nordosten wählen die Menschen hier vor allem das Zentrum (KESK). Diese Partei hat ihre Wurzeln im ländlichen Milieu und ist neben Sozialdemokraten und Konservativen eine der drei Großen im Vielparteiensystem Finnlands. In wechselnden Konstellationen stellen diese drei – zusammen mit kleineren Partnern wie der Schwedischen Volkspartei – die Regierung.

Anfang der sechziger Jahre nahm das Zentrum eine Schlüsselposition bei den großen Bildungsreformen ein: Wie in Deutschland gab es damals ein gegliedertes System. Volksschullehrer unterrichteten einen Großteil der Schüler gemeinsam bis zur achten Klasse. Die Absolventen sollten für praktische Tätigkeiten ausgebildet sein. Zutritt zum Gymnasium gab es nur für Wenige, vor allem für Kinder aus höheren Schichten. Jungen und Mädchen in den entlegenen Gebieten konnten die Gymnasien meist gar nicht erreichen. Im Zuge des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels nach dem Zweiten Weltkrieg machte sich unter der Landbevölkerung über dieses Schulsystem Unzufriedenheit breit. Im Agrarsektor sahen die Besitzer kleiner und mittlerer Höfe für ihre Söhne und Töchter kaum noch Chancen. Ein höheres Maß an Bildung sollte ihrem Nachwuchs den Zugang zum zukunftsträchtigeren Industrie- und Dienstleistungssektor eröffnen. Eine „Verschwendung der Talente“ beklagte etwa der mächtige Präsident Urho Kekkonen 1965 in seiner Neujahrsansprache.

Über Bildung streiten die Finnen nicht mehr

Seine Zentrumspartei setzte sich fortan für bessere Bildungschancen der „regionalen Reserve“ ein. Dabei fand sie die Unterstützung der Sozialdemokraten. Diese wollten die „soziale Reserve“ – Kindern aus Familien, die sich Schule jenseits der Grundausbildung nicht leisten konnten – hervorlocken. Dieses Bündnis aus Sozialdemokraten und dem Zentrum als Partei des bürgerlichen Lagers brach den Widerstand der Gymnasiallehrer und der Konservativen. Bei der entscheidenden Abstimmung im Parlament votierten nur noch einzelne Abgeordnete gegen die Einführung der Gemeinschaftsschule. In Lappland entstanden die ersten Schulen, in denen die Jungen und Mädchen von der ersten bis zur neunten Klasse zusammenlernen. Fast 60 Prozent der Absolventen machen inzwischen das Abitur.

Der historische Konsens prägt bis heute das Handeln der Bildungspolitiker. „Wir haben eine Tradition, die Dinge zusammen zu machen“, sagen sie. Ihre Erfahrung sei, dass man sich in Schulfragen immer einigen könne. Große Konflikte trage man lieber in anderen Politikfeldern aus. Die Schulstruktur sei sowieso kein Thema mehr.

In Deutschland ist der Dissens chronisch

Ganz anders ist das in Deutschland. Die Schulpolitik kreist hierzulande seit 30 Jahren um die gleichen Streitfragen. Der Dissens ist chronisch. Dabei hatte es in den sechziger Jahren zunächst – wie in Finnland – Debatten über eine drohende „Bildungskatastrophe“ gegeben. Georg Picht fasste die ungleichen Chancen in der Figur des „katholischen Arbeitermädchen vom Lande“ zusammen: Zwei Drittel der Abiturienten waren zu dieser Zeit Jungen. Wer auf dem Lande wohnte oder aus einfachen Verhältnissen kam, hatte nur geringe Chancen, auf eine weiterführende Schule zu gehen. Und Kinder aus protestantischen Familien erreichten im Schnitt höhere Abschlüsse. „Bildung ist Bürgerrecht“, postulierte der Soziologe Ralf Dahrendorf seinerzeit. Und tatsächlich hat sich das Bildungswesen im folgenden Jahrzehnt stark verändert. Die Zahl der Gymnasiasten verdreifachte sich im Vergleich zu den fünfziger Jahren. Heute machen mehr Mädchen Abitur als Jungen, die Konfession spielt kaum noch eine Rolle.

Doch die Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft ist geblieben. Das Kind eines Akademikers hat bei gleicher Lesekompetenz und Intelligenz eine 2,2-fach höhere Chance, auf das Gymnasium zu kommen, als der Sohn oder die Tochter eines Facharbeiters. Zugleich bleibt der Zirkel der Besten vergleichsweise klein, die Leistungen der Gymnasiasten stagnieren sogar, wie Pisa 2006 belegt. Finnland spielt weiter in einer anderen Liga: Die deutschen 15-Jährigen hinken ihren dortigen Altersgenossen um zwei Schuljahre hinterher.

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Indizien dafür, dass Eltern sich nicht mehr allein auf das staatliche Angebot verlassen wollen, um ihre Kinder zu Spitzenleistungen anzutreiben. Die Journalistin Julia Friedrichs hat bei Recherchen für ihr Buch Gestatten: Elite festgestellt: „Wer zahlen kann, darf dazugehören.“ Dies passt etwa zu Befunden des Forschungsinstituts für Sozial- und Bildungsökonomie. In einer noch unveröffentlichten Studie über den Nachhilfemarkt im Auftrag des Bundesbildungsministeriums stellt das Institut fest, dass immer mehr Schüler trotz guter Noten privaten Zusatzunterricht bekommen. Demnach sind es tendenziell eher wohlhabende Eltern, die ihren Kindern auf diese Weise eine Extra-Portion Bildung kaufen. Nicht selten geschieht dies, um ihnen den Zugang zu Schulen oder Hochschulen mit höchstem Bildungsanspruch zu eröffnen.

Welche Aufgaben hat die Schule eigentlich?

Offenbar gibt es in Deutschland einen starken Wunsch, den eigenen Nachwuchs an die Leistungsspitze zu bringen. Grundsätzlich gilt es in Deutschland als notwendig, in den Schulen nicht nur Mittelmaß, sondern eine junge Elite hervorzubringen: Das Leistungsprinzip und das Streben nach Exzellenz sind zentrale Begriffe bildungspolitischer Debatten. Allerdings bemängelt Julia Friedrichs zu Recht: „Der Aufstieg in die Elite funktioniert hierzulande nicht nach nachvollziehbaren Regeln. Es gibt keine harten Kriterien, nach denen sich beurteilen lässt, was man leisten muss, um dazuzugehören.“

Friedrichs spricht damit einen Mangel an, der die deutsche Schulpolitik generell prägt, ja sogar hemmt. Es fehlt an einem gesellschaftlichen Grundkonsens darüber, was überhaupt Aufgaben und Ziele von Schule sein sollen. Parteien und Verbände spalten grundverschiedene Bildungsvorstellungen. Offenkundig wird dies immer wieder an der Frage, ob Kinder besser gemeinsam oder getrennt lernen.

Warum die tiefen Gräben in der Schulpolitik als unüberwindbar gelten, wird in keinem anderen Bundesland so gut sichtbar wie in Hessen. Die Stimmung in den Schulen entscheidet in Wiesbaden über die Zukunft von Regierungen mit, die jüngste Landtagswahl hat das wieder einmal gezeigt. Bildungspolitiker sprechen von einem „besonderen Pflaster“, das Themenfeld werde in Hessen eben „äußerst politisch und polemisch diskutiert“.

Derartig brisant ist die Schulpolitik in Hessen schon seit Anfang der siebziger Jahre. Der sozialdemokratische Kultusminister Ludwig von Friedeburg plante damals, bis 1980 eine nach Schulstufen gegliederte Gesamtschule zu errichten. Der CDU kam das Vorhaben Gesamtschule gerade recht – nicht um es zu unterstützen, sondern um es vehement abzulehnen. „Und dieser Treibstoff hat dazu gereicht, in den siebziger Jahren eine politische Debatte aufzuziehen in Hessen, die bundesweit Beachtung gefunden hat“, erinnert sich der heutige hessische Landtagspräsident Norbert Kartmann von der CDU. „Auf gut Deutsch: Wir haben uns hier gefetzt ohne Ende.“ Die Christdemokraten entschlüpften in dieser Zeit der Rolle einer kleinen Oppositionspartei und verwandelten sich in einem Kampfverband. Dessen schärfste Waffe war der Einsatz für das differenzierte Schulwesen.

Wie das Politikfeld Schule polarisiert wurde

Die parteistrategisch motivierte Zuspitzung und Polarisierung des Politikfeldes konnte aber auch deshalb so gut gelingen, weil konträre Weltanschauungen im Bildungsbereich eine große Rolle spielen. Während die SPD keinen Trennstrich zwischen Bildungs- und Gesellschaftspolitik zieht, darf die Schule für die CDU nach wie vor kein Ort sozialer Umverteilung sein. „Wenn man sagt, die Gesellschaft hat ein Bedürfnis, dass sie gerechter wird, dass sie sozial korrekter wird, dass sie integrativer wird – also das hat nichts mit Schule zu tun“, sagt Kartmann.

Sein langjähriger Gegenspieler von der SPD, der frühere Kultusminister Hartmut Holzapfel, widerspricht. Er verweist auf die Erfahrungen der Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre, die auch sein eigenes Handeln geprägt hätten: „Dann haben wir uns gedacht: Wir leben in einem Land, in dem alles zugedeckt wird, in dem an den Schulen alles zugekleistert wird durch Büffeln. Da gab es natürlich einen Aufstand, der dann auch entsprechend radikal war.“ Gerade Veränderungen im Bildungsbereich hätten die Studenten als Schlüssel begriffen, um auch andere Strukturen aufbrechen zu können.

Finnlands Sozialdemokraten fordern Leistung

Nach wie vor sehen Sozialdemokraten in der Bildung einen Zugangscode zu unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen. Ihr zentrales Ziel lautet deshalb, allen Kindern gleiche Chancen zu eröffnen. Die CDU schreibt dem Schulwesen zwar ebenfalls die Funktion zu, junge Menschen für ihre persönlichen und beruflichen Aufgaben zu befähigen. Die Partei geht jedoch von einer „natürlichen Ungleichheit“ aus, das heißt Kinder gelten als unterschiedlich begabt und leistungsfähig. Die Politik müsse diese Unterschiede akzeptieren, anstatt zu versuchen, sie abzubauen.

Dieses unterschiedliche, von den beiden großen Volksparteien postulierte Bildungsverständnis hat zur Folge, dass in Deutschland Leistung und Chancengleichheit als Gegensätze verstanden werden. Der Disput über die grundlegende Ordnung hat dem Schulsektor stark geschadet. Er verhinderte lange Zeit einen ehrlichen Blick auf den tatsächlichen Zustand im Bildungswesen: Weil sich die Politik nicht auf gemeinsame Ziele einigen konnte, überprüfte sie auch niemand. Erst wissenschaftliche Vergleiche wie die Pisa-Studien bringen jetzt zutage: Das Leistungsniveau ist nicht so hoch wie gedacht, und die Chancen sind alles andere als gerecht verteilt. Vor allem aber entlarvt die Spitzenposition Finnlands die grundlegende Annahme der deutschen Schulpolitik als falsch: Es ist sehr wohl möglich, gleichzeitig eine Gruppe von Spitzenschülern mit herausragenden Fähigkeiten sowie ein leistungsstarkes Mittelfeld hervorzubringen und den Kompetenzerwerb von der sozialen Herkunft der Kinder abzukoppeln.

Möglich ist der große Bildungserfolg der Finnen auch, weil sie zwei Fehler der deutschen Bildungspolitiker nicht gemacht haben: Anders als die Konservativen hierzulande nehmen sie erstens Unterschiede im Leistungsvermögen nie einfach als gegeben hin, sondern bemühen sich mit großem pädagogischem Aufwand, jeden Schüler auf einen höchstmöglichen Wissensstand zu bringen. Zweitens haben sie aber im Gegensatz zu deutschen Sozialdemokraten kein Problem damit, konsequent auf das Leistungsprinzip zu setzen. Hierzulande war es noch bis vor kurzem verpönt, das Leistungsniveau anhand von Vergleichen zu überprüfen; in Finnland hingegen waren es gerade die Sozialdemokraten, die auf Leistungskontrollen gedrängt haben. Sie messen so, wie offen der Zugang zur Spitzengruppe ist.

Auf das Bildungsverständnis kommt es an

So beeindruckend die finnische Erfolgsbilanz ist – Deutschland sollte nicht einfach einzelne Elemente des nordischen Schulwesens abkupfern. Es bringt nichts, nach finnischem Vorbild einfach mehr Sozialarbeiter einzustellen oder die Schulstruktur zu übernehmen. Der unterschiedliche Weg beider Länder in den vergangenen vier Jahrzehnten zeigt ja, wie stark Bildungspolitik auf unterschiedliche historische Erfahrungen und Traditionen aufbaut. Deshalb wird es nicht möglich sein, den Schalter plötzlich umzulegen. Doch will Deutschland einen ähnlich großen Pool junger leistungsstarker Menschen hervorbringen, sollte es sich jedenfalls das finnische Bildungsverständnis zum Vorbild nehmen. Wer dafür nicht selbst in den hohen Norden reisen kann, sollte zumindest über einen Ratschlag des früheren finnischen Unterrichtsministers Olli-Pekka Heinonen nachdenken: „Leistung und Gleichheit sind zwei Seiten einer Medaille.“

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